Wissenschaftliches Arbeiten mit depublizierten Texten

Wenn das Internet ver­gisst

Gastbeitrag von Prof. Dr. Roland SchimmelLesedauer: 5 Minuten

Manche Aufsätze und Urteile verschwinden irgendwann nach ihrer Veröffentlichung aus Datenbanken und Archiven. Warum das so ist und wie man mit solchen Texten zum Beispiel in der Hausarbeit umgeht, zeigt Roland Schimmel.

Der Ausdruck "Depublizieren" ist noch nicht sehr verbreitet - aber auch nicht mehr neu. In erster Linie denkt man dabei an die dem Rundfunkstaatsvertrag geschuldete Praxis der Rundfunkanstalten, Online-Inhalte nach recht kurzer Zeit wieder aus dem Netz zu nehmen.

Interessanter ist vielleicht die weitere Bedeutung: Texte, die gar nicht erst veröffentlicht hätten werden sollen oder dürfen, dem allgemeinen Zugriff wieder zu entziehen oder – auf Online-Verhältnisse übertragen – zu löschen. Bei juristischen Texten ist das bislang die Ausnahme, aber das könnte sich ändern.

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Warum juristische Quellen ab und zu verschwinden

Die Anlässe für eine Depublikation sind oft unerfreulich. Ein paar Beispiele:

1. Löschungsanlass: Plagiat

Vor wenigen Jahren veröffentlichte eine Professorin einen Aufsatz zu urheberrechtlichen Fragen in der Juristenzeitung, der in nennenswerten Teilen bereits zuvor unter dem Namen des wahren Autors anderweitig erschienen war. Als das auffiel, entschuldigte sich die Verfasserin für die Urheberschaftsanmaßungen (das böse Wort "Plagiat" blieb unerwähnt).

Im elektronischen Archiv der Zeitschrift wurde der Text gesperrt, im Druck folgte einige Monate später ein Hinweis in einem der laufenden Hefte sowie im Jahresinhaltsverzeichnis.

2. Löschungsanlass: Persönlichkeitsrechtverletzung

Unlängst verschwand ein Strafurteil des Landgerichts Bochum (v. 5.11.2017, Az. II-2 KLs 365 Js 335/12 – 8/16), über das auch LTO berichtet hatte, aus den juristischen Fachdatenbanken Beck online und Juris sowie NRWE.

Auch die Veröffentlichung in Openjur wurde um Teile des Tatbestands gekürzt. Wie in der Presse zu lesen war, ging dies auf die anwaltliche Intervention des Verurteilten zurück, der wegen der Nennung privater Lebensumstände sein Persönlichkeitsrecht verletzt sah.

3. Löschungsanlass: Protest

Ebenfalls kommentarlos verschwand dieser Tage aus der elektronischen Präsenz der ZJS sowie aus der PDF-Fassung der Zeitschrift eine Musterfallbearbeitung (2019, 21 ff.). Unter dem Link zum Beitrag bittet die Redaktion wegen der überarbeitungsbedingten Unannehmlichkeiten um Entschuldigung.

Der Grund für die Löschung bleibt unbenannt. Man darf indes vermuten, dass es sich nicht nur um die Korrektur von Tippfehlern im Bearbeitungsvorschlag handelt, sondern eher der Sachverhalt überarbeitet werden soll, der wegen seiner frauen- und unterschichtfeindlichen Formulierung einen kleinen Kackregen ausgelöst hatte.

4. Löschungsanlass: die Kombipackung

Eine interessante Kombination von Löschungsanlässen bietet die Entscheidung des Landgerichts Frankfurt/Main vom 6. Juli 2017 (Az. 2-03 O 232/17), die aus der Rechtsprechungsdatenbank Hessenrecht wieder herausgenommen wurde. Hier treffen die Gründe "Plagiat" und "Persönlichkeitsrechtsverletzung" aufeinander:

Die Presse hatte unter Namensnennung über Plagiatsvorwürfe gegenüber einer Professorin berichtet, wogegen diese sich gerichtlich gewehrt hatte. Noch die erstinstanzliche Entscheidung im einstweiligen Verfahren hätte aber womöglich die Identifikation der Verfasserin erlaubt, sodass die Veröffentlichung wieder rückgängig gemacht wurde.

In den Rechtswissenschaften sind solche Rückzieher neu

Was Juristen einigermaßen neu erscheint, ist in anderen Wissensgebieten gang und gäbe. Für naturwissenschaftliche Zeitschriftenbeiträge, die auf erfundenen oder gefälschten Daten beruhen, für Doppelveröffentlichungen und für Plagiate existieren in vielen internationalen Journals nicht nur etliche Präjudizien, sondern auch Verfahren, die bei festgestelltem wissenschaftlichem Fehlverhalten zur Korrektur oder zur Retraction führen. Eine Übersicht findet sich zum Beispiel bei Rectractionwatch.

Ein aus der jeweiligen Fachdatenbank entfernter oder mit einem Warnhinweis versehener Text wird bestenfalls von der scientific community schlicht ignoriert. Ob das auch für juristische Texte ein gangbarer Weg ist, ist aber noch nicht ganz klar.

Was aber nun tun, wenn eine passende Quelle für die Hausarbeit einen solchen Rückzieher macht? Mit dem nicht vorhersehbaren Verschwinden von Urteilen und Aufsätzen taucht ein Problem des wissenschaftlichen Arbeitens auf: Wie ist mit depublizierten Texten umzugehen? Die einschlägigen Anleitungsbücher schweigen zu dieser Frage.

Depublikation = verlorene Quelle?

Die einfachste Antwort lautet: Was nicht mehr veröffentlicht ist, wird auch nicht zitiert. Basta. Schließlich gibt es für die Depublikation einen Grund.

Besonders unbefriedigend ist diese Antwort aber, wenn die offline gegangene Quelle die beste oder sogar die einzige war, die zu der jeweiligen Frage zur Verfügung stand. Doppelt heikel wird es, wenn Forschungsgegenstand gerade die Texte sind, die wegen wissenschaftlichen Fehlverhaltens beanstandet wurden. Wer also mit gutem Grund auf depublizierte Texte Bezug nehmen will oder muss, kann sich an folgende Vorschläge halten:

  • In einer wissenschaftlichen Arbeit, zumal in einer Prüfungsarbeit, sollte regelmäßig nur auf Quellen Bezug genommen werden, die dem Leser zugänglich sind. Ist das nicht der Fall, müssen die depublizierten Texte der Arbeit im Anhang (ausschnittweise) beigefügt werden.
  • Zu diesem Zweck empfiehlt es sich, online abgerufene Texte sicherheitshalber lokal zu speichern
  • Ist das unterblieben, hilft manchmal das Internet-Archiv wayback machine, das aber im deep web naturgemäß an seine Grenzen stößt
  • Teils retten Dritte depublizierte Inhalte; so findet sich das Urteil aus dem obigen Beispiel Nummer vier zumindest auszugsweise hier
  • Aus Höflichkeit gegenüber dem Leser sollte im Quellenverzeichnis (oder bei Urteilen in der Fußnote) ein Hinweis aufgenommen werden: "[depubliziert]"

In voller Schärfe stellt sich das Problem sowieso nur bei ausschließlich elektronisch veröffentlichten Texten. Existiert eine gedruckte Fassung – wie im erstgenannten Beispiel bei der Juristenzeitung –, steht diese auch im Depublikationsfall in Bibliotheken weiter als referenzierbare Quelle zur Verfügung.

Früher wanderten etwa plagiatsinfizierte Monographien in die Giftschränke der Bibliotheken und wurden nur auf gesonderte Anforderung ausgehändigt. Heute werden sie immerhin im Einzelfall aus dem Regal genommen oder gekennzeichnet. Im Allgemeinen sind sie aber ohne Weiteres zugänglich.

Eine neue Kategorie von Fachliteratur

Es ist anzunehmen, dass mit Texten wie den hier genannten gerade eine bibliographisch neue Quellenkategorie entsteht: der "nicht mehr veröffentlichte" Text.

Für Gerichtsurteile war zu Zeiten die Kennzeichnung als n.v. (nicht veröffentlicht) beliebt. Leicht paradox wirkt noch immer die Sammlung nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH), deren Titel man richtigerweise lesen muss als Sammlung nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheidungen des BFH. Für depublizierte Texte wird sich künftig womöglich n.m.v. (nicht mehr veröffentlicht) durchsetzen.

Einstweilen ist das Ganze noch eher ein Randproblem. Aber je weiter sich Reputationsreproduktionsagenturen und die ihnen angeschlossenen Anwaltskanzleien auf dem Markt der digitalen Imagepflege etablieren, desto häufiger werden Urteile und Fachtexte ganz oder teilweise zurückgezogen werden müssen. Hinzu kommen die zahlreichen Möglichkeiten wissenschaftlichen Fehlverhaltens, die zum Verschwinden von Aufsätzen und Monographien führen. Man darf deshalb die Vorhersage wagen: Das Problem wird kein exotisches bleiben.

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