Der EGMR verurteilt Russland wegen des "unfairen" Strafverfahrens gegen den Regimekritiker Chodorkowskij. Vor dem Verdikt "politische Justiz" schreckt der Gerichtshof aber zurück. Außerdem in der Presseschau: Hells Angels auf Mallorca, Zwangsruhestand ist Altersdiskriminierung, NSA-Befugnisse weiter unbeschränkt und ein grobes Foulspiel.
EGMR zu Chodorkowskij: Im Steuerhinterziehungs- und Betrugsverfahren gegen den Kreml-Kritiker Mikhail Borisovich Chodorkowskij und seinen Geschäftspartner Platon Lebedjew sei das Recht auf ein faires Verfahren sowie das Recht auf Familienleben verletzt worden – letzteres aufgrund der Inhaftierung in einem 6.000 Kilometer von den Familien entfernten Gefangenenlager. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden und Chodorkowskij eine Entschädigung von 10.000 Euro zugesprochen. Eine politische Motivation des Strafverfahrens sahen die Richter dagegen nicht als erwiesen an, berichten FAZ (Michael Ludwig) und taz (Christian Rath).
Für "gleichzeitig verwunderlich und verständlich" hält dies Reinhard Veser (FAZ). Einerseits könne es bei "Betrachtung der gesamten Umstände" "überhaupt keine Zweifel" am politischen Hintergrund des Prozesses geben. Verständlich andererseits, weil sich das Straßburger Gericht auf das Gerichtsverfahren selbst zu konzentrieren hatte. "Mehr Mut" wünscht sich Veser für das zweite noch anhängige Chodorkowskij-Verfahren.
Weitere Themen – Rechtspolitik
Internetzugang im Jugendarrest: Die niedersächsische Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne) fordert laut lto.de eine "zeitgemäße Regelung" des Jugendarrests im Hinblick auf den Zugang der Jugendlichen zum Internet – dieser sei bislang ausnahmslos verboten.
NSA-Überwachung: "Zunehmend fassungslos" steht Udo Vetter (lawblog.de) der "offenkundigen Unlust unserer Regierung, mal etwas zum Schutz jedes einzelnen und unserer Grundrechte insgesamt zu tun" gegenüber. Nachdem nun bekannt geworden sei, dass CIA und NSA Internetdienstanbieter zur Herausgabe ihrer Verbindungsschlüssel drängten (dazu spiegel.de (Christian Stöcker)), zeige sich, dass man sich selbst nicht effektiv gegen Überwachung schützen könne. Im Interview mit der FR (Viktor Funk) äußert sich Vetter umfassend zum Thema (globaler) Datenschutz.
Auch Dirk von Gehlen (SZ) betont, dass insbesondere "Datensparsamkeit" kein überzeugendes Schutzkonzept sei – zumal dies auf eine Selbstbeschneidung demokratischer Rechte hinauslaufe. Gerade die Relativierer der Internetüberwachung müssten begreifen, dass es sich um grundlegende Eingriffe in die Kommunikationsfreiheit handele.
Weitere Themen – Justiz
OLG Hamburg – Iran-Deals: Vor dem Oberlandesgericht Hamburg hat am Donnerstag der Prozess gegen vier Männer begonnen, denen die embargowidrige Lieferung von Spezialventilen für Atomreaktoren an den Iran vorgeworfen wird. spiegel.de (Tobias Brunner) berichtet über den Prozess, der die "Vorlage für einen Thriller über Sanktionen, Atombomben und Iran" sein könnte.
StA Erfurt – Anzeige gegen Ministerpräsidentin: Der Landesvorstand der thüringischen Grünen hat Strafanzeige gegen die thüringische Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) gestellt – wegen Untreue. Sie hatte Anfang Juli ihren Regierungssprecher und Staatssekretär Peter Zimmermann in den einstweiligen Ruhestand versetzt, obwohl dieser freiwillig habe ausscheiden wollen – und ihm so potentielle Versorgungsleistungen gesichert, berichtet die SZ (Cornelius Pollmer).
Opferrechte im Strafprozess: Die SZ (Wolfgang Janisch) zeichnet vor dem Hintergrund des von den Nebenklägern stark mitgeprägten NSU-Prozesses die Entwicklung der Opferrechte im Strafprozess nach. "Brisant": Eine empirische Studie komme zu dem Ergebnis, dass es in Verfahren mit Nebenklägern weniger Freisprüche und höhere Strafen gebe.
LG Hamburg zu Care Energy: Der Stromanbieter Care Energy hat vor dem Landgericht Hamburg eine Niederlage einstecken müssen, die laut Handelsblatt (Sönke Iwersen) sein gesamtes Geschäftsmodell in Frage stellen dürfte. Dieses beruhe darauf, dass sich der Anbieter als "Netzbetreiber" der Hausnetze seiner Kunden verstehe und deswegen die Zahlung der EEG-Umlage verweigere – was ihm jedenfalls das Hamburger Gericht nicht habe durchgehen lassen.
LAG Hamm zu Scheinwerkvertrag: Auf lto.de bespricht die Rechtsanwältin Sandra Urban-Crell ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom Mittwoch, in dem das Gericht die fast vierjährige Überlassung eines Arbeitnehmers an ein Fremdunternehmen als Scheinwerkvertrag wertet – und ihm Gehaltsnachzahlungen und eine unbefristete Anstellung zuspricht. Die Entscheidung stehe im Zusammenhang mit der anhaltenden Diskussion um Zeitarbeit und die Flucht aus dieser "Schmuddelecke des Arbeitsrechts" in "Werkvertragslösungen".
Markus Stoffels (blog.beck.de) meint, dass sich die Entscheidung von der "bislang eher großzügigen Rechtsprechung" des Bundesarbeitsgerichts zu dem Thema tendenziell abhebe. Stoffels hofft auf eine Sensibilisierung der Instanzgerichte.
OVG Koblenz zu Schüler-Fahrtkosten: Das Oberverwaltungsgericht Koblenz hat laut lto.de entschieden, dass einem Schüler seine durch den Besuch einer Schule mit Sportförderung erhöhten Fahrtkosten vom Land Rheinland-Pfalz nicht erstattet werden müssen – sondern nur die bis zur nächstgelegenen Schule. Die Ungleichbehandlung gegenüber Schülern von Sprachförderschulen, die ihre erhöhten Fahrtkosten erstattet bekommen, beruhe auf sachlichen Gründen – nämlich dem "in der Verfassung festgeschriebenen 'klassisch humanistischen Bildungsideal'".
VG Frankfurt zu Zwangsruhestand: Die Zwangsversetzung in den Ruhestand ab einem bestimmten Alter stelle eine Form der Altersdiskriminierung dar und sei deswegen rechtswidrig. Das hat laut spiegel.de das Verwaltungsgericht Frankfurt auf den Eilantrag eines 65-jährigen Lehrers hin entschieden. Dieser dürfe nun zunächst weiter unterrichten.
LG Hamburg – Nonnenmacher-Prozess: zeit.de (Heinz-Roger Dohms/Meike Schreiber) berichtet vom Prozess gegen Dirk Jens Nonnenmacher und weitere fünf Ex-Vorstände der HSH Nordbank vor dem Hamburger Landgericht. Der Fall stehe "stellvertretend für eine Finanzkrise, die nie juristisch aufgearbeitet wurde".
Sven Prange (Handelsblatt) sieht durch den Prozess den Rechtsstaat an seine Grenzen gebracht. Kaum mehr jemand verstehe, um was es eigentlich gehe. Prange folgert, dass die Finanzwirtschaft nachvollziehbare Regeln brauche.
LG Regensburg – Fall Mollath: Zur Ablehnung einer Wiederaufnahme durch das Landgericht Regensburg im Fall Mollath veröffentlicht lto.de (Claudia Kornmeier) ein Interview mit dem Strafrechtler Henning Ernst Müller, der den Fall auf dem Beck-Blog begleitet. Der Beschluss des Gerichts überzeuge ihn nicht; er hoffe nun auf ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts.
Wolfgang Janisch (SZ) meint denn auch, bei der Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag habe es sich ohnehin nur um das "drittwichtigste von drei Verfahren" gehandelt. Wichtiger für die Beendigung seiner Unterbringung in der Psychiatrie sei die laufende Prüfung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth sowie die beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfassungsbeschwerde.
Währenddessen setzt Mollaths Verteidiger laut einer Meldung auf lto.de auf eine rasche Beschwerde-Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg.
ArbG Stuttgart zu Kärcher-Betriebsrat: Die FAZ (Susanne Preuss) berichtet über die Entscheidung des Arbeitsgerichts Stuttgart zur Auflösung des Kärcher-Betriebsrats und den dahinter stehenden Konflikt zwischen IG Metall und gewerkschaftsunabhängigen Betriebsratsmitgliedern.
Weitere Themen – Recht in der Welt
USA – NSA-Beschränkung abgelehnt: Knapper als erwartet hat das US-Repräsentantenhaus den Änderungsantrag zur Beschränkung der NSA-Befugnisse abgelehnt: Mit nur 205 zu 217 Stimmen scheiterte der von einem Republikaner eingebrachte Antrag, wie netzpolitik.org (Nicolas Frennen) und spiegel.de (Sebastian Fischer) berichten.
Paul-Anton Krüger (SZ) sieht in der knappen Abstimmung ein Anzeichen dafür, dass "der Kongress erwacht" und die USA sich endlich der überfälligen Debatte um die Befugnisse der Sicherheitsbehörden annehmen – allerdings beschränkt auf deren Inlandsbefugnisse. Auch die FAZ (Matthias Rüb) sieht in der Abstimmung einen "Warnschuss für die Schnüffler", Bernd Pickert (taz) gar eine "Trendwende".
USA – Anklage gegen Hedgefonds: Die US-Bundesstaatsanwaltschaft klagt SAC Capital Advisors, einen der mächtigsten Hedgefonds der USA, wegen Insiderhandels an. Das berichtet das Handelsblatt (Michael Maisch/Astrid Dörner). Gegen den Inhaber des Fonds, Steven A. Cohen, laufe ein zivilrechtliches Verfahren mit dem Ziel, ihm künftig die Betreuung von Vermögen zu untersagen.
China – Anklage gegen Bo Xilai: Mit der Korruptions-Anklage gegen den chinesischen Ex-Funktionär Bo Xilai steht China in den Augen der FAZ (Till Fähnders) "vor einem Prozess, der in die Geschichte des Landes eingehen wird". Dem Beschuldigten würden in der nun eingereichten Anklageschrift Bestechung, Veruntreuung und Machtmissbrauch vorgeworfen.
Christoph Gießen (SZ) kritisiert, dass mit solchen Schauprozessen der in China allgegenwärtigen Bereicherung durch Funktionäre nicht beizukommen sein wird. Finn Mayer-Kuckuk (Handelsblatt) meint, das Ergebnis stehe ohnehin schon fest – "Partei und Staatsmedien" hätten den Angeklagten "schon verurteilt".
Palma – Hells Angels-Verfahren: Auf Mallorca steht ein großes Rocker-Strafverfahren bevor. Am Donnerstag ist der "Präsident" der dortigen Hells Angels, der Deutsche Frank Hanebuth, erstmals einem Richter vorgeführt worden. Laut SZ (Hans Leyendecker) werden ihm unter anderem Geldwäsche, Drogenhandel, Zuhälterei und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen – der Beschuldigte schwieg. Auch spiegel.de (Jörg Diehl/Claas Meyer-Heuer) berichtet.
Sonstiges
Interview mit Steuerhinterzieher-Anwalt: Die SZ (Malte Conradi/Klaus Ott) veröffentlicht im "Geld"-Teil ein Interview mit dem Rechtsanwalt Jan Olaf Leisner. Er vertritt Steuerhinterzieher und berichtet über seine eigene Steuermoral, was seine Klienten umtreibt und warum Steuerhinterziehung schneller zu Reichtum führt als ein Bankraub.
Totalüberwachung und Menschenwürde: In den Augen von Thomas Stadler (internet-law.de) kennt das Grundgesetz, wenn überhaupt, nur ein "Supergrundrecht" – die Menschenwürde. Unter Verweis auf die Objektformel begründet er, warum jedenfalls eine anlasslose Totalüberwachung "die Frage nach der Würde des Menschen" aufwerfe.
Briefwahl ohne Grund: Warum der Wegfall der Begründungspflicht für die Briefwahl bereits vor dem Hintergrund des Wahlgeheimnisses, erst Recht aber bei Beachtung des Grundsatzes der Öffentlichkeit der Wahl verfassungsrechtlich problematisch ist, erläutert der Rechtswissenschaftler Rolf Gröschner auf der "Staat und Recht"-Seite der FAZ.
BVerfG und Grundlagenvertrag: Vor 40 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht sein für die "deutsche Frage" entscheidendes Urteil zum "Grundlagenvertrag" zwischen BRD und DDR gefällt. Auf der "Staat und Recht"-Seite der FAZ blickt der Historiker Daniel Koerfer zurück.
Oswald-Interview: Im "KarriereSpiegel" auf spiegel.de (Anne Haeming) findet sich ein Interview mit dem Rechtsanwalt und Schriftsteller Gerorg M. Oswald – unter anderem über den "Traumjob" Rechtsanwalt und die Schönheit von "Juristendeutsch".
Mediation und Adjudikation im Immobilienbereich: Auf ihrer jeweiligen "Immobilien"-Seite findet sich in der FAZ (Joachim Jahn) ein Bericht zu von der Justizministerkonferenz für Bausachen in Betracht gezogenen Adjudikationsverfahren nach britischem Vorbild und in der SZ (Simone Gröneweg) ein Artikel über die häufigere Nutzung von Mediationsverfahren im Immobilienbereich.
Das Letzte zum Schluss
Foulspiel zivilrechtlich: Wann schließt ein "grobes Foulspiel" im Fußball die Einstandspflicht der Haftpflichtversicherung aus? Jedenfalls, wenn der Foulende dem Gefoulten vorher angedroht hat, ihm "die Beine zu brechen" und ihm später mit 20 bis 30 Metern Anlauf und gestrecktem Bein von hinten in die Wade grätscht. In einem solchen Fall sei von Vorsatz auszugehen, urteilte laut rechtsportlich.net (Ralf Kitzberger) das Oberlandesgericht Karlsruhe.
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/thd
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 26. Juli 2013: Chodorkowskij "unfair" behandelt – Kein Zwangsruhestand für Lehrer – NSA bleibt mächtig . In: Legal Tribune Online, 26.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9225/ (abgerufen am: 02.07.2024 )
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