Bundesrichter Thomas Fischer beschreibt den "Flohzirkus" der Juristenausbildung. Außerdem in der Presseschau: Kritik an bayrischer Schleierfahndung, Rechtsberatung durch künstliche Intelligenz und ein Knöllchen für Kunst.
Thema des Tages
Die Juristenausbildung – ein "Flohzirkus"? Der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer bringt in seiner Kolumne auf zeit.de einen "kurzen Lehrgang zu Geburt, Aufzucht und Wesen des Strafrichters". Mit einem kritischen Blick beschreibt er den "Flohzirkus" der Juristenausbildung in Etappen vom ersten Semester bis hin zum Studienerfolg und lässt dabei auch Ratschläge für angehende Juristen einfließen.
Rechtspolitik
Bayrische Schleierfahndung: Die SPD billigt die Vorratsdatenspeicherung, Bayern will die Schleierfahndung verstärken – Heribert Prantl (SZ) zeigt für beides kein Verständnis. Bayern sieht das Vorhaben als Konsequenz aus den erfolgreichen Sonderkontrollen anlässlich des G7-Gipfels, bei denen die Polizeibeamten einige Verdächtige erfassten. Prantl hingegen meint: "Diese Schleierfahndung ist ein Konzept zur Banalisierung der Grundrechte". Die "verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrolle" ("vulgo Gesichtskontrolle") bedeute, dass jeder "jederzeit polizeipflichtig" ist.
Berufungsverhandlung ohne Angeklagten: Der Bundestag beschloss vergangene Woche die Änderung von § 329 der Strafprozessordnung. Künftig soll eine Berufung nicht verworfen werden, wenn der Angeklagte der Verhandlung unentschuldigt fern bleibt, solange ein von ihm bevollmächtigter Verteidiger anwesend ist. bella-ratzka.de weist kurz auf diese Änderung des Strafprozessrechts hin. Der Gesetzgeber erleichterte zudem die sogenannte "Heimathaft".
Bettelverbot für Kinder: Der Berliner Senat plant das Betteln von Kindern und im Beisein von Kindern als Ordnungswidrigkeit zu ahnden. Die taz (Stefan Alberti) erläutert im Berliner Teil den Verordnungsentwurf. Die erste Abstimmungsrunde der Landesregierung habe diesen bereits begrüßt. Oppositionspolitiker hingegen monierten, dass die Einführung eines Bußgelds nicht dazu beitrage, das Problem bettelnder Kinder zu lösen.
EU-Datenschutzverordnung: Ab dem heutigen Mittwoch beginnen die Verhandlungen über die EU-Datenschutzverordnung. Die taz (Svenja Bergt) sammelt die gegen den bisherigen Entwurf der EU-Justiz- und Innenminister vorgebrachten Kritikpunkte.
Justiz
EuGH - "AGG-Hopping": Das Bundesarbeitsgericht hat vergangene Woche dem Europäischen Gerichtshof einen "AGG-Hopping"-Fall zur Vorabentscheidung vorgelegt. Anlässlich der Vorlage erklärt der Rechtsanwalt Martin Diller in der FAZ die Vorgehensweise von "AGG-Hoppern". Insbesondere die Beweislastumkehr bei Diskriminierungen im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes sowie die Kostenregelungen der Arbeitsgerichtsbarkeit machten das "AGG-Hopping" attraktiv.
OLG München – NSU: Am 212. Verhandlungstag sagte ein Zeuge des Überfalls auf einen Chemnitzer Supermarkt im Jahr 1998, welcher dem NSU-Trio angelastet wird, aus. Dieser gab an, den Tätern gefolgt zu sein, bis sie auf ihn schossen; allerdings könne er sie nicht eindeutig identifizieren. Die Stimme eines Täters sei "hoch und hell" gewesen. Der Zeuge gab zudem an, drei Täter gesehen zu haben – die Bundesanwaltschaft ging bislang davon aus, dass Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Tat zu zweit begangen haben. Die Verhandlung wurde wegen Zahnschmerzen der Hauptangeklagten Beate Zschäpe vorzeitig beendet, so spiegel.de (Björn Hengst).
StA Berlin – Ahmad Mansour: Unter dem Titel "Schlamperei oder Komplott" legt die taz (Christian Rath) dar, welche Informationen den Regierungsstellen zu Ahmad Mansour vorlagen und prüft etwaige Fehler, denen sie wohl im Hinblick auf dessen Festnahme unterlagen. Die Anwälte Mansours erklärten, sie könnten die Festnahme juristisch nachvollziehen, sähen es allerdings kritisch, dass in Deutschland überhaupt nach ihrem Mandanten gefahndet wurde. So hatte Interpol den Haftbefehl zwar weitergeleitet, allerdings zeitnah erklärt, dass das Fahndungsersuchen Ägyptens gegen das Verbot der politischen Strafverfolgung verstoße – diese Information lag auch deutschen Ämtern vor. Auch die SZ (Nico Fried/Ronen Steinke) befasst sich mit der Festnahme Mansours. Dieser mutmaße, dass politische Motive seine Festnahme bedingt haben. Die Bundesregierung hingegen habe erklärt, dass es vor der Inhaftierung keinen Kontakt mit ägyptischen Behörden und keinen Grund gab, eine politische Verfolgung Mansours zu vermuten. Mansours Anwälte betonten, die juristische Prüfung nach der Festnahme sei "schnell, angemessen und korrekt verlaufen", so die SZ.
Christian Rath (taz) konstatiert, die Festnahme Mansours sei entweder auf "systemische Probleme im deutschen Fahndungs- und Auslieferungsrecht" zurückzuführen oder auf die "Willfährigkeit gegenüber der ägyptischen Regierung". Angesichts der Unterlagen, die den deutschen Regierungsstellen vorlagen, sei es "mit den Händen zu greifen" gewesen, dass es sich um eine politische Strafverfolgung handelte. Besonders bedenklich, sei, dass Mansour bis vergangenen Samstag unbehelligt in Deutschland ein- und ausreisen konnte – dies weise darauf hin, dass es sich bei der Festnahme nicht um einen "Automatismus" gehandelt haben kann. In einem Videobeitrag erklärt Heribert Prantl (süddeutsche.de), welche Lehren aus der Festnahme Mansours zu ziehen sind. Der Fall habe die "eklatanten Schwächen des internationalen Strafrechts" aufgezeigt. Prantl betont, Deutschland hätte den Haftbefehl nicht vollziehen müssen.
Jahrestagung von OLG, KG und BGH: Die FAZ (Reinhard Müller) informiert anlässlich der 67. Jahrestagung der Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts sowie des Bundesgerichtshofs darüber, welche Maßnahmen diese sich zur Verbesserung der deutschen Justiz vorstellen könnten. Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte war ebenso Thema, wie eine Strafrechtsreform, die das Strafverfahren optimiert und "praxistauglicher" gestaltet.
"Roboterjurist": Könnte künstliche Intelligenz die Rechtsberatung durch Anwälte ersetzen? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Rechtsanwältin Susanne Reinemann auf anwaltskommunikation.de.
Recht in der Welt
Europarat zu Snowden: Der Europarat wandte sich mit der Forderung an die USA, dem US-Informanten Snowden eine "Rückkehr ohne Furcht" zu ermöglichen. Er solle bei seiner Verteidigung vor Gericht das "öffentliche Interesse" an den preisgegebenen Informationen geltend machen dürfen. Snowden droht in den USA eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Geheimnisverrats, meldet die SZ.
Frankreich – Geheimdienstgesetz: Am heutigen Mittwoch soll das französische Parlament über das Geheimdienstgesetz abstimmen. Die SZ (Christian Wernicke) beschreibt die Regelungen des "Patriot Act à la francaise", dessen Kritiker unter anderem rügen, dass nicht mehr die Gerichte die Überwachungen kontrollieren sollen, sondern eine spezielle Kontrollkommission.
Großbritannien – Festnahme des ruandischen Geheimdienstchefs: Britische Beamte haben den ruandischen Chef des Geheimdienstes Karenzi Karake in London festgenommen. Die Behörden betonten, dass sie aufgrund eines Haftbefehls eines spanischen Richters aus dem Jahre 2008 zur Verhaftung verpflichtet waren. Dieser wirft Karake vor, sich bei Vergeltungsmassakern an den Hutus in den Jahren 1994 und 1997 beteiligt zu haben, bei denen auch neun spanische Staatsbürger ums Leben kamen. Der Vorwurf gelte als "höchst umstritten", da er auf ungeprüften Aussagen anonymer Exilanten beruhe. Die Welt (Christian Putsch) und die taz (Simone Schlindwein/Dominic Johnson) schildern den Fall.
Ungarn – Dublin-III-Verordnung: Ungarn hat die Dublin-III-Verordnung teilweise ausgesetzt und will entgegen der darin geregelten Rücknahmeverpflichtung Flüchtlinge, die nach Nordeuropa weitergereist sind, nicht aufnehmen, schreibt die FAZ (Stephan Löwenstein). Der Regierungssprecher gab als Begründung an, Ungarns Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen seien ausgeschöpft; die Maßnahme verstoße auch nicht gegen internationales Recht.
Sonstiges
Solidarität im Flüchtlingsrecht: Anlässlich des Weltflüchtlingstages kritisieren die wissenschaftlichen Mitarbeiter Sarah Rödiger und Felix Würkert auf juwiss.de den Flüchtlingsbegriff und monieren, die Abwehr von Flüchtlingen sei die "falsche Lösung". Die Solidarität als völkerrechtliches Prinzip böte eine Lösung bei der rechtlichen Behandlung von Flüchtlingen.
Mindestlohn – Scheinselbstständigkeit: Die SZ (Thomas Öchsner) berichtet, wie Arbeitgeber unzulässigerweise Arbeitnehmer als Selbstständige tarnen, indem sie "Scheingesellschaften" bürgerlichen Rechts gründen. Die Umgehung des Mindestlohns stelle einen weiteren Anreiz für Arbeitgeber dar, um Scheinselbstständige zu beschäftigen. Die GbR-Gründungen haben, laut Zollgewerkschaft, nach der Einführung des Mindestlohns zugenommen.
Das Letzte zum Schluss
Knöllchen für Kunstwerk: Ein kommunaler Ordnungsbeamter der Stadt Karlsruhe verpasste vergangenen Freitag einem Kunstwerk von Erwin Wurm – einem an die Wand gelehnten Transporter – ein Knöllchen. Der drollige Beamte erklärte im Interview mit der SZ (Martin Zips), er wollte den Menschen "einfach nur ein Lächeln ins Gesicht zaubern".
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 24. Juni 2015: "Flohzirkus" Juristenausbildung – Kritik an Schleierfahndung – Knöllchen für Kunst . In: Legal Tribune Online, 24.06.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15968/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
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