Karlsruhe blieb hart. Auch die auf drei Prozent gesenkte Hürde bei Europawahlen wurde beanstandet. Außerdem in der Presseschau: BGH-Richter Thomas Fischer fordert Entschuldigung des Rechtsstaats bei Edathy, StA ermittelt gegen Ex-Minister Friedrich wegen Geheimnisverrats, LG München erklärt Knebelverträge von Verbänden mit Sportlern für nichtig und der Verfassungsschutz hörte leider zu spät ab.
Thema des Tages
BVerfG kippt Drei-Prozent-Hürde bei Europawahl: Auf die Klage von 19 Kleinparteien hat das Bundesverfassungsgericht die im letzten Sommer eingeführte Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen für verfassungswidrig erklärt. Der Eingriff in die Gleichheit des Stimmengewichts sei nicht gerechtfertigt, weil durch die Vergabe einiger Mandate an deutsche Kleinparteien die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments nicht gefährdet sei. Es berichten unter anderem SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Reinhard Müller) und taz (Christian Rath).
Nico Fried (SZ) behauptet in seinem Kommentar, das Verfassungsgericht nehme das Europaparlament nicht ernst, weil es noch nicht genügend Einfluss habe. Paradoxerweise verhindere dann aber Karlsruhe mit derartigen Urteilen zugleich eine Stärkung des Parlaments. Günther Nonnenmacher (FAZ) kritisiert das Urteil im Kontext der Wahlrechts-Rechtsprechung des Gerichts (insbesondere zu den negativen Stimmgewichten), die nicht zum ersten Mal übergriffig gegenüber dem Gesetzgeber wirke. Christian Rath (taz) begrüßt die kritische Haltung des Gerichts gegnüber Prozenthürden bei Wahlen und verteidigt es gegen den Vorwurf der Europaskepsis. In einem Gastbeitrag für verfassungsblog.de schlägt Rechtsprofessor Franz Mayer vor, die Sperrklausel im Grundgesetz zu verankern, weil von den mit Zufallsmehrheit getroffenen Karlsruher Urteilen keine befriedende Wirkung ausgehe.
In einem Hintergrund-Artikel beschreibt die SZ (Wolfgang Janisch), wie sich aus Nebensätzen des Urteils eine geringschätzige Haltung gegenüber dem Europaparlament konstruieren lässt. Es gebe aber auch konziliante Passagen. Die FAZ (Reinhard Müller) portraitiert Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Ihm sei es wichtig, dass das Gericht mit einer Stimme spricht, was aber zuletzt bei der EZB-Vorlage und jetzt beim Urteil zur Drei-Prozent-Hürde nicht gelungen sei.
Rechtspolitik
Tabakprodukte: Reinhard Müller (FAZ) kritisiert die von der EU beschlossene Pflicht, Zigarettenschachteln mit Schockfotos zu illustrieren. "Schock-Fotos haben sicherlich eine Wirkung – in jedem Fall eine lächerliche." Ekelhafte Krankheitsbilder vorzuschreiben, sei "würdelos."
EU-Kaufrecht: Das EU-Parlament hat dem Vorschlag der EU-Kommission zur Einführung eines EU-einheitlichen Kaufrechts zugestimmt, berichtet die FAZ (Hendrik Kafsack). Das EU-Kaufrecht soll neben die Kaufrechte der 28 EU-Mitgliedstaaten treten. Das erleichtere vor allem kleinen Anbietern internationale Geschäfte, insbesondere im Internet.
Justiz
Thomas Fischer zu Edathy: BGH-Richter Thomas Fischer nimmt in der Zeit zum Fall Edathy Stellung. Er hält die Einleitung von Ermittlungen, die sich nur auf den Besitz von legalem Material stützen, für unzulässig. Der deutsche Rechtsstaat solle sich daher bei Edathy entschuldigen. Die Staatsanwaltschaft müsse wieder als neutrale Behörde wahrgenommen werden.
