Hat Jan Böhmermann gar nicht den türkischen Präsidenten angegriffen, sondern uns? Außerdem in der Presseschau: EuGH-Generalanwalt argumentiert internet-freundlich, Handelsblatt sieht Eigentumsrecht durch Einbrecher in Gefahr.
Thema des Tages
Böhmermann und Kunstfreiheit: Jost Müller-Neuhof (Tsp) sieht das Strafverfahren gegen Jan Böhmermann wegen seines Erdogan-Schmähgedichts als die eigentliche Pointe, zu der auch die Zustimmung sonst kritischer Politiker, Justizminister und Journalisten zähle: "wir sind der Witz". Wann eine Satire verboten ist oder werden sollte, sei mit einem Qualitätsurteil verbunden. Das Extra-3-Spottlied habe keine frische Erkenntnis vermittelt. Dagegen habe Böhmermann sich über die Extra-3-Journalisten lustig gemacht und die deutsche Öffentlichkeit vorgeführt, die heute noch ein Delikt wie die "Majestätsbeleidigung" akzeptiere. Böhmermanns Satire richte sich weder gegen Erdogan noch gegen die Türken, sondern "gegen uns".
§ 103 StGB: Aus Anlass der Ermittlungen, die die Mainzer Staatsanwaltschaft gegen Jan Böhmermann aufgenommen hat, stellt die SZ (Heribert Prantl) auf der Titelseite § 103 Strafgesetzbuch vor ("Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten"). Die Vorschrift wurde früher Schah-Paragraph genannt, weil jener sich oft beleidigt fühlte. In der Rechtswissenschaft und in der Rechtspraxis spiele die Norm aber keine große Rolle.
Rechtspolitik
Ärztekorruption: SPD-Gesundheitspolitiker drohen, das geplante Gesetz zur Bestrafung von Korruption im Gesundheitswesen scheitern zu lassen, berichtet die SZ (Guido Bohsem). Jüngste Kompromisse zugunsten der Ärzteschaft gingen ihnen zu weit. Denn nun könne es wieder straflose Fälle geben, bei denen ein Arzt ein schlechteres Medikament verschreibt, weil er Geld von dessen Hersteller erhalten hat.
Finanzausgleich: Jasper von Altenbockum (FAZ) kritisiert die Ministerpräsidenten der Länder, die im Dezember vorschlugen, den klassischen Länderfinanzausgleich faktisch abzuschaffen und den Ausgleich ausschließlich über Zu- und Abschläge bei der Verteilung der Umsatzsteuer zu regeln. Dies verstoße gegen die föderalen Interessen der Länder, weil sie so von Zuweisungen des Bundes abhängig würden. Der Bund habe der Reform aber noch nicht zugestimmt, weil sie ihn 9,7 Mrd. Euro kosten soll.
Geschäftsgeheimnisse: Am 14. April stimmt das Europäische Parlament über die geplante EU-Richtlinie zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen ab, berichtet netzpolitik.org (Markus Reuter). Als Reaktion auf Kritik wurde zwar noch eine Klausel zum Schutz von Journalisten und Whistle-Blowern aufgenommen. Die rechtliche Stärkung von Geschäftsgeheimnissen sei dennoch bedenklich. Unternehmen könnten zunächst juristisch gegen Journalisten und Whistle-Blower vorgehen, ob dies am Ende erfolgreich sein wird, sei zweitrangig.
Justiz
EuGH - Linkfreiheit: Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof hat in einem Fall aus den Niederlanden ("Geen Stijl") empfohlen, dass die Verlinkung auf Seiten mit Urheberrechtsverletzungen nicht zur Haftung des Linksetzers führen soll. Das Verlinken sei kein Veröffentlichen. Auf die Motive des Verlinkenden komme es - anders als bisher in Deutschland - nicht an. Alles andere erschwere das Funktionieren des Internets, so der Generalanwalt laut lto.de (Pia Lorenz).
EuGH zu Auslieferung: Rechtsprofessor Heiko Sauer bespricht auf verfassungsblog.de das am Dienstag verkündete Urteil des EuGH, wonach eine Auslieferung aufgrund eines europäischen Haftbefehls unterbleiben kann, wenn am Zielstaat menschenrechtswidrige Haftbedingungen drohen. Damit habe der EuGH klargestellt, dass Schutz nur durch das EU-Recht und den EuGH zu erlangen sei. Der EuGH habe damit das Bundesverfassungsgericht in die Schranken gewiesen, das jüngst eine Identitätskontrolle mit absolutem Vorrang von Art. 1 Grundgesetz vor EU-Recht postulierte.
BVerwG zu Windrädern und Flugsicherung: Die Deutsche Flugsicherung hat bei der Ablehnung von Windkraftanlagen einen weiten Ermessensspielraum. Das entschied jetzt das Bundesverwaltungsgericht laut SZ (Michael Bauchmüller). Um die Störung von Funkfeuern durch Rotoren zu verhindern, könne die Flugsicherung Windkraftanlagen verhindern. Bundesweit könnten aufgrund solcher Einsprüche rund 800 Windräder nicht errichtet werden.
BVerwG zu Halteverboten: Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, daß Halteverbotsschilder nur dann wirksam sind, wenn ein Autofahrer sie während der Fahrt oder "durch einfache Umschau beim Aussteigen" ohne Weiteres erkennen kann. Eine weitergehende Nachschau nach Halteverboten sei in der Regel nicht erforderlich, berichtet lto.de.
