Das BVerfG verhandelte über die Teil-Wiederholung der Bundestags-Wahlen in Berlin. Ferda Ataman schlägt Änderungen beim AGG vor. Der flüchtige Ex-Wirecard-Vorstand Jan Marsalek meldete sich bei Gericht.
Thema des Tages
BVerfG – Wahlen in Berlin: Das Bundesverfassungsgericht verhandelte über die Wahlprüfungsbeschwerde der CDU/CSU-Fraktion bezüglich der Bundestagswahl 2021 in Berlin. Der Bundestag hatte mit der Ampel-Mehrheit wegen der zahlreichen organisatorischen Pannen eine Wiederholung der Bundestagswahl in 431 von 2257 Berliner Stimmbezirken angeordnet. Die CDU/CSU-Fraktion verlangte eine Wiederholung in rund zwei Drittel aller Berliner Stimmbezirke, darunter in sechs von zwölf Berliner Wahlkreisen. Der Zweite Senat will die Beschwerde auch nutzen, um grundsätzliche Fragen der Wahlprüfung zu klären, insbesondere zur Kontrolldichte, zur Typisierung von Wahlfehlern und zu den Rechtsfolgen. Die Verhandlung über die Wiederholung einer Wahl, ist die erste ihrer Art seit Bestehen des Karlsruher Gerichts. Das Urteil wird in einigen Wochen erwartet. Dass eine Wahlwiedeholung in Teilen Berlins die Mehrheitsverhältnisse des Bundestags verändert, gilt als ausgeschlossen, da die Ampel-Koalition rund 100 Mandate mehr hat als die Opposition. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath), tagesschau.de (Gigi Deppe), zeit.de und LTO (Max Kolter).
Rechtspolitik
Antidiskriminierung: Die unabhängige Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, hat Vorschläge für eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vorgestellt. Zusätzlich verboten werden soll eine Benachteiligung aufgrund von sozialem Status, Pflegetätigkeiten sowie der Staatsbürgerschaft. Der Wirkungsbereichs des AGG soll auch auf staatliche Stellen ausgeweitet werden, etwa die Diskriminierung durch Lehrer:innen oder Behördenmitarbeiter:innen. Außerdem sollen auch Verbände klagen können. Es berichten FAZ (Heike Schmoll), taz (Frederik Eikmanns), SZ (Simon Sales Prado) und LTO. Federführend zuständig für die Reform ist Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).
Asyl: Nachdem der CDU-Politiker Thorsten Frei ein Ende des Individualrechts auf Asyl in Europa und den Ersatz durch Kontingentlösungen forderte, wird nun vielfältig und parteiübergreifend Kritik laut, wie die SZ (Georg Ismar/Robert Roßmann), FAZ (Eckart Lohse uA), taz (Cem-Odos Güler) und LTO (Hasso Suliak/Joschka Buchholz) berichten. Solche Pläne seien völkerrechts- und/oder verfassungswidrig, heißt es. FAZ (Stephan Klenner) und tagesschau.de (Max Bauer) stellen die Rechtslage dar.
Das Menschenrecht auf Asyl mag in seiner Anwendung in der harten Realität selten ethisch einwandfrei sein, dennoch ist es unverzichtbar, kritisiert auch Jan Bielicki (SZ) den Vorschlag Freis.
Beschleunigte Verfahren: Auch nach der Forderung des kommissarischen CDU-Generalsekretärs Carsten Linnemann, mit Blitzurteilen gegen Gewalttäter in Berliner Schwimmbädern vorzugehen, regt sich immer größere Kritik von juristischen Verbänden und Fachpolitiker:innen. So mahnt unter anderem der rheinland-pfälzische Justizminister Herbert Mertin (FDP), die Unschuldsvermutung nicht einfach über Bord zu werfen. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) gibt zu bedenken, dass solche Verfahren mit einer "deutlichen Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten" verbunden seien. Das in § 417 Strafprozessordnung (StPO) vorgesehene beschleunigten Verfahren ist grundsätzlich nur in einfach gelagerten Fällen oder Fällen mit klarer Beweislage zulässig, wie LTO (Leonie Ott) zudem erläutert.
Justiz
LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun/Marsalek: Der flüchtige Ex-Vorstand von Wirecard Jan Marsalek hat sich über seinen Anwalt schriftlich an das Landgericht München I gewandt und zum aktuell laufenden Strafprozess gegen Markus Braun und zwei weitere frühere Wirecard-Mitarbeiter Stellung genommen. Das berichten WirtschaftsWoche (Melanie Bergemann/Volker ter Haseborg), SZ (Jörg Schmitt/Kassian Stroh uA), Hbl und LTO. In dem Brief nimmt er insbesondere Stellung zu den verschiedenen Personen im Betrugsprozess und bezichtigt den ehemaligen Wirecard-Vertreter in Dubai und Hauptzeugen, Oliver Bellenhaus, nicht die Wahrheit zu sagen. Marsalek hält sich derzeit wohl in Russland auf.
BVerfG – BKA-Gesetz II: Am 26. September wird sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit der Verfassungsmäßigkeit des Bundeskriminalamtgesetzes (BKAG) und den darin enthaltenen Befugnissen des BKA im Bereich der Verarbeitung von persönlichen Daten befassen. Mit der Verfassungsbeschwerde, die bereits 2019 eingereicht worden war, rügen die Beschwerdeführenden die Verletzung ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung unter anderem durch Regelungen zur heimlichen Überwachung von Kontaktpersonen mit besonderen Mitteln (§ 45 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 BKAG) oder auch zur Datenweiterverarbeitung im polizeilichen Informationsverbund (§§ 18 Abs. 1, 2 und 5, 29 Abs. 4 S. 2 BKAG). Der Erste Senat hatte das BKAG 2016 für teilweise verfassungswidrig erklärt. Nun geht es, wie LTO berichtet, um die darauf erfolgten Nachbesserungen durch den Gesetzgeber.
BVerfG zum Heizungsgesetz/Abgeordnetenrechte: Im Nachgang der einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzgebungsverfahrens des Gebäudeenergiegesetzes von Anfang Juli geht der RadioReportRecht (Klaus Hempel) der Frage nach, inwieweit diese Entscheidung übergriffig war und warum der Zweite Senat so entschied. Denn bisher habe sich das BVerfG nie in laufende Gesetzgebungsverfahren eingemischt.
BAG zu Video-Arbeitszeitüberwachung: In einem Beitrag auf dem Expertenforum Arbeitsrecht erörtert Claudia Knuth, Rechtsanwältin, das Urteil des Bundesarbeitsgerichts von Ende Juni zur Verwertbarkeit von Videoaufnahmen über geleistete Arbeitszeit im Kündigungsschutzprozess. Das vorinstanzliche Landesarbeitsgericht Niedersachsen hatte zunächst entschieden, dass solche Daten einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Dies wies das BAG nun jedoch zurück.
LG Hamburg zu Rammstein: Nun berichtet LTO (Felix W. Zimmermann) ausführlich über die Begründung der einstweiligen Verfügung des Landgerichts Hamburg und geht dabei auf die genaue Argumentationslinie des Gerichts ein. Während die Hamburger Richter:innen dem Spiegel untersagten, weiter über den Verdacht zu berichten, dass Till Lindemann Frauen bei Konzerten mit K.O.-Tropfen oder Drogen betäuben ließ, um sexuelle Handlungen an ihnen vorzunehmen, überwiege in anderen Verdachtsfällen das Berichterstattungsinteresse. Berichte über die Intimsphäre von Till Lindemann seien zulässig, weil er diese selbst nicht geheim halte.
LG Berlin zu Missbrauch durch Pfleger: Das Landgericht Berlin hat den Pfleger einer Wohngruppe wegen sexuellem Missbrauch von Kranken und Hilfsbedürftigen (§ 174a Strafgesetzbuch) zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Über zwei Jahre hinweg soll der 34-Jährige in mehr als 70 Fällen sexuelle Handlungen an sechs Bewohner:innen einer Berliner Einrichtung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung vorgenommen und davon jeweils Bildaufnahmen gefertigt haben. Wie spiegel.de schreibt, ordnete das Gericht aber keine Sicherungsverwahrung an.
LAG München zu Entlassung wegen Faschismusvergleich: Die Kündigung einer Mitarbeiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau wegen eines Faschimusvergleichs ist wirksam. Das entschied das Landesarbeitsgericht München, berichtet LTO. Durch ihre Äußerungen bei einer Kundgebung gegen Corona-Maßnahmen, dass der deutsche Staat "reaktionär faschistoid" sei, habe sie gezeigt, dass ihr die Eignung für eine Tätigkeit als Referentin für Rundgangführungen in der Gedenkstätte fehle.
VG Berlin zur Eignung eines Polizei-Bewerbers: Die Ablehnung eines Polizeidienstbewerbers, der zuvor mehrfach Bilder mit menschenverachtenden und antisemitischen Bezügen weiterleitete, war rechtmäßig. Damit lehnte das Verwaltungsgericht die Klage des 22-Jährigen ab. Aus den Bildern könne zwar keine rechtsradikale Gesinnung abgeleitet werden, bei Polizist:innen gelten aber besonders hohe Anforderungen an die charakterliche Stärke, führte das Berliner Gericht aus. LTO berichtet.
AG Berlin-Mitte zu rassistischer Fahrgastbeleidigung: Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) müssen einem Fahrgast 1.000 Euro Schmerzensgeld zahlen, da dieser bei einer Fahrscheinkontrolle durch ein von der BVG beauftragtes Sicherheitsunternehmen rassistisch beschimpft worden war. Das entschied das Amtsgericht Berlin-Mitte. Der Kläger hatte sich zunächst auf das Berliner Antidiskriminierungsgesetz (LADG) berufen. Da es jedoch an einem "öffentlich-rechtlichen Handeln" fehle, hielt das Gericht das LADG für nicht anwendbar, stützte den Schmerzensgeldanspruch aber auf eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Es berichtet spiegel.de.
Recht in der Welt
USA - Trump/Angriff aufs Kapitol: Sonderermittler Jack Smith hat Ex-Präsident Donald Trump darüber unterrichtet, dass er ihn als Verdächtigen einer Strafuntersuchung zum 6. Januar 2021 betrachtet. Dies gilt als Zeichen dafür, dass bald eine Anklage gegen Trump erhoben wird, Details sind aber noch nicht bekannt. Die SZ (Fabian Fellmann) berichtet.
Juristische Ausbildung
Jurist:in mit europäischem Abschluss: LTO-Karriere (Franziska Kring) erläutert die Voraussetzungen, unter denen Jurist:innen, die im Ausland studierten, mit einem ausländischen bzw. europäischen Abschluss in Deutschland als Anwält:in arbeiten oder ihr Zweites Staatsexamen machen können.
Sonstiges
Polizeiführung BaWü: Thomas Strobl (CDU), der Innenminister von Baden-Württemberg, hat angekündigt, die Polizeiführung im Land neu zu strukturieren und das Amt des Polizeiinspekteurs abzuschaffen. Der bisherige Inspekteur Andreas Renner, hatte sich zuletzt wegen Vorwürfen der sexuellen Nötigung vor dem Landgericht Stuttgart zu verantworten. Nun soll ein echtes "Führungsteam" gebildet und so die Machtkonzentration auf Einzelpersonen entgegengewirkt werden. Außerdem, so berichten die FAZ (Rüdiger Soldt) und spiegel.de, wird es ab Herbst eine externe und unabhängige Vertrauensanwältin geben, die von Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus Betroffene juristisch beraten soll.
Verlobung: Welche juristische Relevanz hat eigentlich das Verlöbnis? Dieser Frage und ihren durchaus kuriosen Antworten geht die SZ (Wolfgang Janisch) nach.
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LTO/ali/chr
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Die juristische Presseschau vom 19. Juli 2023: . In: Legal Tribune Online, 19.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52281 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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