Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio verteidigt den Staat gegen das Konzept offener Grenzen. Außerdem in der Presseschau: Jugendrichter Andreas Müller plädiert für die Entkriminalisierung des Kiffens und Justizminister Heiko Maas will wegen rechter Hetze auf Facebook einwirken.
Thema des Tages
Offener Staat ohne offene Grenzen: Ex-Verfassungsrichter Udo Di Fabio plädiert in der Montags-FAZ in einem ganzseitigen Beitrag angesichts der Flüchtlingswelle gegen ein Konzept offener Grenzen. Die Grenzsicherung müsse verbessert werden, ökonomische Anreize müssten verringert und die Stabilität der Herkunftsregionen verbessert werden. Vor allem aber weist Di Fabio auf die angebliche Dialektik von Offenheit und Begrenzung hin. "Ein offener Staat, der die Disposition über seine Grenzen aufgibt, mag offen sein, wird aber kein Staat bleiben können." Das Konzept der Bedeutungsverminderung von Grenzen durch Angleichung der Lebensverhältnisse sei "bis auf weiteres gescheitert". Di Fabio endet dennoch leicht optimistisch: "Der Westen als Gesellschaftsmodell mag heute schwanken oder gar im Niedergang befindlich scheinen, aber er hat keine wirklichen Systemkonkurrenten, weder in China, in Russland, in Venezuela noch in Iran." Auch in den 30-er Jahren habe die westliche Demokratie schwach gewirkt, sich aber letztlich durchgesetzt.
Sichere Herkunftsstaaten: Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, dass auf EU-Ebene künftig eine eigene Liste "sicherer Herkunftsstaaten" beschlossen werden soll. Die Montags-taz (Christian Rath) stellt das Konzept vor, über das an diesem Montag die EU-Innenminister diskutieren. "Wie im deutschen Recht geht es dabei vor allem um Show-Effekte."
Rechtspolitik
Cannabis: In Interviews mit dem Spiegel (Marco Evers) und lto.de (Constantin van Lijnden) stellt Andreas Müller ("Deutschlands härtester Jugendrichter") sein neues Buch "Kiffen und Kriminalität" vor. Darin fordert er eine Entkriminalisierung des Cannabis-Konsums. "Die Kriminalisierung der Nutzer muss aufhören, das sind Leute, die niemanden schädigen und
niemanden gefährden."
Vorratsdatenspeicherung: Die EU-Kommission beanstandet, dass in Deutschland vorgeschrieben werden soll, die Daten der geplanten Vorratsdatenspeicherung ausschließlich "im Inland" zu speichern. Das verstoße gegen die Dienstleistungsfreiheit. Die Montags-taz (Christian Rath) erklärt, warum dies zu einer mindestens zwei-wöchigen Verschiebung des Gesetzesbeschlusses führen wird. In einem weiteren Beitrag beschreibt die Montags-taz (Christian Rath), welche Kosten die Vorratsdatenspeicherung bei den Telekom-Unternehmen verursacht und warum letztlich die Bürger dies bezahlen. Anlass ist die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken.
Wiederaufnahme: Rechtsprofessor Marco Mansdörfer lehnt auf lto.de den Vorschlag ab, dass neue DNA-Beweise nach einem früheren Freispruch eine Wiederaufnahme ermöglichen sollten. "Es geht nicht anders. Der Gesetzgeber muss dem Beschuldigten nach dem Ende des Verfahrens seinen Rechtsfrieden gewähren." Der Staat könne sonst "jederzeit wieder und wieder zugreifen, mit jedem Fortschritt der Kriminaltechnik nochmals." Neue Strafprozesse würden nach Jahrzehnten ohnehin oft im "Desaster" enden und die Opfer und ihre Angehörigen erst recht frustrieren.
Prostitution: Die Grünen gehen davon aus, dass der Gesetzentwurf für ein Prostituiertenschutzgesetz, den Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) vorgelegt hat, im Bundesrat zustimmungspflichtig ist, meldet der Spiegel (Ann-Katrin Müller). Gefordert wird eine umfassende Überarbeitung des "bürokratischen" Gesetzentwurfs, "auch weil er, etwa durch die Anmeldepflicht, Prostituierte diskriminiere und stigmatisiere.
Justiz
BVerfG zu "Tag der Patrioten": Das Bundesverfassungsgericht hat es abgelehnt, die rechtsextreme Demonstration "Tag der Patrioten" in Hamburg durch eine einstweilige Anordnung zu ermöglichen, so ndr.de. Diese war wegen polizeilichen Notstands verboten worden. In der Kürze der Zeit sah das BVerfG keine Möglichkeit für eine fundierte eigene Folgenabwägung. Die vom Oberverwaltungsgericht Hamburg vorgenommene Folgenabwägung habe den fachgerichtlichen Wertungsrahmen nicht verlassen.
EuGH zu Arbeitszeit und Außendienst: Nun stellt auch beck.blog.de (Markus Stoffels) das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in einem spanischen Fall dar, wonach bei Außendienstlern die Fahrten vom Wohnort zum ersten Kunden und vom letzten Kunden nach Hause zur vergütungspflichtigen Arbeitszeit gehören. Dies entspreche der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.
EuGH - Hartz IV für arbeitssuchende EU-Bürger: Am kommenden Dienstag wird der Europäische Gerichtshof im Fall Alimanovic entscheiden, ob arbeitssuchende EU-Bürger in Deutschland Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen haben. Die Montags-FAZ (Joachim Jahn) stellt den Fall, den Schlussantrag des Generalanwalts und die bisherige EuGH-Rechtsprechung vor.
EuGH - IP-Adressen: cr-online.de (Matthias Bergt) erläutert die Positionen in einem Verfahren, das der Bundesgerichtshof dem EuGH vorgelegt hatte. Im Ausgangsverfahren hatte der Piratenpolitiker Patrick Breyer die Bundesregierung verklagt. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob IP-Adressen personenbezogene Daten sind. Dies bejahen die EU-Komission und mehrere Regierungen in ihren Stellungnahmen, nur die deutsche Bundesregierung vertrete eine abweichende Position.
KG Berlin - Jukos: Ex-Aktionäre des russischen Energiekonzerns Jukos haben beim Kammergericht Berlin die Beschlagnahme von russischem Staatsvermögen in Deutschland in Höhe von 42 Milliarden Dollar beantragt. Damit wollen sie das Urteil eines Schiedsgerichts in Den Haag vollstrecken, das den russischen Staat 2014 zu einer Entschädigung von insgesamt 50 Milliarden wegen willkürlicher Enteignung des Unternehmens verurteilt hatte, meldet der Spiegel (Gerald Traufetter).
LAG Frankfurt/M. - verdi-Tarifvertrag: Der Focus (hw) berichtet über ein Verfahren am Landesarbeitsgericht Frankfurt/M. In einem Musterprozess klagen zehn Mitarbeiter gegen die Flughafenbetreiberin Fraport. Diese hatte mit verdi 2009 einen Tarifvertrag abgeschlossen, der zahlreiche Ansprüche verschlechterte. Dagegen wehren sich die Kläger, weil die verdi-Spitze den Tarifvertrag unterschrieben habe, ohne vorher die zuständige Tarifkommission zu fragen.
LG Bochum - Schienenkartell: Das Landgericht Bochum verhandelt ab dem heutigen Montag unter anderem gegen vier Ex-Manager von Thyssen-Krupp, die sich am sogenannten Schienen-Kartell beteiligt haben sollen. Der Prozess könne länger dauern, da die Angeklagten nicht geständig sind, berichtet die Montags-FAZ (Helmut Bünder).
LG Jena - totes Mädchen: Das Landgericht Jena verhandelt über den Tod eines Mädchens, das die Sommerferien bei den Großeltern verbringen sollte und dort sexuell missbraucht und tot geprügelt wurde. Angeklagt sind mehrere Verwandte. Über den Prozess schreibt der Spiegel (Julia Jüttner).
AG Wiesbaden - aggressiver Fahrer: Am Amtsgericht Wiesbaden ist der Fahrer eines roten BMW angeklagt, der durch aggressive Fahrweise auf der Autobahn den Tod von fünf jordanischen Bauarbeitern verursacht haben soll. Über den Indizienprozess berichtet die FAS (Mona Jaeger).
