Bei erheblichen Gesundheitsgefahren dürfen Verbraucherverbände selbst gegen Produzenten klagen, so der BGH. Außerdem in der Presseschau: Brauchen Gerichtsprozesse mediale Öffentlichkeit und soll das Recht an Patchwork-Familien angepasst werden?
Thema des Tages
BGH zur Einhaltung von Schadstoffgrenzwerten: Im Streit um die erhöhte Quecksilberkonzentration in Energiesparlampen hat der Bundesgerichtshof der Deutschen Umwelthilfe (DUH) Recht gegeben: Der Hersteller Brillant AG muss den Vertrieb von Glühbirnen, die die festgelegten Grenzwerte überschreiten, einstellen. Neben der Entscheidung in der Sache ist an dem Urteil insbesondere bemerkenswert, dass der Bundesgerichtshof ein Klagerecht des Umweltverbandes anerkannte, die Einhaltung des Grenzwertes selbst gerichtlich überprüfen und durchsetzen zu lassen. Normalerweise obliegt diese Prüfung dem Staat, in diesem Fall den Ländern. Da die Regelungen aber auch dem Schutz der Verbraucher dienten, sei die Überprüfung durch den Verbraucherverband angesichts der erheblichen Gesundheitsgefahren zulässig. In welchem Umfang mit dem Urteil ein erweitertes Verbandsklagerecht ermöglicht wird, wird die Zukunft zeigen – einer Sprecherin des Bundesgerichtshof zufolge sei ein generelles Klagerecht von Verbänden gegen Unternehmen nicht intendiert gewesen. Die DUH kündigte an, durch weitere Verfahren die Einhaltung von gesundheitsschützenden Normen mittels Verbandsklagen vorantreiben zu wollen. Es berichten die SZ (Wolfgang Janisch) und focus.de.
Rechtspolitik
Medien im Gerichtssaal: Vor dem Hintergrund der geplanten Öffnung deutscher Gerichtsverhandlungen für TV-Übertragungen spricht lto.de im Podcast mit der ehemaligen Staatsanwältin und heutiger Richterin Mirja Feldmann, dem Richter am Bundesgerichtshof Henning Radtke und SZ-Politikchef Heribert Prantl.
Im Interview mit der taz (Christian Rath) spricht sich Rechtshistoriker Ralf Oberndörfer für die Tonbandaufzeichnungen nicht nur von "herausragenden", sondern auch von Alltagsprozessen aus. Solche Verfahren ließen später möglicherweise genauere Rückschlüsse auf die Gesellschaft ziehen.
Burkaverbot vor Gericht: Auf die Initiative Bayerns stimmt der Bundesrat am Freitag über einen Entschließungsantrag ab, mit dem ein gesetzliches Verbot von Gesichtsverschleierung in Gerichtsverhandlungen angestoßen werden soll. Bislang gibt es hierzu keine ausdrücklichen Regelungen. Befürworter sehen durch Verschleierung die Wahrheitsfindung gefährdet, berichtet lto.de.
Familienrecht: Der SWR RadioReport Recht (Gigi Deppe) befasst sich mit Reformbedürfnissen im Familienrecht und die Diskussionen, die hierum auf dem diesjährigen Juristentag geführt wurden. Die rechtliche Verantwortung für Kinder sei nach wie vor stark auf heterosexuelle, verheiratete Paare ausgerichtet. Unter anderem für Patchwork-Familien, beim Adoptionsrecht Homosexueller und der Leihmutterschaft hätten die derzeitigen rechtlichen Regelungen keine ausreichenden Antworten auf die gesellschaftliche Wirklichkeit.
Ceta: Die Große Koalition hat sich in einem gemeinsamen Antrag darauf geeinigt, das Freihandelsabkommen mit Kanada Ceta unter Auflagen zu befürworten. Unter anderem geht es dabei um die Klärung "unbestimmmter Rechtsbegriffe" bei der Gründung eines internationalen Handelsgerichtshofes für Investitionsstreitfragen und Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, etwa die Wasserversorgung, schreibt spiegel.de (Gerald Traufetter).
BND-Reform: In einem Beitrag beim Deutschlandradio Kultur kritisiert Richter Ulf Buermeyer die geplante BND-Reform scharf. "Ein ganzes Grundrecht, nämlich das der vertraulichen Telekommunikation", werde für den BND "de facto abgeschafft". Auch netzpolitik.org (Ingo Dachwitz) stellt einige aktuelle Diskussionsbeiträge zum Thema vor.
Justiz
OLG München – NSU: Im Prozess um die mutmaßlichen Terroristen der Zwickauer Zelle drängt die Nebenklage darauf, einen Brief verlesen zu lassen, den die Hauptangeklagten Zschäpe 2013 aus der Untersuchungshaft an einen ebenfalls inhaftierten Neonazi schrieb. Die Verteidigung beruft sich darauf, dass der Brief wegen Verstoßes gegen das Briefgeheimnis illegal in die Akte gelangt sei, und widersetzt sich der Verlesung vehement. Der Inhalt widerspreche wohl dem Bild, das im Übrigen von Zschäpe zu zeichnen versucht worden sei, schreibt spiegel.de (Gisela Friedrichsen).
EuGH zu Tierversuchen: Kosmetika, die auf dem europäischen Markt verkauft werden, dürfen nicht an Tieren getestet worden sein – auch dann nicht, wenn die Tierversuche aufgrund gesetzlicher Bestimmungen in Drittländern durchgeführt wurden, in denen die Versuche vorgeschrieben sind. Das stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) nun klar, wie lto.de meldet. Die Kläger hatten argumentiert, zur Durchführung von Tierversuchen gezwungen zu sein, um die Produkte auch in China und Japan vertreiben zu dürfen.
LG Paderborn – Mord in Höxter: Die Staatsanwaltschaft Paderborn hat beim Landgericht Paderborn gegen Angelika und Wilfried W. Anklage wegen Mordes durch Unterlassen erhoben, meldet spiegel.de. In dem Haus des Paares in Höxter sollen mehrere Frauen gequält worden sein, von denen zwei verstarben.
LG Konstanz – Angriff auf Flüchtlingsunterkunft: Vor dem Landgericht Konstanz beginnt am heutigen Donnerstag der Prozess gegen sechs Männer, die Anfang des Jahres in Villingen eine Handgranate auf einen Container einer Flüchtlingsunterkunft geworfen haben sollen. Hintergrund soll ein Streit zwischen Sicherheitsdiensten gewesen sein, der Wurf soll den im Container sitzenden Wachleuten gegolten haben, berichtet die SZ (Josef Kelnberger).
StA Hannover – "Ehrenmord": Die Zeit (Daniel Müller/Joanna Nottebrock) schildert im Dossier ausführlich den Fall einer 21-jährigen Jesidin, die in Hannover auf einer Hochzeitsfeier der Familie erschossen wurde, mutmaßlich von ihrem Cousin. Der Artikel befasst sich ausführlich mit den vermuteten Hintergründen, die sich um die Zurückweisung eines Verehrers, eine Zwangsverlobung, familiäre Uneinigkeiten über die Lebensweise und die Geschichte der Familie im Irak und in Deutschland drehen.
OLG Düsseldorf – Salafistenprozess: Die taz (Sabine am Orde) berichtet vom Prozess gegen den Salafistenprediger Sven Lau vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf. Dort gab der als Zeuge geladene Aussteiger Dominic Schmitz am gestrigen Mittwoch Details aus der Salafistenszene in Deutschland preis und es wurden Videos von Predigten des Angeklagten in Augenschein genommen.
LG Dresden – NPD gegen Politikwissenschaftler: Die rechtsextreme Partei NPD versucht derzeit, vor dem Landgericht Dresden ein Unterlassungsurteil gegen den Politikwissenschaftler Steffen Kailitz zu erwirken, der im Parteiverbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht als Sachverständiger eingesetzt ist. Wie Kailitz in einem Gastbeitrag in der Zeit berichtet, stört sich die Partei an seiner Aussage, die Partei wolle "acht bis elf Millionen Menschen aus Deutschland vertreiben, darunter deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund." Die Partei habe eine gewaltsame "Vertreibung" jedoch niemals gefordert.
LG Landshut zu Kindesmissbrauch: Das Landgericht Landshut hat einen 46-Jährigen zu einer Haftstrafe von sechs Jahren und zehn Monaten wegen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes verurteilt. Die Mutter des Mädchens, mit der der Täter liiert war, erhielt eine Bewährungsstrafe, weil sie ihre Tochter betäubt hatte und damit den Missbrauch ermöglichte. Dies meldet spiegel.de.
Neue Richter am EuG: Der Luxemburger Marc Jaeger bleibt Präsident des Gerichts der Europäischen Union, Vizepräsident wird der Niederländer Marc van der Woude. Daneben wurden weitere Richter gewählt, meldet lto.de. Das Gericht der Europäischen Union ist das erstinstanzliche EU-Gericht, das direkte Klagen von Bürgern behandelt.
