Erdogan und Böhmermann, der Prozess geht weiter. Außerdem in der Presseschau: Forderung nach Anwaltsquoten für Bundesverfassungsrichter, Kranke dürfen Personalgespräch fernbleiben und Recht auf Meinungsfreiheit für Meinungsroboter?
Thema des Tages
LG Hamburg – Böhmermann: Das Landgericht Hamburg hat im Hauptverfahren zu Erdogans Unterlassungsklage gegen Böhmermann verhandelt. Der Anwalt des türkischen Präsidenten beharrt darauf, der Satiriker bediene rassistische Vorurteile gegen Türken und verletze so die Menschenwürde seines Mandanten. Eine Abwägung sei daher nicht mehr zulässig. Die Vertretung des Satirikers hingegen plädiert, das Gedicht sei so "gaga", dass es nicht auf die Verletzung Erdogans ziele. Im Vordergrund stehe die Diskussion um die Meinungsfreiheit. Sie kam zudem auf die derzeitige Lage in der Türkei zu sprechen. Das Gericht werde erst am 10. Februar 2017 urteilen. Die Vorsitzende Richterin Simone Käfer habe nicht erkennen lassen, ob das LG von seiner Entscheidung im Eilverfahren abweichen werde. Unter anderem taz (Christian Rath), SZ (Annette Ramelsberger), Welt (Per Hinrichs) und Hbl (Christoph Kapalschinski) widmen sich der nächsten Streitrunde. tagesschau.de (Kolja Schwartz/Tobias Sindram) zeichnet die Hintergründe und die unterschiedlichen Verfahren nach.
Rechtspolitik
Quote für Anwälte am BVerfG: Die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein fordern eine gesetzliche Quote für Anwälte bei der Wahl zum Bundesverfassungsrichter – mindestens ein Anwalt pro Senat solle bestellt werden. Der größte juristische Berufsstand sei in Karlsruhe völlig unterrepräsentiert, da die freien Stellen, "bisher mit einem gewissen Automatismus an Staatsrechtslehrer" gingen. Die SZ (Wolfgang Janisch) merkt an, ein noch dichteres Quotengeflecht könne faule Kompromisse erzeugen. Es sei allerdings möglich, dass die "Richtermacher" auch ohne Quote den Ruf der Anwälte hörten.
Bekämpfung der Steuerumgehung: Als Reaktion auf die "Panama Papers" hat Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) ein Gesetz zur Bekämpfung der Steuerumgehung auf den Weg gebracht. Das Hbl (Martin Greive/Jan Hildebrand) stellt den vorliegenden Gesetzentwurf und Reaktionen darauf vor. Deutsche Steuerzahler sollen dazu verpflichtet werden, alle Geschäftsbeziehungen zu einer Briefkastenfirma im Ausland offenzulegen. Widrigenfalls drohe ein Bußgeld bis zu 50.000 Euro.
Vermögensabschöpfung: Die SZ (Kristiana Ludwig) gibt Reaktionen auf Heiko Maas' (SPD) Plan wieder, die strafrechtliche Vermögensabschöpfung zu vereinfachen. So erklärt der Verband der Insolvenzverwalter, die Strafjustiz sei heute schon zu wenig spezialisiert in Sachen Wirtschaftskriminalität. Der Deutsche Richterbund moniert, es werde "zum Pflichtprogramm für die Strafjustiz", ausgebliebene Steuer-Zahlungen und Sozialabgaben einzutreiben. Reiner Hüper von der Anti-Korruptionsorganisation Transparency International dagegen begrüßt das Gesetz ausdrücklich.
Volksentscheide: Anlässlich der Forderung des bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU), bundesweit Volksentscheide einzuführen, spricht die taz (Hannes Koch) mit Politologin Patrizia Nanz. Diese positioniert sich gegen Referenden und für Bürgerräte. Sie stellt zudem ein Konzept von Bürgergremien für die EU vor.
Bundestagssitze: Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sprach sich dafür aus, die Bundestagssitze auf 630 zu begrenzen. Auslöser war die Prognose, die Zahl der Mandate werde nach der kommenden Wahl auf über 700 steigen. Der Habilitand Sebastian Roßner erklärt auf lto.de, warum diese Rechnung realistisch und welche Wahlrechtsänderung denkbar sei.
Hessische Todesstrafe: Hessen will die Todesstrafe in der Landesverfassung abschaffen und das passive Wahlalter von 21 auf 18 Jahre senken, meldet focus.de. Dies soll zusammen mit der Landtagswahl 2018 geschehen. Die hessische Landesverfassung darf nur durch ein Referendum geändert werden.
Kinderehen: Simone Schmollack (taz) meint, die Argumente der Union für das Verbot der Kinderehen, u.a. Kinder gehörten in die Schule und nicht in die Ehe, griffen zu kurz. Sie sieht zwar bürokratischen Aufwand, plädiert aber für Einzelfallprüfungen. Denn diese würden helfen, Pauschalurteile zu vermeiden, das Kindeswohl individuell zu beurteilen und Zwangsehen herauszufiltern.
Justiz
BAG zu Krankschreibung: Ein krankgeschriebener Arbeitnehmer kann nicht dazu verpflichtet werden, an einem Personalgespräch teilzunehmen. Dies entschied das Bundesarbeitsgericht. Der Klinikkonzern Vivantes hatte einen Krankenpfleger abgemahnt, als dieser während einer längeren Krankschreibung die anberaumten Termine zur "Klärung der weiteren Beschäftigungsmöglichkeit" absagte. Die Erfurter Richter urteilten, ein Arbeitnehmer müsse nur dann im Betrieb erscheinen, wenn dies aus betrieblichen Gründen unverzichtbar sei, was hier nicht der Fall gewesen sei, melden SZ und spiegel.de. Der Professor für Arbeitsrecht Michael Fuhlrott erläutert auf lto.de die Entscheidung.
LG Berlin zu NPD-Kritik: Der Politikwissenschaftler Steffen Kailitz darf weiterhin seine Einschätzung teilen, die NPD strebe Staatsverbrechen an und plane, Millionen Menschen zu vertreiben. Das Landgericht Berlin entschied, diese Äußerungen fielen unter seine Meinungsfreiheit. Der Welt (Sven Eichstädt) liegt die Begründung vor. Die NPD müsse sich scharfe Kritik gefallen lassen, da sie selbst "an der Grenze zur Strafbarkeit" argumentiere. Die Berliner Entscheidung steht im Widerspruch zu einer Entscheidung des Landgerichts Dresden vom Mai 2016.
LG Hamburg zu Silvesterübergriffen: Das Landgericht Hamburg hat drei Angeklagte, die an Silvester ein Mädchen sexuell bedrängt haben sollen, freigesprochen. Die Vorsitzende Richterin monierte Ermittlungsfehler der Polizisten – diese hatten der Betroffenen vor der Vernehmung Fotos von den Geschehnissen gezeigt. Sie meint, das Verfahren habe gezeigt, wie leicht sich der Rechtsstaat dem Druck der öffentlichen Meinung, der Politik und der Medien beuge, meldet focus.de.
LG Ravensburg zu Feuer in Flüchtlingsunterkunft: Ein Asylbewerber muss für sieben Jahre und neun Monate in Haft, weil er eine Flüchtlingsunterkunft angezündet hat. Das Landgericht Ravensburg verurteilte ihn wegen versuchten Mordes in 26 Fällen, versuchter schwerer Brandstiftung und Körperverletzung. Er habe den Tod der Menschen billigend in Kauf genommen. Frustration über seine Lebenssituation habe ihn zur Tat bewogen, meldet spiegel.de.
LG Potsdam – Pillenhandel: Seit zwei Jahren läuft der Prozess gegen eine kriminelle Organisation, die Potenz- und Schlankheitsmittel aus Asien nach Deutschland schmuggelt und hier verkauft, vor dem Landgericht Potsdam. Die Welt (Marco Tripmaker) berichtet von der erschwerten Beweisaufnahme und analysiert, warum dieser Bereich der Kriminalität expandiere.
LG Berlin – Prostitution: Vor dem Berliner Landgericht sind eine Prostituierte und ihr Zuhälter angeklagt. Sie ist des Betrugs verdächtig, er unter anderem wegen Zuhälterei, Menschenhandel und gefährlicher Körperverletzung. Die Zeit (Ursula März) widmet dem Fall im Recht und Unrecht-Teil eine Reportage. Die Prostituierte soll einen Freier, der sich in sie verliebt hatte, durch unterschiedliche Täuschungen um mehrere Tausend Euro betrogen haben.
NSU-Mord an Polizistin: Die taz (Gareth Joswig) setzt sich in ihrer NSU-Serie mit den Ermittlungen um den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter auseinander. Während die Bundesanwaltschaft davon ausgeht, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Täter seien, hätten die LKA-Ermittlungen vier bis sechs Beteiligte ergeben. Zudem bestünden Zweifel am Motiv und daran, dass Kiesewetter ein Zufallsopfer gewesen sei.
OLG Brandenburg zu Liebesbeziehung einer Jugendlichen: Die SZ (Verena Mayer) schreibt über das Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg zur Liebesbeziehung einer 15-Jährigen mit einem 30 Jahre Älteren. Die Richter sehen ein "reflektiertes, früh gereiftes Mädchen". Daher dürfen die Eltern den Kontakt nicht untersagen. Dies würde sonst eine Kindeswohlgefährdung darstellen. Auch die FAZ (lfe.) bringt eine Meldung.
Einigung zwischen Gema und Youtube: Adrian Kreye (SZ) sieht in der Einigung von Gema und Youtube "erst einmal einen seltenen Sieg des Urheberrechts". Er analysiert den dahinter stehenden Kampf um die Machtverhältnisse in der Kultur und fragt sich, "ob und wie ein nationaler Verein namens Gema der Wirtschaftsmacht eines Weltkonzerns gewachsen ist, um nicht nur Kompromisse zu erreichen."
Recht in der Welt
China – Inhaftierte Anwälte: Bundeswirtschaftsminister Gabriel (SPD) will sich nach einem Gespräch mit neun Menschenrechtsaktivisten in China dafür einsetzen, dass dort inhaftierte Anwälte freigelassen werden. Die Betroffenen berichteten im Treffen von Folter in der Haft. In China wurden im vergangenen Jahr rund 200 regierungskritische Anwälte festgenommen, nachdem sie sich für Bürgerrechte eingesetzt hatten. Dies melden FAZ (Hendrik Ankenbrand) und Hbl (Klaus Stratmann).
Sonstiges
Bots' Recht auf Meinungsfreiheit: Haben Meinungsroboter ein Recht auf freie Meinungsäußerung? Dagegen spreche, dass Träger eines Grundrechts nach hier herrschender Auffassung nur Personen sein können – wenn dies in den USA auch kein Kriterium sei. Dafür spreche, dass Internetkonzerne Zensur über ihre Algorithmen betrieben. Adrian Lobe (Die Zeit) schließt: Es ist besser, "Algorithmen Pflichten aufzuerlegen, bevor diese bestimmen, was als Meinung überhaupt gelten darf."
Zivilcourage: Heribert Prantl (SZ) lobt den Einsatz von Steffi Brachtel, die den Preis für Zivilcourage erhalten hat. "Der Widerstand gegen die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit der Überwindung der eigenen Angst. Das ist wichtig für den Rechtsstaat, die Demokratie – und für die Selbstachtung."
Sächsische Landtagswahl: War die sächsische Landtagswahl 2014 ungültig? Dieser Frage geht nicht nur der Wahlprüfungsausschuss des Landtags, sondern auch Rechtsanwalt Jens Milker auf juwiss.de nach. Der AfD-Parteivorstand hatte Arvid Samtleben von der Parteiliste gestrichen, nachdem die Mitgliederversammlung ihn als Listenkandidat gewählt hatte. Milker meint, die Landtagswahl sei nicht vollständig für ungültig zu erklären. Der Gesetzgeber könne allerdings dazu angehalten sein, Sanktionen für solche Maßnahmen einzuführen.
EU-Austritt: "Why all Member States should clarify their Constitutional Requirements for Withdrawing from the EU." In einem englischsprachigen Beitrag erläutert Oliver Garner für verfassungsblog.de anlässlich des Brexit, warum alle EU-Mitgliedsstaaten in ihren Verfassungen prozessuale Regelungen für einen etwaigen EU-Austritt schaffen sollten.
Das Letzte zum Schluss
Betrunkene Bewerbung: Betrunken und nachts kommen Bewerbungen wohl nie gut an. Erst recht nicht auf einem Polizeipräsidium. Sehr fraglich also, was sich eine 25-jährige Autofahrerin gedacht haben mag, als sie um 2 Uhr betrunken in Göppingen einen Polizisten ansprach, um sich zu bewerben. Statt eines Bewerbungsbogens erhielt sie einen Atemalkoholtest; mit 2 Promille durfte sie dann gleich ihren Führerschein dort lassen. Ob sie sich weiterhin bewerben will, sei unklar, so justillon.de.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 3. November 2016: Böhmermann vs. Erdogan / Quotenanwalt am BVerfG? / Meinungsfreiheit für Bot? . In: Legal Tribune Online, 03.11.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21025/ (abgerufen am: 04.07.2024 )
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