Rechtsansprüche oft nicht bekannt
Kurz vor der Einschulung hat Mareike Drygala ihre ersten Hörgeräte bekommen, mit 17 Jahren war sie medizinisch taub. Die Gehörlose entschied sich für Cochlea-Implantate, eine Prothese, die elektrische Signale von außen umwandelt und über die Elektroden zum Hörnerv weiterleitet. Damit hört sie, je nach Tagesform, zwischen 75 und 85 Prozent. Vor einigen Wochen hat sie ihr Zweites juristisches Staatsexamen erfolgreich abgeschlossen. Ihr nächstes Ziel: ihre Gebärdensprachkenntnisse vertiefen und gehörlose bzw. hörgeschädigte Mandanten im Bereich Sozialrecht/Behindertenrecht und Familienrecht betreuen.
Nach dem Abitur machte Mareike Drygala zunächst eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten und entschied sich gegen Ende der Ausbildung, Jura zu studieren. "Ich dachte mir: Interessant, was mein Chef da macht. Wenn er das kann, kann ich das auch", erinnert sich die 32-Jährige. Sie bewarb sich an fünf Universitäten in Deutschland und erhielt von allen eine Zusage. "Ich habe vorab nicht recherchiert, ob die Hochschule Studierende mit Einschränkungen unterstützt", sagt Mareike Drygala. "Das war mir in diesem Moment nicht wichtig. Ich hatte die Schule auf dem normalen Bildungsweg besucht und war es gewohnt, dass für mich alles etwas schwerer ist." Sie entschied sich am Ende für Leipzig, weil dort bereits eine Freundin wohnte.
Die Leipziger Juristin ist nicht die einzige Studierende mit einer Behinderung. Laut der 21. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks waren im Sommersemester 2016 rund 264.000 Studierende körperlich und/oder psychisch beeinträchtigt. Das sind elf Prozent aller Studierenden und damit vier Prozent mehr als 2012. Wie viele von ihnen Jura studieren, ist statistisch nicht erfasst. Je nach Art der Beeinträchtigung – sei es in der Mobilität, im Sehen, Hören oder Sprechen – können sich die Einschränkungen erschwerend auf das Studium auswirken. Das gilt genauso für Studierende mit psychischen Krankheiten wie Essstörungen oder Depression oder chronischen Krankheiten wie Rheuma, Diabetes oder Morbus Crohn, aber auch Legasthenie, Autismus oder AD(H)S. Nur bei vier Prozent der Studierenden ist die Beeinträchtigung auf Anhieb zu erkennen, bei gut zwei Dritteln ist sie auch auf Dauer nicht sichtbar.
Später zum Freiversuch und längere Bearbeitungszeit
Die meisten Hochschulen bieten betroffenen Studierenden verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten. "Vielen ist ihr Rechtsanspruch, zum Beispiel auf einen Nachteilsausgleich bei den Prüfungen, aber gar nicht bekannt", so die Erfahrung von Annette Verbocket, Leiterin der Beratungsstelle der Beauftragten für Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung an der Universität Düsseldorf. So können Studierende, die infolge ihrer Behinderung nur verzögert studieren können, zum Beispiel Freisemester beantragen. "Diese Semester werden bei der Berechnung der Studiendauer für den sogenannten Freiversuch nicht berücksichtigt", erklärt Martin Brandt, Pressesprecher am Oberlandesgericht Hamm, das die staatliche Pflichtfachprüfung im Ersten Staatsexamen abnimmt. "Statt bis zum Abschluss des achten Fachsemesters können sich Studierende mit Behinderung bis zu vier Semester später zum Freiversuch melden", so Brandt.
Für das Examen können körperbehinderte Prüflinge beantragen, dass die Bearbeitungszeit zur Anfertigung der Aufsichtsarbeiten um bis zu zwei Stunden verlängert wird. Die Vorbereitungszeit für den Vortrag in der mündlichen Prüfung kann um maximal eine halbe Stunde verlängert werden. "Der Umfang hängt von der Art und dem Grad der Beeinträchtigung und deren Auswirkung auf die Prüfungsfähigkeit ab", sagt Martin Brandt. "Für den Antrag benötigt man ein amtsärztliches Attest."