BVerwG zu Cannabisanbau: In einem Kommentar begrüßt Heike Haarhof (taz) ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von Dienstag, wonach Schmerzpatienten Cannabis zum Eigengebrauch anbauen dürfen, solange Kassen ihnen keinen Medizinalhanf bezahlen. Das Urteil sei "so überfällig wie wegweisend". Es stärke auch Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) den Rücken, der einen Gesetzentwurf zur Kassenfinanzierung von Cannabis für Schwerkranke vorgelegt habe.
BGH zu Kannibalen-Fall: Nun berichtet auch lto.de (Pia Lorenz) über das Urteil des Bundesgerichtshof vom Mittwoch. Erläutert wird insbesondere, dass der BGH - falls kein Suizid des Opfers vorlag - auf einer lebenslangen Freiheitstrafe bestand. Die für verzweifelte Heimtücke-Morde entwickelte "Rechtsfolgen-Lösung" könne hier nicht angewandt werden.
LG Hanau - KZ-Wachmann: Nächste Woche sollte am Landgericht Hanau der Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des KZ Auschwitz beginnen. Inzwischen ist der 93-jährige Angeklagte allerdings gestorben, meldet zeit.de.
Petition gegen "Machtmissbrauch" von Richtern: Der Petitionsausschuss des niedersächsischen Landtags wird sich Ende April mit der Eingabe einer 62-jährigen Frau beschäftigen. Sie hatte mehrere Zahnärzte verklagt, woraufhin das Landgericht Göttingen ihren Geisteszustand untersuchen wollte. Die Frau hält diesen Versuch, sie zu psychiatrisieren, für willkürlich und fordert Disziplinarmaßnahmen gegen die Richter. spiegel.de (Ansgar Siemens) schildert den Fall ausführlich.
Recht in der Welt
EU/Ukraine - Assoziierungsabkommen: Nachdem die niederländische Bevölkerung in einem Plebiszit die Ratifizierung des Assozierungsabkommen der EU mit der Ukraine abgelehnt hat, erläutert die FAZ (Helene Bubrowski), dass das bereits seit 2014 vorläufig angewandte Abkommen weiterhin - "theoretisch für immer" - vorläufig angewandt werden könne. Möglich sei dies in den Bereichen, die in die ausschließliche Kompetenz der EU fallen, wobei der Rat diese noch nicht bestimmt habe.
Polen - Verfassungsgericht: Im Interview mit der taz (Gabriele Lesser) bezeichnet der ehemalige Präsident des polnischen Verfassungsgerichts Jerzy Stępień die Angriffe der aktuellen politischen Mehrheit auf das Gericht als "Staatsstreich" und "Versuch eines Putsches von oben".
Kolumbien - sexuelle Gewalt: Der Menschenrechtsjurist Andreas Schüller beschreibt auf zeit.de den Kampf kolumbianischer Frauen um strafrechtliche Aufarbeitung von sexueller Gewalt während des Bürgerkriegs. Das kolumbianische Verfassungsgericht habe dies bereits 2008 angeordnet und 2015 erneut angemahnt. Jetzt hätten die Frauen eine Strafanzeige beim Internationalen Strafgerichtshof eingereicht.
Sonstiges
Einbrüche und Grundrechte: Die HBl-Titelstory (Thomas Sigmund) sieht in der Unfähigkeit der deutschen Politik, die Bürger vor organisierten Einbruchsbanden zu schützen, einen Angriff auf das Eigentums-Grundrecht. Der Staat kümmere sich um so vieles, werde aber nicht einmal seiner Rolle als "Nachtwächterstaat" gerecht. Um mehr Polizei zu finanzieren, könnte etwa auf Subventionen für Elektroautos verzichtet werden oder auf die Rente ab 63. In einem separaten Interview mit dem HBl (Heike Anger) leitet auch Rechtsprofessor Rupert Scholz aus Art. 14 Grundgesetz eine Verpflichtung des Staates zu mehr Polizeistreifen auf der Straße ab. "Nur das gibt eine gewisse Gewähr, dass Schutz vor Diebstahl herrscht."
Mundlos beim V-Mann? Der NSU-Terrorist Uwe Mundlos soll nach seinem Untertauchen zwei Jahre lang bei einem V-Mann des Bundesamts für Verfassungsschutz beschäftigt gewesen sein. Nun beschreibt auch die taz (Konrad Litschko), was für diese Annahme spricht. Die FAZ (Karin Truscheit) erläutert, dass es sich eher um eine Verwechslung handeln dürfte. Die SZ (Annette Ramelsberger) berichtet eher neutral.
Die taz (Christian Rath) beschreibt, welche Mitteilungspflichten V-Leute haben und dass im NSU-Komplex die V-Leute Informationen lieferten, die dann im Apparat des Verfassungsschutz hängengeblieben waren.
PKW-Maut: Im Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen das deutsche Gesetz zur Einführung einer PKW-Maut lehnte die Bundesregierung Kompromissvorschläge der Kommission ab. In einem Kommentar hält Markus Balser (SZ) dies für nachvollziehbar. Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) wolle, dass der Fall so schnell wie möglich vor dem EuGH verhandelt wird, damit dieser die Kommission in die Schranken weise.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/chr
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 8. April 2016: Böhmermann und Kunstfreiheit / Generalanwalt für Linkfreiheit / Handelsblatt für Schutz . In: Legal Tribune Online, 08.04.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19011/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
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