Das größte Sozialgericht des Landes zieht Bilanz und vermeldet zurückgehende Eingangszahlen. Außerdem in der Presseschau: Karenzzeit durch Selbstverpflichtung, BVerwG zu AKW Biblis, BGH zu Elternunterhalt, konfuse Zeugin im NSU-Prozess, Hartmut Mehdorn gegen sich selbst, EGMR zu Staaten-Immunität und ein besonders rabiater Fall von Selbstjustiz.
Thema des Tages
SG Berlin: Alle 20 Minuten geht beim Sozialgericht Berlin eine gegen das Jobcenter gerichtete Klage ein. Diese und andere Zahlen stellte die Präsidentin des Gerichts, Sabine Schudoma, auf der Jahrespressekonferenz des Hauses vor. So haben sich die Eingangszahlen der zu mehr als 60 Prozent ALG-II-Bescheide betreffenden Verfahren leicht verringert, gleichzeitig warten circa 42.000 Fälle auf eine Bearbeitung. Mehr als die Hälfte der Kläger obsiegten wenigstens teilweise.
Die Welt (Stefan von Borstel) beschreibt in ihrem Bericht die umfangreichen Ermittlungen, die Jobcenter bei der Prüfung von Aufstockungsanträgen von Selbstständigen betreiben müssen und deren Ergebnisse dann regelmäßig vor Gericht landen würden. Eine Klagewelle von EU-Ausländern hätte die Gerichtspräsidentin dagegen nicht ausmachen können. Die taz-Berlin (Juliane Schumacher) berichtet zudem über eine aktuelle Verhandlung, zu der die Präsidentin anwesende Journalisten aus Anschauungsgründen lud: Einem Streit über zusätzliche Leistungen für Umstandskleider. In der Darstellung der FAZ (Mechthild Küpper) offenbarte sich in der letztlich vertagten Verhandlung, "warum das Gericht schwer unter der Last der Hartz-IV-Klagen zu leiden hat." Durch die Gebührenfreiheit der Sozialgerichtsbarkeit und die häufig erfolgreichen Prozesskostenanträge ermutigt, würden unbemittelte Kläger mithilfe wenig kompetenter Anwälte oft "auch aussichtslose oder groteske Klagen" über mehrere Instanzen verfolgen. "Wo weder Mandant noch Anwalt etwas an konsistentem Auftreten liegt, hat Justitia es schwer."
Rechtspolitik
Nachtflugverbot: Auf seiner Titelseite berichtet das Handelsblatt (Daniel Delhaes/Jens Koenen) über ein am heutigen Mittwoch vorgestelltes "nationales Luftverkehrskonzept" einer Bund-Länder-Kommission zur Stärkung des deutschen Wirtschaftsstandortes. Als "brisantes Detail" gelte hierbei die Festlegung bestimmter Flughäfen "von besonderer nationaler Bedeutung", die als Teil der Infrastrukturplanung des Bundes aus der Zuständigkeit der Länder gelöst werden sollen und an denen bisherige Nachtflugverbote zumindest für Frachtflüge aufgehoben werden sollten.
Karenzzeit: Nach Bericht der FAZ (Günther Bannas) hat sich die große Koalition darauf verständigt, eine Regelung zu Karenzzeiten für Wechsel von Regierungsmitgliedern in die Wirtschaft dem Kabinett zu überlassen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-Fraktion, Michael Grosse-Böhmer (CDU) wird mit der Äußerung zitiert: "Man muss nicht zwanghaft alles gesetzlich regeln." Selbstverpflichtungen, bezüglich derer eine grundsätzliche Kompromissbreitschaft bestehe, seien ebenso zielführend. Robert Rossmann (SZ) kommentiert dies als "Pseudo-Regel." Nicht ohne Grund gebe es ein Bundesminister-Gesetz, die "vielen windigen Selbstverpflichtungen" in der freien Wirtschaft bewiesen hingegen, dass "derlei Regeln zur Befriedung von Debatten" nur wenig beitrügen.