Neben der verlängerten Bearbeitungs- und Vorbereitungszeit gibt es am OLG Hamm je nach Art der Behinderung technische Unterstützungsmöglichkeiten. Zum Beispiel können sehbehinderte Prüflingen für die Anfertigung der Aufsichtsarbeiten einen behördeneigenen PC oder Lesehilfen nutzen oder die Unterstützung durch Vorlesekräfte in Anspruch nehmen. Studierende mit schwerer Behinderung können Einzelprüfungen beantragen, damit sie nicht an einer gemeinsamen Prüfung mit fünf bis sechs Prüflingen teilnehmen müssen.
"Der Druck, der im Jurastudium ohnehin hoch ist, belastet Studierende mit psychischen Erkrankungen nochmal besonders", weiß Beraterin Annette Verbocket. Viele Betroffene scheuen sich, in Behandlung zu gehen, aus Angst, aufgrund ihrer Krankheit nicht mehr verbeamtet zu werden. "Dabei könnten sie es durch Unterstützungsmöglichkeiten im Studium auch leichter haben", so Annette Verbocket. An der juristischen Fakultät in Düsseldorf gibt es nach ihren Angaben überdurchschnittlich viele Sehbehinderte und Studierende im Rollstuhl.
In Sachsen erfolgreich das JPA verklagt
Auch Mareike Drygala hat im ersten Semester versucht, sich selbst durch das Studium zu kämpfen. "Erst nach und nach habe ich mir Unterstützung geholt", berichtet die Juristin. Da sie Schwierigkeiten hatte, Gesagtes zu erfassen, bat sie Professoren um schriftliche Lösungen zur mündlich besprochenen Klausur und um andere Zusatzmaterialien. Bei Freundinnen durfte sie Notizen abschreiben, wenn sie in der Vorlesung etwas nicht richtig verstanden hatte. In den Hörsälen saß sie immer möglichst weit vorne, um den Professor zu verstehen und ihm von den Lippen abzulesen. "Ich muss mich viel mehr konzentrieren als normalhörende Menschen. Ich hatte einen erhöhten Vor- und Nachbereitungsaufwand, da ich aus der Vorlesung nicht so viel mitnehmen konnte." Viele Professoren waren offen und haben sie unterstützt, wenn sie um Hilfe gefragt hat, so Mareike Drygalas Erfahrung.
In den schriftlichen Prüfungen hat die Studentin ihre Cochlea-Implantate ausgeschaltet und konnte sich dadurch voll auf die fünfstündige Klausur konzentrieren. Bei den mündlichen Prüfungen bat sie um einen Sitzplatz, von dem aus sie Prüfer und Prüflinge sehen und von den Lippen ablesen konnte. Auch im Referendariat empfand sie die Richter, Staatsanwälte und Dozenten als entgegenkommend. "Während meiner Zivilrechtsstation sollte ich in der mündlichen Verhandlung einen Zeugen mit österreichischem Akzent befragen", erinnert sie sich an eine Situation. "Ich hatte große Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, und bat meinen ausbildenden Richter, die Zeugenbefragung fortzuführen." Während der Sitzungsdienste bei der Staatsanwaltschaft wussten die Richter, dass sie nicht zu leise sprechen durften, wenn die Referendarin anwesend war.
Ihren ersten Rechtsstreit hat Mareike Drygala auch schon gewonnen: Als das Landesjustizprüfungsamt ihren Antrag auf Fristverlängerung für einen Freischuss ablehnte, ging sie vor Gericht. Das Ergebnis: eine Änderung der Prüfungsvorschriften in der sächsischen Justizausbildungsprüfungsordnung, dass Studierende mit einer Beeinträchtigung nach Vorlage eines ärztlichen Attestes zwei Semester zusätzliche Frist bekommen. "Ich glaube, dass dies allgemein auch zu einem Umdenken in der Universität geführt hat", sagt Mareike Drygala. "Das Jura-Studium dürfte daher für Studierende mit Behinderung mittlerweile etwas einfacher sein als zu der Zeit, in der ich studiert habe."
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2019 M12 3
Jurastudium
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