BGH-Richter Thomas Fischer plaudert im Interview aus dem Nähkästchen. Außerdem in der Presseschau: BGH hält Regelung zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen für verfassungswidrig, Gröning-Urteil erwartet und Bekennervideo zur S-Bahn-Mauer.
Thema des Tages
Thomas Fischer im Interview: lto.de (Constantin van Lijnden) bringt ein ausführliches Interview mit Thomas Fischer. Der BGH-Richter spricht unter anderem über die Rolle des 2. Strafsenats, weist das Verdikt des "Rebellensenates" zurück, erklärt, dass die obersten Gerichtshöfe mit ihrer Arbeit auch Rechtspolitik machen und nimmt zu den Fehden zwischen den Strafsenaten Stellung (Stichwort "Zehn-Augen-Prinzip").
Rechtspolitik
Kulturgutschutz: Das Kulturschutzgesetz soll nach einem Entwurf aus dem Kulturstaatsministerium Kriterien festlegen, um "nationales Kulturgut" zu klassifizieren und mit einem Ausfuhrverbot zu belegen. Rechtsanwalt und Kunstsammler Harald Falckenberg stellt das Gesetz im Feuilleton der FAZ vor.
Jörg Häntzschel (SZ) befürchtet Auslegungsschwierigkeiten und meint, der aktuelle Gesetzentwurf schieße in Teilen übers Ziel hinaus. Im Feuilleton der Welt äußern Sammler und Künstler ihren Unmut, unter ihnen der Maler Gerhard Richter.
Justiz
BGH zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen: Ärztliche Maßnahmen gegen den Willen einer betreuten Person sind nur möglich, wenn die betroffene Person sich in geschlossener Unterbringung befindet (§ 1906 des Bürgerlichen Gesetzbuches). Für Menschen unter Betreuung, die sich nicht in geschlossener Unterbringung befinden, sieht das Gesetz aber keine Anordnungsmöglichkeit für ärztliche Zwangsmaßnahmen vor. Der Bundesgerichtshof sieht darin einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz – und hat daher die Regelung dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Darüber berichtet lto.de.
OLG München – Mordprozess gegen Syrienheimkehrer: Über den ersten Mordprozess gegen einen Heimkehrer aus Syrien bringt die SZ (Annette Ramelsberger) einen ausführlichen Bericht. Das Oberlandesgericht München will am heutigen Mittwoch das Urteil verkünden. Es werde "Auswirkungen darauf haben, ob sich desillusionierte Dschihadisten trauen, nach Hause zurückzukehren".
OLG München – NSU-Prozess: Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München nahm am gestrigen Dienstag zum ersten Mal der neue Verteidiger Mathias Grasel an der Beweisaufnahmen teil – "eher zurückhaltend" wie spiegel.de schreibt. Für Überraschung habe unter anderem die Aussage einer Zeugin gesorgt, nach der ein Mädchen vor Jahren Zschäpe als "Mama" bezeichnet haben soll, berichtet auch die taz (Konrad Litschko).
Viele Medien legen in Berichten über den NSU-Prozess das Augenmerk auf kaum sachliche Informationen – und treffen bereits vor einem gerichtlichen Urteil ihre Vorverurteilung ("Mord-Trio"). So sieht es Thomas Fischer in seiner Kolumne (zeit.de) und führt – eingebettet in mehrere Kultur- und Geschichtsschwenks – seine Kritik aus: "Der einzige öffentlich noch wahrgenommene Sinn des Münchner Strafverfahrens scheint zu sein, ein Exposé für ein Geschichtsbuch zu schaffen und für die gewiss bald nachfolgende Verfilmung."
LG Lüneburg – Oskar Gröning: Im Strafprozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning soll das Landgericht am heutigen Mittwoch ein Urteil sprechen. Grönings Verteidiger haben auf Freispruch plädiert; Gröning habe "keine strafrechtlich relevante Beihilfe zum Mord geleistet". Es berichten die SZ (Hans Holzhaider), spiegel.de und die taz (Andreas Speit).
LG Köln – Sal. Oppenheim: Neben der Staatsanwaltschaft haben nun auch zwei der vier früheren Sal. Oppenheim-Manager Revision gegen das Urteil eingelegt, berichten die FAZ (Joachim Jahn) und die Welt (Michael Gassmann).
VG Göttingen zu Polizeiabfrage: Eine Abfrage in einem polizeilichen Informationssystem zu rein privaten Zwecken begründet eine Verletzung der Dienstpflichten und kann mit Disziplinarmaßnahmen sanktioniert werden. Das hat das Verwaltungsgericht Göttingen laut lto.de entschieden.
LG München I – Deutsche Bank-Prozess: Im Strafprozess gegen frühere Deutsche Bank-Vorstände vor dem Landgericht München I hat Josef Ackermann Vorwürfe gegen das Oberlandesgericht München erhoben, wie unter anderem sueddeutsche.de meldet. Die dortigen Richter hätten ihm im Prozess um Schadenersatz für die Pleite des Medienkonzerns Kirch vor vier Jahren tendenziöse Fragen gestellt, "um dadurch ihre vorgefertigte Meinung zu bestätigen", so Ackermanns Vorwurf.
BAW reagiert auf Strafanzeige durch NGOs: Der Generalbundesanwalt hat sich zur Strafanzeige mehrerer Bürgerrechtsorganisationen gegen die Bundesregierung wegen des massenhaften Ausspionierens der Bevölkerung durch Geheimdienste geäußert. Darauf weist netzpolitik.org (Markus Beckedahl) hin. Laut BAW fehle es an zureichenden und tatsächlichen Anhaltspunkten für Straftaten; in den Augen des Chaos Computer Clubs ignoriere die BAW "offensichtliche Fakten und Belege".
Recht in der Welt
Russland – Verfassung steht über EMRK: Nach einem Urteil des russischen Verfassungsgerichts soll die russische Verfassung über der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen, "wenn eine solche Abweichung der einzige Weg ist, eine Verletzung grundlegender Prinzipien der Verfassung zu vermeiden". Anlass des Urteils war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den enteigneten Yukos-Aktionären. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts werde sich Russland – obwohl die EMRK 1996 ratifiziert wurde –, künftig vorbehalten, Entscheidungen des EGMR zu folgen. Es berichtet die SZ (Julian Hans).
Julian Hans (SZ) vermutet in einem separaten Kommentar, der Kreml werde die "nun geöffnete Hintertür" nutzen. Das müsse man "aus der Erfahrung mit der russischen Justiz befürchten, die etwa zum Vorwurf des Extremismus greift, um Liberale zu verfolgen, während Politiker und das Staatsfernsehen zu Hass und Gewalt aufrufen".
Türkei – private Nachhilfeschulen: Das türkische Verfassungsgericht hat ein umstrittenes Schulgesetz gekippt, das private Nachhilfeschulen verbietet. Das Urteil sei eine Niederlage für den türkischen Präsidenten Erdogan gegen die Gülen-Bewegung, weil das Gesetz dessen Haupteinnahmequellen habe trockenlegen wollen, so die SZ.
China – Verfolgung von Anwälten: Die Verfolgung von Anwälten in China soll nun größere Dimensionen haben als angenommen, meldet die taz. Seit Freitag seien laut einer Anwaltsgruppe aus Hongkong 146 Bürgerrechtsanwälte, Mitarbeiter von Kanzleien und Aktivisten festgenommen, von der Polizei festgesetzt worden oder verschwunden.
China – Sicherheitsgesetze: Über Chinas neuen Sicherheitsgesetze – hierzulande interpretiert als protektionistische Maßnahmen – und die außen- und wirtschaftspolitischen Dimensionen schreibt das Handelsblatt (Dana Heide/Stephan Scheuer).
USA – Amnestie für Häftlinge: US-Präsident Obama hat 46 Häftlinge begnadigt, die wegen eher geringfügigen Drogendelikten zu hohen, teils lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt waren. Das meldet unter anderem die taz.
Juristische Ausbildung
Umfrage zur Arbeitgeberwahl: lto.de (Anja Hall) stellt das Ergebnis einer eigens durchgeführten "Bewerberumfrage" vor, die Vorlieben in Sachen Karriereplanung unter angehenden und fertig ausgebildeten Juristen auslotet.
Sonstiges
Hilfspaket und Bail-Out-Verbot: Rechtsprofessor Dietrich Murswiek vertritt in der FAZ die Auffassung, dass ein drittes Hilfspaket für Griechenland rechtswidrig wäre. Die Staats- und Regierungschefs "scheinen bereit zu sein, die nach der ersten Phase der Rettungspolitik noch verbliebenen Reste des Bail-out-Verbots über Bord zu werfen und gegen die Regeln zu verstoßen, die sie mit dem neuen Artikel 136 Absatz 3 AEUV und dem ESM-Vertrag erst kürzlich formuliert haben", so Murswiek.
Steueranwalt Hanno Berger: Die SZ (Klaus Ott) portraitiert den Frankfurter Steueranwalt Hanno Berger, gegen den in Deutschland drei Ermittlungsverfahren wegen schwerer Steuerdelikte laufen. Der frühere Finanzbeamte und heutige "Exilant" in der Schweiz habe Mandanten so beraten, dass sie kaum oder gar keine Steuern zahlen mussten ("Steuergestaltung"). Berger beklage jetzt, die "Halbwertszeit von Steuerlücken" sei stark gesunken.
Das Letzte zum Schluss
S-Bahn zugemauert: Seit Ende April ermittelt die Bundespolizei, weil Unbekannte in Hamburg eine S-Bahn-Tür zumauerten. Jetzt hat ein Sprayerkollektiv das dazugehörige Bekennervideo hochgeladen. Es zeigt, wie Männer in Warnwesten die in aller Ruhe Steine sägen, den Beton auftragen und die Tür zumauern. Laut FAZ (Jonas Jansen – verlinkte Seite zeigt auch das Video) bringt das Video die Bundespolizei voran – das Sprayerkollektiv habe aber keine Stellung nehmen wollen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/fr
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 15. Juli 2015: Thomas Fischer im Interview – Ärztliche Zwangsmaßnahmen – Gröning-Urteil erwartet . In: Legal Tribune Online, 15.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16226/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
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