Raubkunst: Rechtsprofessor Lorenz Kähler unterzieht für lto.de den Entwurf eines Kulturgut-Rückgewähr-Gesetzes einer kritischen Würdigung. So sei zu bemängeln, dass die im Gesetz geforderte Bösgläubigkeit des Besitzers hinsichtlich der Herkunft eines Werks gerichtlich als Fahrlässigkeit gewertet werden könnte. Noch fragwürdiger sei aber die Beweislastverteilung des Entwurfs; sie obliegt den Eigentümern bzw. deren Nachkommen und dürfte praktisch kaum zu erbringen sein. Zudem schwäche die Konzentration auf den Herausgabeanspruch von Eigentümern deren auch jetzt schon "nicht zu unterschätzende Verhandlungsposition."
§ 211 StGB: Die SZ meldet, dass der Deutsche Anwaltverein Justizminister Heiko Maas (SPD) einen Entwurf für eine Neufassung des Mordparagrafen 211 Strafgesetzbuch überreicht hat. Der Vorschlag sehe einen einheitlichen Tötungsparagrafen unter Beibehaltung der bisherigen Strafrahmen vor. Auch welt.de (Thorsten Jungholt) berichtet.
Justiz
BVerfG zu Griechenland: Das Bundesverfassungsgericht hat mit einer einstweiligen Anordnung die Vollstreckung eines arbeitsrechtlichen Urteils gegen die Republik Griechenland vorläufig gestoppt, weil bei einer Abwägung der widerstreitenden Interessen die der Bundesrepublik drohenden außenpolitischen Nachteile überwiegen würden. Ausgangspunkt des kuriosen Falls war die Klage eines griechischen Lehrers einer von der Republik betriebenen Privatschule in München. Maximilian Steinbeis (verfassungsblog.de) findet es in seinem Bericht "merkwürdig", dass der Beschluss vom Oktober erst jetzt veröffentlicht wird.
BVerfG zu Föderalismus: Am heutigen Mittwoch verhandelt das Bundesverfassungsgericht über eine Klage von 15 Landkreisen und einer Stadt, mit der ein Eingriff in das kommunale Selbstverwaltungsrecht gerügt wird. Bei dem 2010 erfolgten parteienübergreifenden Kompromiss zur Schaffung sogenannter Optionskommunen zur Regelung der Hartz-IV-Verwaltung habe der Bund verfassungswidrig in die den Ländern zustehende Ausgestaltung der Binnenverfassung eingegriffen, argumentierten die Kläger nach dem Bericht der FAZ (Reinhard Müller), der auch den "deutschen Föderalismus vor Gericht" sieht.
BVerwG zu AKW Biblis: Die nach der Reaktor-Katastrophe von Fukushima/Japan vom hessischen Umweltministerium verfügte Anordnung zur vorübergehenden Stilllegung der Reaktoren Biblis A und B ist rechtswidrig. Nach dem Bericht der FAZ (Helene Bubrowski) wies das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen eine damit rechtskräftige Entscheidung des Verwaltungsgerichtshof Hessen zurück. RWE als Betreiber der Anlage habe nun eine zivilrechtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen angekündigt. Auch die SZ (Michael Bauchmüller) berichtet.
BFH zu Kettenschenkung: Der ehemalige Präsident des Bundesfinanzhofs, Klaus Offerhaus (FAZ), macht in einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der Zeitung auf eine vom Bundesfinanzhof bestätigte, "interessante Möglichkeit zur Steuergestaltung" aufmerksam, nach der ein Zuwendender dem Bedachten ein Grundstück übertragt und dieser im Anschluss den hälftigen Anteil der Immobilie einem Dritten zukommen lässt - alles steuerfrei.
BGH zu Elternunterhalt: Über eine vom Bundesgerichtshof zu entscheidende "moralische Frage" schreibt die SZ (Wolfgang Janisch). Eine Sozialbehörde begehrt von einem 60-Jährigen die Beteiligung an Kosten der Heimunterbringung seines mittlerweile verstorbenen Vaters, der ihn vor mehr als 40 Jahren verstoßen hatte.
BGH zu Wertpapiergeschäften: Eine von der Deutschen Bank verwendete Klausel, nach der das Institut Provisionen für die Vermittlung von Wertpapiergeschäften behalten darf, ist nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs wirksam. Auch der in der Klausel enthaltene Hinweis auf das Wertpapierhandelsgesetz ist nach Ansicht des Gerichts zulässig, meldet lto.de.
OLG München – NSU-Prozess: Am 73. Verhandlungstag im Verfahren gegen Beate Zschäpe und andere vor dem Oberlandesgericht München wurde eine Zeugin vernommen, die der Hauptangeklagten beim Kauf eines Mobiltelefons behilflich gewesen sein soll, sie nun aber nicht wiedererkannte und überhaupt einen konfusen Eindruck hinterließ. Nach dem Bericht von SZ.de (Tanjev Schultz) war dabei nicht zum ersten Mal zu beobachten, "dass das Gericht sich schwer damit tut, sensibel mit Zeugen umzugehen, die von der Situation und der komplizierten Sprache der Juristen überfordert sind." Dies schade der Aufklärung der NSU-Verbrechen.
OLG Stuttgart zu Anlegerklage: Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteilte die Commerzbank zum Ersatz eines Verlusts, den ein Kunde durch eine Geldanlage erlitten hatte. Entscheidend seien dabei die vom Institut verwendeten "Strategiebegriffe" der Risikokategorien der angebotenen Anlageformen gewesen, schreibt die SZ (Harald Freiberger) in ihrem Geld-Teil. Diese seien vom Anlegerhorizont auszulegen. Im Fall hatte sich der Kläger für die Strategie "Wachstum" entschieden, deren Risiko nur noch von der Strategie "Chance" übertroffen wurde.
LG Potsdam zu BER-Entschädigung: Nach einem Bericht der FAZ (Timo Kotowski, hier eine Online-Version) befasst sich das Landgericht Potsdam am heutigen Mittwoch mit einer Schadensersatzklage der Fluglinie Air Berlin gegen die Berliner Flughafengesellschaft Berlin. Wegen der geplatzten Eröffnung des Hauptstadtflughafens BER verlange die Airline mindestens 48 Millionen Euro. Der jetzige Flughafenchef Hartmut Mehdorn habe als Air Berlin-Chef die Klage initiiert und strebe nun einen Vergleich an.
AG Hoyerswerda zu Neo-Nazis: Über eine Verhandlung gegen acht Neo-Nazis vor dem Amtsgericht Hoyerswerda schreibt die taz (Michael Bartsch). Die Männer sollen Aktivisten überfallen und massiv bedroht haben, der Fall erregte vor allem wegen halbherzigen Eingreifens der örtlichen Polizei für Aufsehen.
Bierkartell-Bußgelder: Das Bundeskartellamt hat gegen mehrere bekannte Bierbrauer Bußgelder in Millionenhöhe wegen Preisabsprachen verhängt. Lto.de (Claudia Kornmeier) befragt die auf Kartell- und Beihilfenrecht spezialisierten Rechtsanwälte Stefan Meßmer und Jochen Bernhard aus diesem Anlass zur Ermittlungstätigkeit des Bundeskartellamts, der Kronzeugenregelung im Kartellrecht, dem Kreis der Schadensersatzberechtigten und den möglichen Sanktionen gegen betroffene Unternehmen.
"Zwölf Stämme": Im vergangenen Jahr verfügte ein Familiengericht die vorläufige Entziehung des Sorgerechts mehrerer der Glaubensgemeinschaft "Zwölf Stämme" angehörender Familien. Die anschließende Inobhutnahme betroffener Kinder durch Jugendämter erregte öffentliche Kritik, schreibt die SZ (Stefan Mayr) in einer Seite Drei-Reportage und fragt, ob die dauerhafte Trennung von den Eltern den Kindern nicht mehr schade als die fragwürdigen, körperliche Züchtigung ausdrücklich bejahenden Erziehungsmethoden der fundamentalen Christen.
Recht in der Welt
EGMR – Staaten-Immunität: Nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schützt das völkerrechtliche Prinzip der Staaten-Immunität vor einer gerichtlichen Ahndung in einem anderen Land auch bei schwersten Menschenrechtsverletzungen. Die Straßburger Richter bestätigten damit die ablehnenden Entscheidungen britischer Gerichte zu den Klagen von Engländern, die in Saudi-Arabien gefoltert wurden und erfolglos Schadensersatz vom arabischen Staat begehrten. In seinem Bericht macht taz.de (Christian Rath) auf Anmerkungen des Gerichts aufmerksam, nach denen sich die Rechtslage in Bezug auf konkrete Staatsrepräsentanten im Fluss befinde und die Immunitäts-Rechtsprechung sich daher "bald auch ändern" könne.
IStGH – Großbritannien: Die Rechtsreferendarin Inga Meta Matthes (juwiss.de) stellt die Hintergründe der vom European Center for Constitutional and Human Rights beim Internationalen Strafgerichtshof erhobenen Strafanzeige gegen britische Militärs wegen Folter und Misshandlungen irakischer Gefangener vor. Der Beitrag erläutert auch das Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof.
USA – Daimler: Der Daimler-Konzern muss sich in den USA nicht wegen möglicher Verwicklungen einer Tochtergesellschaft in Menschenrechtsverletzungen der argentinischen Militärdiktatur verantworten. Dies entschied nach einer Meldung von spiegel.de der Oberste Gerichtshof der USA.
Sonstiges
Renate Künast: Die SZ (Michael Bauchmüller) porträtiert in ihrem Wirtschafts-Teil Renate Künast (Grüne) anlässlich ihrer Wahl zur Vorsitzenden des Bundestags-Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz. In dieser Funktion wolle die Anwältin sich verstärkt um "Bürgerrechte des 21. Jahrhunderts kümmern."
Insolvenz: Aus Anlass der Insolvenz des Weltbild-Verlages erklärt die SZ (Sibylle Haas) in ihrem Wirtschafts-Teil in einem Überblick das Verfahren, die Funktion des Insolvenzverwalters und die unmittelbaren Auswirkungen für die Belegschaft eines insolventen Unternehmens.
Anlegerklagen: Mit einem Rechtsprechungs-Trend zum gerichtlichen Schutz einzelner Fondsanleger wegen vermeintlichem Missmanagement oder angeblich falscher Beratung setzen sich die Anwälte Frank Koch und Volker Baas (FAZ) in einem Gastbeitrag im Recht und Steuern-Teil der Zeitung kritische auseinander. Bei dem Versuch, Schuldige für wirtschaftlichen Misserfolg zu suchen, schössen Gerichte oft übers Ziel hinaus und missachteten dabei die Interessen der "schweigenden Mehrheit der Investoren."
Das Letzte zum Schluss
Selbstjustiz: Telefonieren und Texten während einer Kinovorstellung gehören zu den unangenehmen Begleiterscheinungen des Lebens im dritten Jahrtausend. Eindeutig zu weit jedoch ging ein pensionierter Polizist in Florida/USA bei dem Versuch, sich den Film "Lone Survivor" ohne derartige Störungen anzuschauen. Weil ein anderer Kinobesucher trotz Ermahnungen nicht davon abließ, Textnachrichten zu verfassen, schoss er kurzerhand auf den Störenfried und tötete ihn. Die FAZ (Christiane Heil) berichtet.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 15. Januar 2014: SG Berlin zieht Bilanz – AKW-Abschaltung rechtswidrig – Staaten immun gegen Folter . In: Legal Tribune Online, 15.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10665/ (abgerufen am: 02.07.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag