Exit vom Brexit? Ein Londoner Gericht verpflichtet Regierung, das Parlament an der Austrittsentscheidung zu beteiligen. Außerdem in der Presseschau: Absprache zu PKW-Maut, der BGH stärkt das Umgangsrecht leiblicher Väter.
Thema des Tages
Brexit und Parlamentsrechte: Nach dem bisherigen Plan der britischen Premierministerin Theresa May sollte die EU bis zum kommenden März offiziell über den Austrittswunsch des Vereinigten Königreichs unterrichtet werden. Die nach Art. 50 des EU-Vertrages vorgesehenen Verhandlungen über die Modalitäten hätten sich hieran angeschlossen. Wie unter anderem die taz (Dominic Johnson) berichtet, steht dieser Zeitplan nun in Frage. Der Londoner High Court entschied, dass das Austrittsverfahren nicht ohne Zustimmung des Parlaments in Gang gesetzt werden dürfe. Die Mehrheit der Unterhaus-Mitglieder hatte sich zumindest vor der Abstimmung im Juni gegen einen Brexit ausgesprochen. Das Gericht habe die Annahme einer sogenannten "royal prerogative", die der Regierung speziell in außenpolitischen Themen ein Exekutivrecht einräume, verneint, erläutert die FAZ (Jochen Buchsteiner). Die Regierung habe bislang eine Parlamentsbeteiligung wegen einer Schwächung ihrer Verhandlungsposition gegenüber der EU abgelehnt. Sie wolle in der Sache nun den Supreme Court anrufen.
Hintergrundberichte von spiegel.de (Christoph Scheuermann/Markus Becker) und Welt (Andre Tauber) stellen klar, dass sich gleichwohl an der grundsätzlichen Entscheidung für den EU-Ausstieg nichts ändern dürfte. Analysen der Entscheidung bringen Rechtsprofessor Jo Murkens auf verfassungsblog.de, Hochschuldozent Tobias Lock auf verfassungsblog.de, beide in englischer Sprache, und der wissenschaftliche Mitarbeiter Roman Kaiser auf verfassungsblog.de.
Nach dem Leitartikel von Nikolas Busse (FAZ) ist das "unglückliche Agieren" der Premierministerin "ein Lehrstück dafür, dass Ja/Nein-Referenden nicht automatisch gesellschaftlichen Frieden stiften". Dies solle auch "Freunden der direkten Demokratie" in Deutschland zu denken geben.
Rechtspolitik
PKW-Maut: Der FAZ (Michael Stabenow) hat eine Sprecherin der Europäischen Kommission bestätigt, dass eine Verständigung mit dem Bundesverkehrsministerium über die Einführung einer PKW-Maut in noch in diesem Monat erreicht werden könne. Der Zeitplan für die Einführung der Maut ist nach dem Bericht von spiegel.de (Markus Becker) allerdings eng bemessen. Der erzielte Kompromiss erfordere unter anderem eine Abstimmung im Bundestag.
Quote für Anwälte am BVerfG: Der Vorschlag, freiwerdende Richterstellen am Bundesverfassungsgericht quotenmäßig auch mit Anwälten zu besetzen, wird im neuen lto-Podcast (Michael Reissenberger) von BRAK-Präsident Ekkehart Schäfer und DAV-Präsident Ulrich Schellenberg erläutert.
Sozialhilfe für Ausländer: Im vergangenen Dezember leitete das Bundessozialgericht aus dem Grundgesetz einen Sozialhilfeanspruch für EU-Ausländer mit verfestigtem Aufenthalt zumindest als Ermessensleistung ab. Nach erheblicher Kritik an dem Urteil legte die Bundesregierung einen Änderungsentwurf zu den entsprechenden sozialrechtlichen Bestimmungen vor, der am heutigen Freitag im Bundesrat beraten wird. Rechtsprofessorin Constanze Janda stellt auf lto.de maßgebliche Punkte des Entwurfs vor, dem sie Verfassungswidrigkeit bescheinigt.
Steuervermeidung: Die wichtigsten Punkte des vom Bundesfinanzminister vorgestellten Gesetzentwurfs zur Bekämpfung von Steuervermeidung und -umgehung stellt die SZ (Cerstin Gammelin u.a.) in Frage-und-Antwort-Form vor. Donata Riedel (Hbl) begrüßt im Leitartikel des Blattes die nun offenbar gewordene Erkenntnis, dass der Nationalstaat gegenüber Offshore-Briefkastenfirmen "gar nicht so wehrlos" sei, wie in Regierungen bislang darzustellen versuchten. Durch das jetzige "Panama-Gesetz" würden Lücken geschlossen, die internationale Vereinbarungen zum Datenaustausch bislang offen gelassen hätten.
Gentechnik: Die SZ (Kathrin Zinkant) untersucht in Frage-und-Antwort-Form, ob die Kritik an der von der Bundesregierung Anfang der Woche beschlossenen Änderung des Gentechnikgesetzes berechtigt ist.
Kinderehen: spiegel.de (Anna Reimann) stellt Positionen und Argumente in der Debatte über ein Verbot sogenannter Kinderehen vor.
Grundsteuerreform: Vor der am heutigen Freitag anstehenden Beratung über die Reform der Grundsteuer führt die BadZ (Christian Rath) in die rechtlichen, steuerlichen und ökologischen Probleme ein und prognostiziert eine Entscheidung für eine kombinierte Boden- und Gebäude-Besteuerung.
Justiz
BVerfG zu Rindfleischetikettierung: Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss eine Strafnorm des Rindfleischetikettierungsgesetzes als mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt. Die Norm enthielt Verweisungen auf Rechtsakte der EU sowie Verordnungen des Bundeswirtschaftsministeriums, klärt Maximilian Steinbeis (verfassungsblog.de) in einem Editorial auf. Sie verletze daher das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot. Nach dem Kommentar von Reinhard Müller (FAZ) sollten sowohl Berlin als auch Brüssel "die Entscheidung als Signal nehmen, um die Akzeptanz ihrer Rechtsakte zu verbessern".
BVerfG – NPD-Verbot: Das Bundesverfassungsgericht will seine Entscheidung im NPD-Verbotsverfahren nach einer Meldung der taz am 17. Januar verkünden.
BGH zu Umgangsrecht: Der Bundesgerichtshof hat erstmals eine Entscheidung aufgrund des 2013 erleichterten Umgangsrechts für – überwiegend – biologische Väter getroffen. Nach dem Beschluss müssen Kinder, mit denen der leibliche Vater Umgang haben will, auch bei einer Weigerung der Mutter angehört bzw. über die Vaterschaft informiert werden, schreibt die taz (Christian Rath). Die Hintergründe des bereits jahrelangen Rechtsstreits – der klagende Vater hatte 2010 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein grundsätzliches Umgangsrecht erstritten und damit die deutsche Gesetzesänderung bewirkt – stellt auch die SZ (Wolfgang Janisch) dar.
OLG München – NSU: Aus Anlass des fünften Jahrestages der Selbsttötung von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erinnert Annette Ramelsberger (SZ) im Leitartikel der Zeitung daran, dass jahrelange Ermittlungen, ein halbes Dutzend Untersuchungsausschüsse und mehr als 300 Verhandlungstage am Oberlandesgericht München immer noch nicht ergeben hätten, "wer wo genau die Finger mit im Spiel gehabt hatte". Dies öffne Raum für Verschwörungstheorien, dabei verdeckten gerade diese ein jahrelanges "Geflecht an missgünstigen Kleinbürgern, Antidemokraten und Rechtsradikalen" in Deutschland. Die taz-Nord (Andreas Speit) interviewt Gül Pinar, Nebenklageanwältin im NSU-Verfahren, zu den Prozess-Eindrücken und Forderungen der von ihr vertretenen Familie Tasköprü. In Fortsetzung ihrer NSU-Serie befasst sich die taz (Konrad Litschko) mit der Rolle der Bundesanwaltschaft im Prozess.
OLG Stuttgart zu "bekömmlichem Bier": Der Begriff der Bekömmlichkeit ist gesundheitsbezogen und darf deshalb nicht in der Werbung für alkoholische Getränke wie Bier verwendet werden. Dies entschied das Oberlandesgericht Stuttgart. Über das Urteil und andere Rechtsstreitigkeiten im Bereich sogenannter Health Claims schreibt die SZ (Silvia Liebrich).
OVG Münster zu Dienstzeit: Das Anlegen der Dienstkleidung gehört für nordrhein-westfälische Polizisten zur Arbeitszeit. Über die entsprechende Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster berichtet spiegel.de.
LG Frankfurt/M. - Exorzismus: Im Verfahren wegen der mutmaßlich bei einem Exorzismus getöteten Frau vor dem Landgericht Frankfurt/M. versucht die Verteidigung von zwei jugendlichen Angeklagten weiterhin erfolglos, die Öffentlichkeit ausschließen zu lassen. Für das Gericht überwiege dagegen weiterhin das öffentliche Informationsinteresse, berichtet die taz (Christoph Schmidt-Lunau).
LG Bonn zu Flüchtling: Wegen dreifachen versuchten Mordes hat das Landgericht Bonn einen Syrer zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach dem Bericht der Welt (Kristian Frigelj) hielt es das Gericht für erwiesen, dass der Verurteilte aus Unbehagen über empfundenen Autoritätsverlust in seiner Ehe in Tötungsabsicht drei Kinder aus dem Fenster in der ersten Etage warf.
Doping: Seit einem guten Jahr ist das Anti-Doping-Gesetz in Kraft. Die taz (Alina Schwermer) befragt Sebastian Wußler, Leiter der Schwerpunktstaatsanwaltschaft zur Dopingverfolgung in Freiburg, zu praktischen Erfahrungen in der Anwendung des Gesetzes.
Recht in der Welt
Türkei – Todesstrafe: Die FAZ (Michael Martens) zeichnet in einem ausführlichen Beitrag die jüngere Geschichte der Todesstrafe in der Türkei und die aktuelle Diskussion über ihre Wiedereinführung nach.
USA – Wahl: verfassungsblog.de (Maximilian Steinbeis) befragt den US-amerikanischen Rechtsprofessor Sanford Levinson zu Mängeln des Wahlrechts im Lande und inwiefern die Verfassung hierfür verantwortlich ist.
Sonstiges
VW: Nach Bericht der SZ (Klaus Ott u.a.) setzt sich der VW-Konzern gegen drohende Schadensersatzforderungen in Europa wegen der Abgas-Affäre nun mit der Feststellung zur Wehr, man habe in betroffenen Fahrzeugen keine nach europäischen Recht unzulässige Abschalteinrichtung eingebaut. Soweit Umrüstungen angeboten würden, geschehe dies im "besonderen Interesse der Kunden". Nach Kenntnis der SZ (Klaus Ott/Katja Riedel) werde diese Argumentationslinie auch in einem beim Landgericht Paderborn anhängigen Schadensersatzverfahren eines VW-Besitzers verfolgt.
Nachrichtendienste: Über das "1. Symposium zum Recht der Nachrichtendienste" in Berlin schreibt die FAZ (Reinhard Müller). Breiten Raum nimmt hierbei der Vortrag von Verfassungsrichter Johannes Masing ein, der sich zur Reform des BND-Gesetzes nicht äußern wollte. In grundsätzlicher Hinsicht habe Masing gemahnt, bei der Abgrenzung von polizeilichen und nachrichtendienstlichen Aufgaben die föderative Ordnung im Blick zu behalten, gleichzeitig aber zu erkennen gegeben, dass das Trennungsgebot "keineswegs" verfassungsfest sei. Bezüglich der Arbeit von Nachrichtendiensten sei zudem eine "Transparenz der Intransparenz" beachtlich.
Klaus Volk: Die FAZ (Michael Pawlik) bespricht in ihrem Sachbücher-Teil "Die Wahrheit vor Gericht" von Klaus Volk. Der Strafverteidiger plädiere in dem Buch "für einen Akt ideeller Abrüstung", durch den die Wiederherstellung von Rechtsfrieden durch faire Verfahren zulasten einer umfassenden Wahrheitserforschung erzielt werden soll. In Ermangelung konkreter Vorschläge bleibe Volk jedoch in der "Rolle des überlegenen Connaisseurs, der die Klaviatur des geltenden Strafverfahrensrechts gerade deshalb brillant beherrscht, weil er um seine Ungereimtheiten und Brüche weiß".
Das Letzte zum Schluss
Steuermoral: Während einige Finanzminister versuchen, Steuerhinterziehung und -vermeidung durch Petitessen wie Gesetzesänderungen zu bekämpfen, geht man im Freistaat Sachsen gewohnt eigene Wege: Der dortige Minister Georg Unland (CDU) ist nach Bericht der SZ (Cornelius Pollmer) davon überzeugt, dass die Anschrift des Finanzamts in Pirna nach dem Neubau nicht dazu geeignet ist, Bürger zur Zahlung von Steuern zu motivieren. Nachdem der Stadtrat seinem "mit tatsächlichem Nachdruck" vorgetragenen Wunsch nach Umbenennung der betreffenden Clara-Zetkin-Straße nicht folgte, soll nun eine staatliche Baugesellschaft dem beim Bau entstandenen Vorplatz des Gebäudes einen neuen Namen verleihen.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der heutigen Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/mpi
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 4. November 2016: Umweg für Brexit / Verständigung zu PKW-Maut / Umgang für Väter . In: Legal Tribune Online, 04.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21041/ (abgerufen am: 04.07.2024 )
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