StA Hannover - Geheimnisverrat: Die Staatsanwaltschaft Hannover ermittelt wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen, weil der Spiegel nach dem rechten Anschlag auf ein Asylheim in Salzhemmendorf "inhaltlich sehr detailliert" über Aussagen der drei Verdächtigen berichtet habe, "möglicherweise aus Aktenbestandteilen". Das meldete die Samstags-FAZ (Reinhard Bingener).
RA Hans-Eberhard Schultz: Der Focus (Alexander Wendt - focus.de-Zusammenfassung) weist darauf hin, dass der Anwalt Hans-Eberhard Schultz 1969 als 26-Jähriger einen Text über sexuelle Handlungen mit Kindern veröffentlicht haben soll. Schultz vertritt heute das palästinensische Flüchtlings-Mädchen Reem Sahwil, das durch seine Begegnung mit Kanzlerin Merkel bekannt wurde.
Recht in der Welt
Venezuela - Lopez: Der venezolanische Oppositionsführer Leopoldo López wurde zu einer Freiheitsstrafe von 13 Jahren und neun Monaten verurteilt. Er soll zu Gewalt und Rebellion aufgerufen und damit die Ausschreitungen bei den Massenprotesten von Februar bis Mai 2014 ausgelöst haben, die 43 Menschenleben forderten. Über das Urteil berichteten die Samstags-FAZ (Matthias Rüb) und die Samstags-taz (Jürgen Vogt).
USA - FIFA: US-Strafverfolger versuchen die Auslieferung von sechs Funktionären des Weltfußballverbandes FIFA zu erreichen, die derzeit noch in der Schweiz in Untersuchungshaft sitzen. Der Spiegel (Michael Wulzinger) gibt einen Überblick über den Stand der Korruptions-Ermittlungen.
USA - rassistische Justiz: Der Spiegel (Georg Diez) stellt das Buch "Ohne Gnade" des US-Anwalts Bryan Stevenson vor. Er analysiere ein "Gefängnissystem, das auf Ungerechtigkeit basiert und dazu dient, einem immer noch präsenten Rassismus eine juristische Form zu verleihen."
Sonstiges
Hetze auf Facebook: An diesem Montag trifft sich Justizminister Heiko Maas (SPD) mit Vertretern von Facebook. Maas verlagt, das Netzwerk müsse dafür sorgen, dass rechte Hass-Postings schnell entfernt werden. Thomas Stadler (internet-law.de) hält die Forderung für richtig: Facebook müsse sich "in der Tat fragen lassen, warum es sich nicht einmal an seine eigenen, selbstgesetzten Regeln hält." Christian Bommarius (BerlZ) findet dagegen, der Justizminister solle sich nur um die Einhaltung des Strafrechts kümmern und um die internen Standards eines Unternehmens. Der Tsp (Jost Müller-Neuhof u.a.) beschreibt den Konflikt in Fragen und Antworten.
Horst Schüler-Springorum: Die Samstags-SZ (Heribert Prantl) würdigt den Kriminologen Horst Schüler-Springorum, der jetzt im Alter von 93 Jahren gestorben ist. Er war Gefängniskritiker und setzte sich für Reformen vor allem des Jugendstrafrechts ein. Nicht ein besseres Strafrecht müsse man schaffen, sondern etwas Besseres als das Strafrecht. "Ein wenig ist es ihm, im Jugendstrafrecht jedenfalls, geglückt."
Das Letzte zum Schluss
Sterne für Knäste: focus.de stellt den "Hotelführer" der Webseite www.knast.net vor. Dort bewerten Insassen und Angehörige die deutschen Gefängnisse und vergeben Sterne, gerade so wie bei einem echten Hotelführer.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/chr
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 12. bis 14. September 2015:: Di Fabio gegen offene Grenzen - Harter Richter für legales Kiffen - Maas trifft Facebook . In: Legal Tribune Online, 14.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16884/ (abgerufen am: 30.06.2024 )
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