BGH: SMS schreibende Richter erregen Besorgnis der Befangenheit. Außerdem in der Presseschau: ein Vorschlag zur Suizidhilfe-Regelung, keine Verfahrenseröffnung wegen des Oradour-Massakers und die Voraussetzungen des Doktortitelentzugs wegen späteren Fehlverhaltens.
Thema des Tages
BGH zu Befangenheit wegen Handy: Richter, die während der Hauptverhandlung SMS schreiben, können damit den Eindruck erwecken, an der Verhandlung nicht weiter interessiert zu sein, weil sie sich bereits ein Urteil gebildet haben. Daher begründet die Handynutzung die Besorgnis der Befangenheit, entschied der Bundesgerichtshof am gestrigen Mittwoch. Weil die Verhandlung seinerzeit länger gedauert hatte, hatte eine beisitzende Richterin einer Strafkammer ihre Kinderbetreuung über SMS organisiert. Dem daraufhin gestellten Befangenheitsantrag war jedoch nicht stattgegeben worden. Der BGH hob das Urteil auf. Die Handynutzung gerade zur Kontaktaufnahme nach außen erwecke den Eindruck "private Interessen über die Dienstpflicht zur Teilnahme an der Hauptverhandlung" zu stellen, was eine Kernpflicht des Richters verletze. Es berichten lto.de (Norbert Demuth), SZ (Wolfgang Janisch) und spiegel.de. lto.de (Norbert Demuth) berichtet auch über die Verhandlung vor dem zweiten Senat und die Argumentation von Verteidigung und Bundesanwaltschaft.
Rechtspolitik
Suizidhilfe: Der vierte Vorschlag einer Regelung zur Suizidhilfe liegt nun vor, am 2. Juli soll über die Vorschläge in erster Lesung beraten werden. Der neue Entwurf sieht eine zivilrechtliche Lösung vor, da es um eine Regelung zu Selbstbestimmung des Patienten gehe. Ärzten sei danach die Suizidhilfe für unheilbar Kranke zur Vermeidung von Leiden erlaubt, berichtet die FAZ (Heike Schmoll). Die taz (Heike Haarhoff) stellt dar, warum es zur rechtspolitischen Debatte kam und erinnert an Stellungnahmen von Rechtsprofessoren und Medizinern. Außerdem gibt die taz (Heike Haarhoff) einen Überblick über die Vorschläge.
Erbschaftssteuer: Roman Pletter (Zeit) meint, dass es einer Gesellschaft, in der sich Leitung lohnen soll, nicht gerecht werde, Unternehmenserben von der Steuer zu verschonen, wie es auch nach dem aktuellen Entwurf zur Erbschaftssteuerreform noch auf 99 Prozent aller Unternehmen zutreffe.
Kameras vor Gericht: Urteile von Bundesgerichten sollen künftig im Fernsehen und Radio übertragen werden können. Das schlägt eine Bund-Länder-Kommission vor, deren Bericht laut taz (Christian Rath) am heutigen Donnerstag von der Justizministerkonferenz angenommen werden soll. Außerdem soll bei Prozessen mit großem Medienandrang künftig eine Tonübertragung in separate Arbeitsräume von Journalisten möglich sein. Zudem sollen "Gerichtsverfahren von herausragender zeitgeschichtlicher Bedeutung" für die Nachwelt in voller Länge dokumentiert werden.
Geheimdienstkontrolle: BND-Chef Schindler hat zum zweiten Mal vor dem NSA-Untersuchungsausschuss ausgesagt und sich dabei für klarere gesetzliche Regelungen der Geheimdienstbefugnisse ausgesprochen, berichtet zeit.de (Kai Biermann). Karsten Polke-Majewski (zeit.de) meint, Geheimdienste bräuchten Ermessensspielräume, nicht zuletzt um Vorhersehbarkeit ihres Handelns zu vermeiden. Es bedürfe aber gleichzeitig der starken Kontrolle durch ein Organ mit umfassendem Akteneinsichtsrecht und dem Recht spontaner Kontrolle der Dienste.
Justiz
BVerfG zu Tendenzbetrieb: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde nicht angenommen, mit der der Blutspendedienst des Deutschen Roten Kreuz gegen eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vorging. Dieses hatte entschieden, dass der Blutspendedienst nicht überwiegend und unmittelbar karikativen Bestimmungen diene, weil seine Leistung nicht Leidenden direkt zukomme. Deshalb liegt kein sogenannter Tendenzbetrieb vor, bei dem das Betriebsverfassungsgesetz nur eingeschränkt gegolten hätte. Es berichtet lto.de.
BGH zu Wohnungskündigung bei Privatinsolvenz: Im Fall der Privatinsolvenz muss eine Kündigung des Mietverhältnisses den insolventen Mieter erreichen, bevor der Insolvenzantrag bei Gericht eingeht. Andernfalls darf erst wieder gekündigt werden, wenn Rechte und Pflichten bezüglich der Wohnung vom Insolvenzverwalter wieder freigegeben sind. Der Bundesgerichtshof hat nun entschieden, dass nach Freigabe auch wegen Mietschulden, die vor der Insolvenzanmeldung aufgelaufen sind, gekündigt werden darf, berichtet die FAZ (Anne-Christin Sievers). Gleichzeitig entschied der BGH, dass bei Schimmelpilzbefall zwar mit Mietrückhalt Druck gemacht werden darf, aber nicht durch komplette Zahlungseinstellung über einen unbefristeten Zeitraum.
BGH zu Duldungspflicht des Mieters: Der Mieter hat es zu dulden, wenn der Vermieter Rauchmelder in der Mietwohnung anbringt und deren Wartungen durchführt. Dass der Mieter selbst Rauchmelder angebracht hat, ändert daran nichts, entschied jetzt der Bundesgerichtshof laut lto.de, weil Einbau und Wartung aus einer Hand größere Sicherheit böten.
OLG Köln zu Verfahren um Oradour-Massaker: Wegen des SS-Massakers in Oradour-sur-Glane wird das Hauptverfahren gegen einen 90-jährigen Kölner endgültig nicht eröffnet. Das entschied das Oberlandesgericht Köln auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Nichteröffnungsbeschluss des Landgerichts. Auch das OLG kam zu dem Schluss, dass eine eigene Beteiligung dem Angeklagten wohl nicht nachzuweisen sein werde, berichtet spiegel. de.
OLG München – NSU Prozess: Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München ging es wieder um den seinerzeitigen Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes, der sich zur Zeit der Tötung Halit Yozgats am Tatort aufgehalten haben soll. Während langwieriger Vernehmungen fragte der Vorsitzende die Angeklagte, ob sie bei der Sache sei und diese äußerte sich zum ersten Mal hörbar mit einem "Ja", berichten spiegel.de (Wiebke Ramm) und zeit.de (Tom Sundermann).
OVG Münster zu Durchwahlen: Bürger haben keinen informationsfreiheitsrechtlichen Anspruch darauf, die Durchwahlen von Jobcentermitarbeitern zu erhalten, melden lawblog.de (Udo Vetter) und lto.de. Der Anspruch sei zum Schutz der Funktionsfähigkeit der staatlichen Einrichtung Jobcenter nach § 3 Nr. 2 Informationsfreiheitsgesetz ausgeschlossen.
LG Lüneburg* – Auschwitz-Prozess: Zum Prozess gegen den früheren SS-Mann Gröning vor dem Landgericht Lüneburg* schreibt die BerlZ (Christian Bommarius). Der historische Sachverständige bezweifelte selbstentlastende Angaben Grönings.
AG Kiel zu falscher Lehrerin: Eine Frau, die Jahrzehnte lang mit gefälschten Abschlusszeugnissen als Lehrerin tätig war, wurde nun vom Amtsgericht Kiel wegen Betrugs und Urkundenfälschung zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Es berichten zeit.de, FAZ (Frank Pergande) und lto.de.
AG Lübeck zu Tortendesign als Kunst: Eine Frau führte ein Geschäft für Tortenzubehör und gestaltete zudem vereinzelt Tortendekorationen für Kunden. Diese Designer-Tätigkeit muss sie nach einer Entscheidung des Amtsgerichts Lübeck nicht in die Handwerksrolle für das Konditorhandwerk eintragen lassen. Die individuelle Motivgestaltung gehe über die handwerkliche Dekoration hinaus und sei Kunst. Es berichten SZ (Thomas Öchsner), FAZ (Frank Pergande) und lto.de.
SG Aachen zu Zuständigkeit bei Hausverbot im Jobcenter: Das Sozialgericht Aachen hat entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts entschieden, dass für die Überprüfung eines Hausverbots im Jobcenter der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist und keine Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit besteht. Das meldet Rechtsanwalt Thorsten Blaufelder (kanzlei-blaufelder.com).
BVerwG und BVerfG zu Titelaberkennung: Richter am Baden-Württembergischen Staatsgerichtshof und Rechtsprofessor Joachim von Bargen schreibt in der FAZ über die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung zur Aberkennung des Doktortitels bei ordnungsgemäßer Dissertation. Als "unwürdig" einen Doktortitel zu tragen erweise sich, wer schwerwiegende wissenschaftliche Verstöße begehe – etwa plagiieren oder Versuchsdaten fälschen – und wer Straftaten mit Wissenschaftsbezug begehe – etwa Betrug bei der Finanzmittelwerbung. Die nach früherer Rechtsprechung maßgebliche "ehrenrührige Straftat" sei hingegen kein Grund für den Titelentzug.
EuGH zum OMT-Programm: Mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum OMT-Programm der Europäischen Zentralbank und dem, was aus der Entscheidung folgt, befassen sich Rechtsprofessor Heiko Sauer auf verfassungsblog.de und Rechtsprofessor Christoph Herrmann auf verfassungsblog.de.
* geändert am 18.06.2015, 10.48. Zuvor stand hier LG Lübeck.
Recht in der Welt
USA – Folterverbot: Der US-Senat hat mit großer Mehrheit für das Verbot der "verschärften Verhörmethoden" gestimmt, dem Einfallstor für Foltermethoden wie Waterboarding in Gefangenenverhören. Die Abstimmung im Abgeordnetenhaus steht noch aus, berichtet spiegel.de.
EuG zu Lego-Figuren: Mit dem Urteil des Europäischen Gerichts zu Lego-Figuren als Marke setzt sich Rechtsprofessor Markus Ruttig auf lto.de auseinander und begründet, warum er die Entscheidung für richtig hält.
EGMR zu Haftung für Kommentare auf Webseiten: Die Zeit (Gero von Randow) begründet, warum das EGMR-Urteil zur Haftung von Webseitenbetreibern für beleidigende Kommentare durchaus als Sieg für die Meinungsfreiheit gelesen werden könne. verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis) setzt sich insbesondere mit den abweichenden Voten auseinander.
Schweiz – Ermittlungen wegen WM-Vergabe: Schweizer Banken haben der Bundesanwaltschaft 53 Verdachtsfälle von Geldwäsche gemeldet, die im Zusammenhang mit den WM-Vergaben der Fifa an Russland und Katar stehen könnten, zu welchen seit März dieses Jahres ermittelt wird. Das berichtet unter anderem die SZ (Thomas Kistner – Kurzfassung).
Sonstiges
Tätigkeitsbericht Bundesdatenschutzbeauftragte: Die Bundestatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff hat ihren Tätigkeitsbericht 2013/2014 vorgestellt. Darin fordert sie unter anderem eine bessere Kontrolle der Geheimdienste und eine Stärkung ihrer eigenen Behörde. netzpolitik.org (Anna Biselli) berichtet.
Sonderbeauftragter/Selektorenliste: Die Bundesregierung hat entschieden, die NSA-Selektorenliste nicht direkt an Geheimdienstkontrolleure herauszugeben. Den einzusetzenden Sonderbeauftragten darf das Parlament benennen, aber die Regierung entscheidet über seine Berufung. Die Geheimdienstkontrolleure dürfen Fragen stellen, der Beauftragte darf sie jedoch nur beantworten ohne konkrete Inhalte der Liste preiszugeben. Eine Klage gegen dieses Vorgehen wird dadurch erschwert, dass ein Teil der Stellungnahme der Bundesregierung als geheim eingestuft ist, berichten spiegel.de (Hubert Gude u.a.), SZ (John Goetz/Hans Leyendecker), FAZ (Eckart Lohse) und Welt (Manuel Bewarder).
Heribert Prantl (SZ) meint, der Bundestag müsse "strohdumm" sein, wenn er sich auf diesen "Strohmann der Bundesregierung" einließe und hält eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht für angezeigt. Jost Müller-Neuhof (Tagesspiegel) meint, mehr als eine Kontrolle durch einen Sonderbeauftragten sei ohne Gefährdung des Staatswohls nicht zu bekommen und daher hinzunehmen.
800 Jahre Magna Charta: Am 12. Juni 1215 wurde die Magna Charta Libertatum besiegelt. Die Zeit (Josef Joffe) zeigt auf, welche Regelungen des 800-jährigen Regelwerkes Grundlagen modernen Verfassungsrechts bildeten, nicht zuletzt die Bindung des Souveräns an das Gesetz.
Vertragsverletzungsverfahren/Maut: Die EU-Kommission wird am heutigen Donnerstag ihren Beschluss verkünden, durch den das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik wegen des Mautgesetzes eingeleitet wird. Das meldet die FAZ (Michael Stabenow).
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/krü
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 18. Juni 2015: Handy-Befangenheit – kein Oradour-Prozess – Folterverbot USA . In: Legal Tribune Online, 18.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15913/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag