Neue Arten des demokratischen Widerstandes – "Die Kunst der Revolte" von Geoffroy de Lagasnerie. Außerdem in der Presseschau: Ethikrat spricht sich für Embryospende aus, Gutachten im Winnenden-Verfahren und ein historischer Mafia-Prozess beginnt.
Thema des Tages
"Die Kunst der Revolte": Die Zeit (Marie Schmidt) rezensiert in ihrem Literaturteil das Buch "Die Kunst der Revolte" des Philosophen Geoffroy de Lagasnerie. Der Autor präsentiert den zivilen Ungehorsam von Snowden, Assange, Manning und Anonymous als neue Arten des Widerstandes im demokratischen Staatssystem. Der Artikel hebt zunächst verschiedene Kritikpunkte hervor – etwa sei es "brandgefährlich, politische Grundsatzdebatten von ethischen Bedenken säubern zu wollen" – betont allerdings, der Leser bekomme "die Ahnung einer bemerkenswerten Intervention", wenn er die Bücher de Lagasneries über Revolte und Justiz zusammen lese. "Der Staatsmacht stellt er ein souveränes Individuum gegenüber, das alle Verantwortung ablehnen kann. Die staatliche Praxis, Einzelne zur Verantwortung zu ziehen, formt er um zur Verantwortung des Rechtssystems für die soziale Lage der Delinquenten."
Rechtspolitik
Störerhaftung: Die FAZ (Hendrik Wieduwilt) legt im Recht und Steuern-Teil dar, wie der Schlussantrag des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof, Maciej Szpunar, im Verfahren zur Störerhaftung sich auf die Debatte im Bundestag zu selbigem Thema auswirke. Szpunar hatte betont, Anbieter von offenem WLAN dürften nicht dazu verpflichtet werden, den Zugang besonders abzusichern.
Abgeordnetenimmunität: Jost Müller-Neuhof (Tsp) konstatiert, an den Immunitätsregeln, wie sie derzeit bestehen, sei "nichts selbstverständlich – und nichts ewig". Anhand des Falls von Volker Beck erläutert er Zweck und Schwächen der Immunität – etwa den "Immunitätspranger". Er erklärt zudem, wie die "Aufhebung der Immunität" in der Praxis aussieht und verweist auf Alternativen zu den derzeitigen Regeln.
Embryospende: Der Deutsche Ethikrat hat sich in einem Gutachten zur sogenannten Embryospende dafür ausgesprochen, das umstrittene Verfahren grundsätzlich zuzulassen. Er fordert die Legislative dazu auf, klare rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Die SZ (Kim Björn Becker/Hannes Vollmuth) stellt die Empfehlung des Ethikrats vor. Auch die taz (Heike Haarhoff) befasst sich ausführlich mit dem Gutachten und (straf-)rechtlichen Fragen um die Embryospende.
"Richtig" sei die Forderung des Deutschen Ethikrats nach gesetzlichen Regelungen, meint Heike Haarhoff (taz) in einem separaten Kommentar. Sie kritisiert das "bewusste Nichtstun der Politiker" hinsichtlich der Forderungen eines Fortpflanzungsmedizingesetzes.
Justiz
BVerwG zu Dublin II: Hat ein EU-Mitgliedsstaat sich nach der Dublin-II-Verordnung für ein Asylverfahren zuständig erklärt, entfällt diese Zuständigkeit nicht rückwirkend, wenn der betreffende Asylbewerber seinen Asylantrag zurücknimmt und stattdessen subsidiären Schutz beantragt. Dies entschied das Bundesverwaltungsgericht und betonte damit, dass die Dublin-II-Verordnung hier anwendbar bleibt, auch wenn sie Anträge auf subsidiären Schutz nicht umfasst, denn das Zuständigkeitsverfahren sei mit der Zustimmung abgeschlossen. lto.de skizziert auch den zugrundeliegenden Fall.
BGH zu Bankenhaftung bei Zinswetten: Im Schadensersatzverfahren von Hückeswagen gegen die WestLB hat der Bundesgerichtshof in der Revision nun zugunsten der Stadt geurteilt und damit "Kommunen gestärkt, die wegen spekulativer Zinswetten gegen ihre Bank klagen", schreibt die taz (Christian Rath). Die Bank habe ihre Beratungspflichten verletzt. Aufgrund "kleiner Aufklärungsmängel" hob der BGH das Urteil des Oberlandesgerichts Köln dennoch auf und verwies den Fall zurück.
OLG München zu Karlheinz Schreiber: Der aus der CDU-Spendenaffäre bekannte Lobbyist Karlheinz Schreiber muss nicht mehr wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis; das Oberlandesgericht München hat seinen Strafrest zur Bewährung ausgesetzt. Die Richter berücksichtigten dabei unter anderem seine Untersuchungshaft sowie seinen gesundheitlichen Zustand. Die FAZ (Albert Schäffer) schreibt ausführlich über die Verfahren gegen Schreiber und die Vorwürfe gegen ihn.
OLG München – NSU: Laut Recherchen von MDR Thüringen und MDR Info soll Beate Zschäpe über das Radio vom Selbstmord von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erfahren haben. Dies hatte sie in ihrer schriftlichen Aussage angegeben – das Bundeskriminalamt habe diese aber bisher nicht verifizieren können, meldet spiegel.de.
OLG Celle – Frederike von Möhlmann: Im Berufungsverfahren vor dem Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle will der Vater der im Jahre 1981 vergewaltigen und ermordeten Frederike von Möhlmann Schmerzensgeld vom mutmaßlichen Täter einklagen. Wegen des Strafklageverbrauchs kam es trotz möglicherweise belastender DNA-Spuren, die im Jahr 2012 festgehalten werden konnten, nicht zu einem erneuten Strafverfahren, meldet spiegel.de.
LG Heilbronn – Winnenden: Am ersten Verhandlungstag vor dem Landgericht Heilbronn im Verfahren von Jörg K., dem Vater des Winnenden-Amokläufers, gegen die ehemaligen Therapeuten seines Sohnes stellte ein Kinder- und Jugendpsychiater sein Gutachten vor. Grobe Fehler habe die Psychiatrie Weinsberg nicht begangen. K. hingegen moniert, sie habe ihn nicht ausreichend darüber informiert, wie gefährlich sein Sohn gewesen sei und solle daher die Hälfte des von ihm zu leistenden Schadensersatzes tragen, schreiben SZ (Josef Kelnberger) und FAZ (Rüdiger Soldt).
EuGH zu Haftung der Limited: In seinem Urteil vom Dezember vergangenen Jahres habe der Europäische Gerichtshof "den Gläubigerschutz durch eine weite Auslegung des Insolvenzrechts gestärkt", schreibt Rechtsanwalt Lothar Köhl in einem FAZ-Gastbeitrag. Der EuGH entschied, dass Direktoren einer englischen Limited nach § 64 des GmbH-Gesetzes im Insolvenzverfahren wie Geschäftsführer einer GmbH haften können.
Recht in der Welt
EU-Türkei-Abkommen: Europarechtsprofessor Daniel Thym erklärt im Interview mit zeit.de (Katharina Schuler), warum das deutsche Parlament keine Entscheidungsbefugnis im Hinblick auf das EU-Türkei-Abkommen habe. CSU-Chef Horst Seehofer hatte gefordert, dass der Bundestag über das Abkommen abstimmt.
Theo Sommer (zeit.de) erläutert in seinem Kommentar, warum er das Abkommen zwischen EU und Türkei für "die beste aller möglichen Lösungen" hält. Er sammelt zudem "fundamentale Fragen" rund um die Umsetzbarkeit des Deals.
Die Zeit (Martin Klingst) hält es für möglich, dass "das große Flüchtlingsdrama eine [...] Wendung nimmt und dabei obendrein ein funktionierendes europäisches Asylsystem herauskommt, das dem Flüchtlingsschutz gerechter wird als das gegenwärtige Chaos." Der Beitrag zeichnet die Entwicklung vom ausschließlich nationalen Asylrecht zu den unionsrechtlichen Asylregelungen nach und führt die Mängel des derzeitigen EU-Asylsystems sowie entsprechende Rechtsprechung aus.
Russland/Ukraine – Nadja Sawtschenko: Die ukrainische Pilotin Nadja Sawtschenko muss wegen Beihilfe zum Mord an zwei russischen Journalisten eine Lagerhaft von 22 Jahren verbüßen – wobei ihre Untersuchungshaft angerechnet wird. Das Strafmaß hat ein Gericht der russischen Stadt Donezk nun verkündet. Der ukrainische Präsident Poroschenko habe daraufhin einen Gefangenenaustausch angeboten. SZ (Julian Hans) und FAZ (Reinhard Veser) resümieren auch die internationale Kritik an dem Verfahren.
Italien - `Ndrangheta: Im italienischen Reggio Emilia beginnt am heutigen Mittwoch der Prozess gegen die `Ndrangheta, "die mächtigste Mafia Italiens". Die Nationale Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft wirft den 130 Angeklagten unter anderem die Mitgliedschaft in einer Mafia-Vereinigung, versuchten Mord, Brandstiftung und Erpressung vor. Der Prozess habe "historische Bedeutung", zitiert die SZ (Stefan Ulrich) den obersten italienischen Anti-Mafia-Staatsanwalt Franco Roberti.
China – Porträt zu Mo Shaoping: Die SZ (Kai Strittmatter) bringt ein Porträt über den chinesischen Bürgerrechtsanwalt Mo Shaoping – er sei der "wohl prominenteste derer, denen es noch erlaubt ist, zu praktizieren". Shaoping verteidigte unter anderem Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo und betont, zwar seien seine Verteidigungen nicht erfolgreich gewesen, aber sie würden "doch von der Geschichte aufgezeichnet".
USA – Porträt zu Charles Breyer: Charles Breyer ist Richter in der Sammelklage von Autobesitzern in den USA gegen VW. Das Hbl (Astrid Dörner/Thomas Jahn) widmet ihm ein Porträt und stellt nicht nur die juristische Laufbahn des "angesehenen Richters" dar, sondern auch seine Vorgehensweise im Verfahren gegen VW. "Er führt den Fall Volkswagen mit harter Hand – und mit Humor."
Sonstiges
Attentate in Brüssel: Reinhard Müller (FAZ) betont, dass die freiheitliche Wertegemeinschaft auch nach den Attentaten in Brüssel ihren Werte treu bleiben müsse. Gerade im digitalen Zeitalter müsse sie "alle rechtsstaatlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung" nutzen.
Interview mit Heiko Maas: Die Zeit (Marc Brost/Heinrich Wefing) spricht mit Justizminister Heiko Maas über fremdenfeindliche Hasskommentare und rechtsextreme Straftaten. Maas führt die Handlungsmöglichkeiten des Staates, von Unternehmen wie Google, Facebook und Twitter und der Zivilgesellschaft aus und äußert sich zum Volksverhetzungsparagrafen.
Fischer zu Strafrechtstheorie: Unter dem Titel "Schuldausgleich und Abschreckung" gibt Thomas Fischer in seiner zeit.de-Kolumne eine Übersicht über die gängigen Strafrechtstheorien. Zudem moniert er, dass strafrechtliche Normen nicht sämtliche Lebensbereiche reglementieren müssten.
Das Letzte zum Schluss
Androide Notare: Notare – bald "kleine Roboter mit schlammfarbenen Krawatten und schlechter Laune, die den ganzen Tag Urkunden beglaubigen, mit Siegellack herumklecksen, bis zu 20.000 Testamente pro Minute abstempeln und die Honorare in den Keller drücken"? Die taz (Ella Carina Werner) prophezeit in ihrer Satire-Rubrik "die Wahrheit" eine düstere Zukunft für die "altehrwürdigen Juristen".
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 23. März 2016: "Die Kunst der Revolte" / Ethikrat zu Embryospende / historischer Mafia-Prozess . In: Legal Tribune Online, 23.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18858/ (abgerufen am: 05.07.2024 )
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