Urteilsbesprechung mit Kommilitonen

Der Club der toten Richter

von Marcel SchneiderLesedauer: 5 Minuten
Ein Mix aus Lerngruppe und Debattierklub, so beschreibt Eray Gündüz die Treffen mit seinen Kommilitonen. Dabei lernten sie nicht nur Rechtsprechung und Diskussionskultur, sondern auch, zu viel Respekt vor großen Namen abzulegen.

Eray Gündüz studiert Jura im achten Semester an der Uni Tübingen und parallel dazu Philosophie. Wegen der Doppelbelastung fiel es ihm schwer, sich zusätzlich in den Abendstunden zum Alleinlernen zu motivieren, außerdem sei er schon immer interessiert gewesen an abwechslungsreichen Lernmethoden. So fragte der 23-Jährige im Gruppenchat seine Jurakommilitonen, was sie von einer Art Lernkreis hielten, in dem wichtige Urteile besprochen werden sollten. "Ich hatte sowieso eine Sammlung mit Leitentscheidungen zum Bürgerlichen Recht durcharbeiten wollen", sagt Gündüz. Neben der zusätzlichen Motivation habe er sich auch gegenseitige Hilfestellung beim Verstehen der anspruchsvollen Urteilssprache versprochen. "Definitionen kann ich auch allein pauken. Relevante Rechtsprechung ist da schon eine komplexere Materie, bei der Input von anderen hilfreich sein kann." Gündüz' Vorschlag kam gut an. Und so trafen sich vor etwa eineinhalb Jahren zum ersten Mal sechs ambitionierte Tübinger Jurastudenten, um sich den Errungenschaften höchstrichterlicher Rechtsprechung zu widmen – und gemeinsam einen ordentlichen Reinfall zu erleben, wie sich im Nachhinein herausstellen sollte.

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Schüchternheit schadet nicht nur beim Flirten

Schon das Thema – ein BGH-Urteil zu Willenserklärungen ohne Erklärungsbewusstsein – war nicht gerade ein Garant für besondere Vorfreude. Vielmehr noch schadete dem ersten Treffen aber die mangelnde Organisation, wie Gündüz resümiert: "Die Idee fanden alle super – aber einen Plan, wie man das Ganze sinnvoll angeht, hatte zu diesem Zeitpunkt niemand." Zum einen haperte es an der Vorbereitung. Gündüz musste den Ausdruck seines Urteils erst einmal für alle in der Uni-Bibliothek kopieren. Dann folgte der zeitaufwändigste Teil: das gemeinsame Lesen. Dabei konnte er gleich mehrere Probleme ausmachen: "Es dauert nicht nur sehr lang, die Leute lesen auch unterschiedlich schnell. Und wenn alle fertig sind, gibt es erst einmal so manche Verständnisfrage zu klären. So verging beim ersten Mal sehr viel Zeit, bevor wir endlich dazu kamen, das Urteil zu besprechen." Die darauf folgende Diskussion – nach Gündüz' Idee der eigentliche Sinn der Zusammenkunft - begann eher zäh und kam nicht wirklich ins Rollen. Weniger, weil manche Aspekte der Urteilsbegründung noch unklar waren, sondern eher, weil niemand das Gespräch führte und "alle Hemmungen hatten, den jeweils anderen auf fachlicher Ebene gegenüber aufzutreten. Wir kannten uns zwar mehr oder weniger auch privat recht gut, diese Situation war aber für alle neu und keiner wusste so recht mit dieser Art von Schüchternheit umzugehen", so Gündüz.

Zu viel Respekt vorm BGH?

Zum anderen falle es Jurastudenten häufig schwer,  fundierte Kritik am Urteil von Bundesrichtern zu üben. Nach Gündüz‘ Beobachtung lasse man sich als Student gern von der Position oder dem Titel von Top-Juristen, die zudem auf bestimmte Rechtsgebiete spezialisiert sind, beeindrucken. Und neige so dazu, die zuletzt gelesene Instanz beziehungsweise Meinung als sehr überzeugend wahrzunehmen und sich selbst zu eigen zu machen. Gündüz bezeichnet dieses Phänomen als Meinungshopping. "Als wir in den weiteren Sitzungen beispielsweise nach dem Urteil kritische Anmerkungen mit einbezogen, erschienen uns die Ansichten der Kritikverfasser – ebenfalls meist Professoren oder andere versierte und meist mindestens promovierte Experten – häufig noch viel einleuchtender als die Entscheidung des Gerichts, die man zuvor gelassen hatte." Eine eigene Kritik brachten die Teilnehmer beim ersten Treffen dagegen noch nicht zustande. Nach gut drei Stunden löste die Gruppe die erste Zusammenkunft mit einer gewissen Enttäuschung auf. "Für den Zeitaufwand war der erste Termin wirklich wenig ergiebig. Hätte man es dabei belassen, wäre der 'Club der toten Richter', wie wir unsere Lerngruppe später nannten, schon zu diesem Zeitpunkt gestorben", sagt Gündüz.

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2/2: (Juristische) Hartnäckigkeit zahlt sich aus

Der Jurastudent blieb am Ball. Um seine zunächst wenig begeisterten Kommilitonen zu weiteren Zusammenkünften zu überreden, kümmerte er sich nun um die Organisation und entwickelte ein Konzept. Für den Anfang waren das zwei Ideen: Zum einen teilte er die Mitmachenden in zwei Gruppen auf. Die erste sollte nur das Urteil, die zweite das Urteil und eine kritische Anmerkung dazu lesen. Zum anderen sollten die Teilnehmer die Entscheidung vor den Treffen lesen und eventuelle Verständnisfragen aufschreiben. "Das Lesen im Vorfeld der Treffen hat eine Menge Zeit gespart, sodass genug Ausdauer und Aufmerksamkeit für die Verständnisfragen und den anschließenden Diskurs blieben. Durch die Aufteilung in zwei Gruppen war gewährleistet, dass es immer eine Gegenseite zur Ansicht der BGH-Richter und damit eine Grundlage für die Besprechung gibt", erklärt Gündüz. Außerdem würden die Teilnehmer so dazu gezwungen, die verschiedenen Positionen zu hinterfragen. So seien sie im Laufe der Zeit immer weniger anfällig für das Meinungshopping geworden.  Später übertrug er noch eine Vorgehensweise aus dem Philosophiestudium auf die Sitzungen. Während die Rechtswissenschaften ein "stilles und manchmal auch eigenbrötlerisches Studium" seien, lebe die Philosophie von Gesprächen. "Um diese anzustoßen, hält ein Philosophiestudent in den entsprechenden Veranstaltungen einen kurzen Impulsvortrag, bezieht Stellung und gibt dann das Wort weiter", erklärt Gündüz. So hat auch der Club der toten Richter mittlerweile eine Art wechselnden Moderator, der das Urteil der jeweiligen Sitzung zusammenfasst, seine Position dazu präsentiert und danach die Diskussion eröffnet. Über die Schüchternheit und die Angst, womöglich keinen Disput entfachen zu können, muss Gündüz sich heute nicht mehr sorgen.

Im Winter streitet es sich leichter

Etwa alle drei Wochen finden die Treffen mit meist sechs bis acht Teilnehmern statt. Das ist Gündüz' Auffassung nach genau die richtige Anzahl für eine ergiebige Besprechung. Zu einem harten Kern stoßen auch ab und an neue Gesichter, die Gruppe ist bunt gemischt: "Es ist amüsant, wenn der Drittsemester, der gerade erst Sachenrecht hinter sich hat, dem Examenskandidaten bei den Tücken der Eigentumsübertragung kurz auf die Sprünge helfen kann." Neben den fachlichen Kompetenzen fördere die Teilnahme am Club der toten Richter auch die persönlichen Fähigkeiten wie das Finden von Kompromissen. Und nicht zuletzt helfe sie beim Verstehen der  oft in bestem Juristendeutsch verfassten Urteilsbegründungen. "Vor allem aber lernt man, die eigene Position energisch zu begründen und zu verteidigen", betont Gündüz und fügt hinzu: "Zumindestbei schlechtem Wetter." Denn im Sommer, wenn nach der Debatte eine Erfrischung draußen lockt, seien die Kollegen  im Vergleich zum Winter auffällig kompromissbereit und auf einen baldigen Konsens bedacht. Der Club pausiert momentan, weil Gündüz sich derzeit in Bonn aufhält. Debattierbegeisterte können sich aber jederzeit gerne melden unter: eray.guenduez@student.uni-tuebingen.de.

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