Recht in der Welt
Syrien – Völkerrechtsverstöße: Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat den Angriff auf den Hilfskonvoi in Syrien als "ungeheuerlichen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht" bezeichnet. Dies könnte vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) als Kriegsverbrechen geahndet werden – allerdings nur auf eine Verweisung des UN-Sicherheitsrates, was wegen des Vetorechts Russlands unwahrscheinlich ist, schreibt die SZ (Stefan Ulrich).
Polen – Abtreibungsverbot: In Polen wird am heutigen Donnerstag über einen Gesetzentwurf abgestimmt, der ein absolutes Abtreibungsverbot vorsieht. Schwangerschaftsabbrüche sollen danach mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Die Welt (Jörg Winterbauer) schreibt über die Aktivisten, die die Gesetzesinitiative eingebracht haben.
EuGH zu ESM-Krisenpaketen: Mit dem Urteil zur EU-Kommission und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) befassen sich in zwei englischsprachigen Artikeln der wissenschaftliche Mitarbeiter Ioannis Glinavos und der wissenschaftliche Mitarbeiter Paul Dermine auf verfassungsblog.de. Christian Rath (taz) begrüßt die Entscheidung, deren Bedeutung aber nicht überschätzt werden sollte.
Kroatien – Mord an Reporter: Ausführlich schreibt die SZ (Hans Holzhaider) über die Ermordung des SZ-Reporters Egon Scotland, der 1991 in Kroatien erschossen wurde. In den Jahren des Bürgerkriegs blieben die Ermittlungen lange Zeit auf der Strecke. Nun beginnt in Split der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter, Milizenführer Dragan Vasiljković.
Türkei – Journalistenprozess: In der Türkei hat der Prozess gegen die führenden Journalisten der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar und Erdem Gül, begonnen. Wegen angeblicher Terrorunterstützungen fordere die Anklage bis zu zehn Jahre Haft; die Öffentlichkeit wurde vom Gericht aus dem Prozess ausgeschlossen. "Berichterstattung ist zu einer Straftat geworden", sagte Gül nach einem Bericht der FAZ.
USA – Justiz und Strafgelder: Das Hbl (Frank Wiebe) schreibt über das amerikanische Prinzip, dass US-Recht Vorrang vor dem anderer Staaten hat, und den daraus resultierenden Schwierigkeiten für ausländische Unternehmen in den USA sowie US-Bürger im Ausland. Verstöße gegen amerikanisches Recht führten zu im internationalen Vergleich sehr hohen Strafen.
Sonstiges
Religion und Schulwesen: In einem Gastbeitrag in der FAZ schreibt Rechtsprofessor Hans Michael Heinig, die Glaubensfreiheit gebiete eine Offenheit staatlicher Stellen für verschiedene Glaubensrichtungen. Das Verfassungsgebot religiös weltanschaulicher Neutralität bedeute nicht Laizismus. Schulen und Universitäten sollten nicht alles Religiöse verbannen, sondern den Dialog zur Aufklärung suchen.
Häftlingsunterstützung: Die Zeit (Martin Nejezchleba/Kien Hoang Le) berichtet von dem älteren Ehepaar Toedt aus Franken, das enge Brieffreundschaften mit verurteilten Schwerkriminellen in verschiedenen Ländern führt. Sie wollten diesen Ungeliebten ein Stück Liebe schenken, sagen sie. Der Artikel zeichnet die Fälle einiger ihrer Schützlinge nach und befasst sich mit der Kritik an der Todesstrafe, die auch die Toedts aus religiösen Gründen ablehnen.
Automatisierung des Rechts: Studien zufolge können Algorithmen bald 50 Prozent der Aufgaben, die heute Jungjuristen erledigen, automatisch bewältigen, schreibt die Zeit (Katja Scherer). Künstliche Intelligenz und Schrifterkennung würden die Branche in nächster Zeit stark verändern. Rechtsfragen wie Vertragsüberprüfungen, die sich standardisieren ließen, könnten um ein Vielfaches effektiver bearbeitet werden.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/lil
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 22. September 2016: Klagerecht für Verbraucherverbände? / Medien im Gericht? / Neue Regeln für Familien? . In: Legal Tribune Online, 22.09.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20650/ (abgerufen am: 04.07.2024 )
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