Der Wert eines Monats in rechtswidriger Unfreiheit bemisst sich nach Ansicht des BGH mit 500 Euro. Diese Entschädigung erhalten Sicherungsverwahrte. Außerdem in der Presseschau: kein Wahlrecht für Betreute, neue Zeugin gegen Zschäpe, Vier-Augen-Prinzip am BGH, Universaljustiz in Argentinien und ein auferstandener Messias.
Thema des Tages
Entschädigung für Sicherungsverwahrte: Nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs muss das Land Baden-Württemberg vier Straftätern Schadensersatz von mehreren 10.000 Euro wegen nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrungen leisten. Während der von den Klägern verbüßten Haftstrafen war die auf zehn Jahre begrenzte Höchstdauer der Sicherungsverwahrung aufgehoben worden. Die Betroffenen kamen daher erst im Jahre 2010 aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom vorherigen Jahr frei.
Die jetzige Entscheidung bestätigte unterinstanzliche Urteile, fraglich sei allein die Haftung des Landes gewesen. Das Land habe erfolglos argumentiert, dass die Anwendung damals geltenden Bundesrechts alternativlos gewesen sei, schreibt die FAZ (Helene Bubrowski). Die SZ (Wolfgang Janisch) erklärt in ihrer Meldung, dass nach Ansicht des BGH haften müsse, wer die Hoheitsgewalt für den rechtswidrigen Freiheitsentzug ausgeübt habe. Dies sei das Landgericht Freiburg gewesen. Die taz (Christian Rath) erläutert, dass die Entschädigungssumme 500 Euro pro Monat für jeden der Sicherungsverwahrten betrage und macht darauf aufmerksam, dass die jetzige Entscheidung bundesweit auf einige Dutzend ähnlich gelagerter Fälle übertragbar sei.
Heribert Prantl (SZ) hält die Haftung des Landes im Gegensatz zu jener des Bundes zwar für "seltsam", begrüßt aber den Tenor der Entscheidung. Niemand müsse verfassungswidriges Recht entschädigungslos erdulden, auch Strafgefangene nicht. Wegen des zugesprochenen Betrages hält Udo Vetter (lawblog.de) eine weitere "Ehrenrunde" am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für nicht ausgeschlossen.
Rechtspolitik
Wahlrechtsausschluss: Von der am kommenden Sonntag stattfindenden Bundestagswahl sind nach Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes Menschen ausgeschlossen, denen zur Besorgung aller ihrer Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist. Mit den verfassungsrechtlichen Problemen dieser Regelung beschäftigt sich Rechtsprofessor Heinrich Lang auf lto.de.
Unseriöse Geschäftspraktiken: Nach Informationen der SZ (Daniela Kuhr) soll das Gesetz gegen unseriöse Geschäftspraktiken am heutigen Freitag vom Bundesrat verabschiedet werden. Bis zuletzt sei unklar gewesen, ob die Länderkammer nicht doch den Vermittlungsausschuss anrufen würde. Nun sei mit einem baldigen Inkrafttreten der neuen verbraucherschützenden Regelungen zu unerwünschter Telefonwerbung, zweifelhaften Methoden von Inkasso-Unternehmen und überzogenen Abmahngebühren bei Urheberrechtsverletzungen im Internet zu rechnen.
Verfassungsschutz und Journalismus: Die niedersächsische Verfassungsschutzbehörde hat offenbar jahrelang Daten mehrerer Journalisten gesammelt und gespeichert und in einem Fall auf Nachfrage der Betroffenen über die Maßnahme gelogen sowie anschließend die Daten vernichtet. Die SZ (Hans Leyendecker/Tanjev Schultz) wirft einen Blick auf das "zu allen Zeiten komplizierte" Verhältnis von Sicherheitsbehörden und Journalismus. Tanjev Schultz (SZ) kommentiert, dass die Kontrolle der Geheimdienste nicht funktioniere. Eine Verfassungsschutzbehörde, die derart "dreist" lüge, zerstöre "den Glauben an den Rechtsstaat und irgendwann den Rechtsstaat selbst."
Unternehmensjuristen: Am heutigen Freitag soll auf der Tagung der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) unter anderem über eine statusrechtliche Angleichung angestellter Unternehmensjuristen an freie Rechtsanwälte abgestimmt werden. Die Badische Zeitung (Christian Rath) interviewt den BRAK-Präsidenten Axel C. Filges zum Thema. Er spricht sich für eine ideologiefreie Debatte aus und macht darauf aufmerksam, dass viele der Unternehmensjuristen faktisch ohnehin anwaltlich tätig seien, im Vergleich zu ihren "freien" Kollegen aber oftmals benachteiligt würden, etwa durch fehlenden Schutz vor Beschlagnahmen.
Justiz
KG Berlin zu Vertriebsklauseln: Ein Hersteller von Schulranzen darf nach Entscheidung des Kammergerichts Berlin Händlern nicht verbieten, seine Produkte über die Internet-Plattform Ebay zu vertreiben, schreibt das Handelsblatt (Christoph Kapalschinski). Nach dem Bericht der Welt (Benedikt Fuest) liegen damit nun sich widersprechende Urteile von Gerichten in vier Bundesländern vor, weswegen mit einer baldigen Anrufung des Bundesgerichtshofes zu rechnen sei.
OLG München – NSU-Prozess: Im vor dem Oberlandesgericht München laufenden Verfahren gegen Beate Zschäpe und andere ist nach Bericht der SZ (Annette Ramelsberger) die Vernehmung einer bislang unbekannten Zeugin beantragt worden, die die Hauptangeklagte schwer belasten könne. Die Frau wolle 2006 in Dortmund unmittelbar vor dem Mord an dem Kioskbesitzer Mehmet Kubasi das NSU-Trio sowie einen dritten Mann in Tatortnähe gesehen haben und nach Bekanntwerden der Taten des NSU in den Medien wiedererkannt haben. Die Befangenheitsanträge der Verteidigung Zschäpes wurden derweil zurückgewiesen.
LG Hamburg – Google-Bildersuche: Ab Freitag verhandelt das Landgericht Hamburg über eine Klage des ehemaligen Sport-Funktionärs Max Mosley gegen Google, mit der ersterer die Löschung und zukünftige Nichtverbreitung von Bildern einer Sex-Party erreichen will. Thomas Stadler (internet-law.de) erklärt die technischen Hintergründe und rechtlichen Aspekte einer Prüf- und Filterpflicht der Suchmaschine und wagt die Prognose, dass der Kläger sich erstinstanzlich "bei dem äußerst persönlichkeitsrechtsfreundlichen Landgericht" durchsetzen werde. Die betroffenen Rechtsfragen böten jedoch Anlass zur Klärung nicht nur in Karlsruhe, sondern auch in Luxemburg oder Straßburg.
LG München – Claudia Pechstein: Die taz (Johannes Kopp) berichtet über eine vor dem Landgericht München angestrengte Klage der Eisschnelläuferin Claudia Pechstein, mit der die Sportlerin wegen einer vermeintlich unberechtigten Dopingsperre eine Entschädigung in "einstelliger Millionenhöhe" vom internationalen und vom nationalen Verband erstreiten will. Zwar sei die Zuständigkeit des Münchner Gerichts fraglich, weil die Sperre vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS und dem Schweizer Bundesgericht bestätigt wurde. Pechsteins Anwälte beharrten jedoch vor allem auf der Rechtswidrigkeit der Sportgerichtsbarkeit und beabsichtigten, "Sportrechtsgeschichte" zu schreiben.
VG München zu Kitaplatz: Ein Urteil des Verwaltungsgerichts München, nachdem der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz nicht bedeute, dass die Kita sich in unmittelbarer Wohnortnähe befinden müsse, kommentiert Nina Bovensiepen (SZ) als "richtig." Zwar seien gerade Großstädte gehalten, "besser und früher" zu planen, Richter könnten sich aber nur an den aktuellen Verhältnissen orientieren. Diese besagten, dass vollständige Vereinbarkeit von Familie und Beruf "mehr Ziel denn Realität" sei.
ArbG Hamburg zu Totenkopf-Foto: Einem Hamburger Polizisten, der als Wachschutz einer Schule der Jüdischen Gemeinde an seinem Dienstort einen Totenkopf mit Polizeimütze fotografierte und dieses Bild anschließend auf seiner Facebook-Seite postete, ist nach Entscheidung des Arbeitsgerichts Hamburg zu Unrecht gekündigt worden. Wie Rechtsprofessor Markus Stoffels (blog.beck.de) schreibt, habe die Stadt als Arbeitgeberin nicht dargelegt und nachgewiesen, dass der Vorfall Ausdruck einer rechtsradikalen Gesinnung sei.
Recht in der Welt
IStGH – Zeugenschutz: Über Schwierigkeiten des Zeugenschutzes in Verfahren des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag schreibt die SZ (Tobias Zick). Es sei trotz verschiedener Anonymisierungen in manchen Fällen anhand von Details der Aussagen möglich, Zeugen zu identifizieren, so etwa im aktuellen Verfahren gegen den kenianischen Vizepräsidenten William Ruto.
Libyen – Gaddafi-Sohn: Der Prozess gegen Seif al-Islam al-Gaddafi, Sohn des früheren libyschen Machthabers, wegen seiner Rolle während des Aufstandes im Lande 2011 ist in Zintan eröffnet und sogleich wieder vertagt worden. Die FR (Julia Gerlach) erklärt den zugrundeliegenden Streit über Zuständigkeiten sowohl der nationalen als auch der internationalen Gerichtsbarkeit. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag dränge nach wie vor auf eine Überstellung al-Islams.
Argentinien – Universaljustiz: Eine argentinische Richterin hat einen internationalen Haftbefehl gegen vier mutmaßliche Folterer des spanischen Franco-Regimes unter Berufung auf das Prinzip der Universaljustiz bei schweren Menschenrechtsverbrechen beantragt, um sie vernehmen zu können, schreibt die FAZ (Josef Oehrlein). Nach dem Bericht der FR (Martin Dahms) steht einer Strafverfolgung in Spanien das 1977 erlassene Amnestiegesetz entgegen.
Sonstiges
BGH – Vier-Augen-Prinzip: Der von Thomas Fischer entfachte Streit um das sogenannte Vier-Augen-Prinzip, nach dem in Beschlussverfahren vor dem Bundesgerichtshof regelmäßig nur zwei Richter die Akten lesen, erfährt eine Fortsetzung. Wie lto.de zu berichten weiß, verteidigen Mitglieder des 5. Strafsenates in einem voraussichtlich im Oktober erscheinenden Fachaufsatz in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht das bislang übliche Prozedere. Eine Manipulation durch den Vortragenden sei wegen der Kontrolle durch den Vorsitzenden ausgeschlossen, jeder Richter könne zudem jederzeit Einsicht in Akten nehmen. Die von Fischer angeführten statistischen Erhebungen seien wegen geringer Fallzahl und weiterer Einflussfaktoren wenig aussagekräftig, im Übrigen sei es "unerträglich", dass der Vorsitzende des 2. Strafsenats sein Anliegen öffentlich gemacht habe.
Sexueller Missbrauch: Im Rahmen einer Seite Drei-Reportage schreibt die SZ (Matthias Drobinski/Jakob Wetzel) über einen bedrückenden Fall sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche. Knapp 50 Jahre nach den Vorfällen wurde der mutmaßliche Täter, "Teil der Kirchenprominenz im evangelischen Franken", von der Disziplinarkammer der Landeskirche aus dem Kirchendienst entfernt. Der Disziplinarhof der Evangelischen Kirche in Deutschland hob die Entscheidung jedoch wegen "gravierender Verfahrensmängel" auf und stellte das Verfahren letztinstanzlich ein.
Das Letzte zum Schluss
Messias auferstanden: Vor einigen Monaten befand ein Familiengericht in Tennessee/USA, dass "Messiah", zu Deutsch "Messias", ein Titel sei, der nur Jesus zustehe und demzufolge nicht der Name eines Neugeborenen sein könne. Dieser solle fortan Martin heißen. Nach Meldung der FAZ (Christiane Heil) entschied ein höherinstanzliches Gericht nun, dass der erste Richterspruch den ersten Zusatzartikel zur Verfassung, der die Trennung von Kirche und Staat vorsieht, verletze.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 20. September 2013: Entschädigung für Sicherungsverwahrte – Neue Zeugin im NSU-Prozess – Universaljustiz in Argentinien . In: Legal Tribune Online, 20.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9597/ (abgerufen am: 21.07.2024 )
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