LG Hannover - Wulff: An diesem Donnerstag wird das Landgericht Hannover vermutlich Christian Wulff vom Vorwurf der Vorteilsannahme freisprechen. Die SZ (Annette Rammelsberger) bilanziert noch einmal den Prozessverlauf und zeigt, wie sich die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft nicht beweisen ließen. In einem separaten Kommentar meint Annette Rammelsberger (SZ), die Staatsanwaltschaft hätte das Verfahren vor Anklageerhebung einstellen sollen. Das Gericht habe die Anklage möglicherweise nur zugelassen, weil der Richter Prominente sehen wollte.
StA Berlin - Friedrich: Die Staatsanwaltschaft Berlin hat ein Ermittlungsverfahren gegen Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eingeleitet. Er steht im Verdacht unbefugt Dienstgeheimnisse über Kinderporno-Verwicklungen des Abgeordneten Edathy an die SPD-Spitze weitergegeben zu haben. Die FAZ (Majid Sattar) erläutert, dass noch die Ermächtigung des Innenministeriums für die Strafverfolgung fehle und schildert den langen Dienstweg für den Antrag. Es sei allerdings damit zu rechnen, dass Innenminister Thomas de Maizière die Ermächtigung erteile.
BVerwG zu Demonstrationsverbot: Das Bundesverwaltungsgericht hat auf Klage der NPD ein Demonstrationsverbote in Trier beanstandet. Die Partei wollte am Holocaust-Gedenktag eine Kundgebung gegen den Euro abhalten. Da das Demonstrationsthema nichts mit NS-Verbrechen zu tun habe, konnte die Veranstaltung nicht verboten werden, entschieden jetzt die Leipziger Richter laut Verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis).
BGH zu Apotheken-Rabatten: Rabatte auf rezeptpflichtige Medikamente sind auch dann verboten, wenn das Medikament von einer Versandapotheke aus einem anderen EU-Staat verkauft und bei einer deutschen Apotheke abgeholt wird. Das entschied jetzt der Bundesgerichtshof. Die Welt (Anja Ettel) erläutert die Hintergründe.
BGH zu Stromschäden: Die Anwältin Susanne Wende erläutert auf lto.de ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom Dienstag. Danach muss ein Wuppertaler Stromnetzbetreiber einem Bürger Schadensersatz für die Beschädigung von Elektrogeräten zahlen, die durch eine Überspannung verursacht wurde. Rechtsgrundlage war das Produkthaftungsgesetz, das eine verschuldensunabhängige Herstellerhaftung für fehlerhafte Produkte, inklusive Elektrizität, vorsehe.
BGH zu Schadensersatz für Anleger: Anleger, die Banken wegen Falschberatung erfolgreich auf Schadensersatz verklagt haben, müssen sich Steuervorteile nicht anrechnen lassen. Dies entschied Ende Januar der Bundesgerichtshof laut SZ (Markus Zydra). Solche Anrechnungen dürften den Schädiger nicht unbillig entlasten.
OLG Düsseldorf zu Presse-Grosso: Das Oberlandesgericht Düsseldorf erklärte auf Klage des Bauer-Verlags eine Schutzklausel für Presse-Grossisten im deutschen Kartellrecht für unwirksam, da sie gegen europäisches Kartellrecht verstoße, melden die FAZ (Jan Hauser) und lto.de. Der Bundesverband der Buch- und Presse-Großhändler darf die Vertriebskonditionen mit den Verlagen deshalb nicht mehr zentral aushandeln.
LG München I zu Athletenvereinbarung: Das Landgericht München I hat Schiedsvereinbarungen beanstandet, mit denen Athleten sich gegenüber Sportverbänden verpflichten, Streitigkeiten nur vor der Sportgerichtsbarkeit auszutragen. Die Vereinbarungen seien nichtig, weil sie von den Athleten nicht freiwillig unterzeichnet wurden. Auf die Nichtigkeit könne sich aber nicht berufen, wer wie die Eisschnelläuferin Claudia Pechstein beim Sportgerichtshof CAS klage, ohne die Nichtigkeit der Vereinbarung zu rügen. lto.de fasst das Urteil zusammen. Christoph Becker (FAZ) glaubt, dass auf den Sport nun turbulente Zeiten zukommen. Pechstein habe zwar persönlich verloren, aber für andere gesiegt.
LG Verden verurteilt Schläger von Kirchweyhe: Das Landgericht Verden hat den heute 21-jährigen Cihan A. wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu fünf Jahren und neun Monaten Jugendhaft verurteilt. Er habe nach einer Busfahrt am Bahnhof von Kirchweyhe einen 25-Jährigen mehrfach getreten, worauf dieser starb. Die Kausalität konnte allerdings nicht geklärt werden, da auch andere an der Auseinandersetzung beteiligt waren. Deshalb wurde A nicht wegen Mordes verurteilt. Rechtsradikale hatten die Tat zu hetzerischen Protesten genutzt. spiegel.de (Hendrik Ternieden) berichtet.
Streit um Adblocker: Der Anwalt Sascha B. Greier schildert auf lto.de die Diskussion um die Zulässigkeit von Software, die "nervige" Werbung im Internet blockt. Verlage bereiten derzeit eine Klage gegen sogenannte Adblocker vor.
Investorenschutz per Schiedsgericht: Das Dossier der Zeit (Kerstin Kohlenberg/Petra Pinzler/Wolfgang Uchatius) schildert die Arbeit des Internationalen Zentrums zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten in Washington. Die Zahl der Verfahren an diesem Schiedsgericht nehme zu, seit nicht mehr nur wegen Enteignungen, sondern auch wegen sonstiger staatlicher Beeinträchtigung von ausländischen Investitionen geklagt werde. Einer von 185 dort anhängigen Fällen ist die Klage Vattenfalls gegen den deutschen Atomausstieg. Vorgestellt wird unter anderem ein Prozessfinanzierer, der Investoren auf eigenes Risiko die Klagen gegen Staaten vorfinanziert.
Recht in der Welt
Großbritannien - Polizistenmord: Die beiden Islamisten, die im Vorjahr einen englischen Soldaten angefahren und dann mit Hieb- und Stichwaffen ermordet haben, wurden jetzt zu jeweils lebenslanger Haft verurteilt. Die Mindestverbüßungsdauer wurde für einen Täter auf 45 Jahre festgelegt, der andere darf überhaupt nicht mehr entlassen werden, berichtet spiegel.de (Carsten Volkery).
Rumänien - Kinderpornographie: Die Seite 3-Reportage der SZ (Stefan Klein) schildert ausführlich, wie der deutsche Markus R. in Rumänien nackte Jungs bei Kampfspielen filmte, warum die Kinder teilnahmen, die Eltern nichts merkten und wie schließlich doch die Polizei ermittelte und R. am Ende zu zwei Jahren Haft verurteilt wurde. R. lieferte Material an die kanadische Firma Azov, zu deren Kunden auch Sebastian Edathy gehörte.
Sonstiges
Naturrecht: Die FAZ (Michael Pawlik) bespricht das "juristische Buch des Jahres" von Lena Foljanty über die Folgen der Naturrechtsrenaissance nach dem zweiten Weltkrieg. Foljanty widerlege die Vorstellung, dass vor allem die Radbruchsche Formel zur rückwirkenden Bestrafung von Staatsunrecht verblieben sei. Vielmehr habe sich der Fokus des Naturrechts von der Verhinderung extremen Unrechts verschoben zu Fragen der Methodenlehre. Heute stärkten naturrechtliche Vorstellungen die Möglichkeit des Richters, Gesetze nach allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen auszulegen.
Das Letzte zum Schluss
Zu spät abgehört: Der Verfassungsschutz hat die telefonische Verabredung zu einem rechtsradikalen Angriff auf eine Kirmesgesellschaft in Thüringen abgehört - beziehungsweise aufgezeichnet. Abgehört hat der Verfassungsschutz die Aufzeichnung dann - angeblich - erst nach dem Angriff, so dass die Präventivbehörde den Angriff leider nicht mehr verhindern konnte, wie die taz meldet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/chr
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 27. Februar 2014: Karlsruhe kippt Drei-Prozent-Hürde – Entschuldigung bei Edathy? – Gericht schützt Freiheit der Athleten . In: Legal Tribune Online, 27.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11184/ (abgerufen am: 21.07.2024 )
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