Dashcamaufnahmen als Beweismittel? Geht in bestimmten Fällen, meint das OLG Stuttgart. Außerdem in der Presseschau: Reaktionen auf einstweilige Verfügung gegen Böhmermann, Fischer bewertet Mordreform und OMT-Urteil kommt wohl Ende Juni.
Thema des Tages
OLG Stuttgart zu Dashcamaufnahmen: In Fällen schwerwiegender Verkehrsordnungswidrigkeiten hält es das Oberlandesgericht Stuttgart grundsätzlich für zulässig, Dashcamaufnahmen anderer Verkehrsteilnehmer als Beweismittel heranzuziehen. § 6b Absatz 3 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes enthalte kein Beweisverwertungsverbot für Straf- und Bußgeldverfahren, so das Gericht. Daher ergebe sich aus einem (möglichen) Verstoß gegen die Vorschrift nicht zwingend eine Unverwertbarkeit der Aufnahme. Das zuständige Gericht müsse daher unter Abwägung der widerstreitenden Interessen darüber entscheiden, ob es die Videoaufnahmen als Beweismittel zulassen könne. Bei dem Beschluss handelt es sich um die erste obergerichtliche Entscheidung zu dieser Frage, berichten BadZ (Christian Rath), spiegel.de und sz.de. Laut MDR kritisiert der Deutsche Anwaltverein das Urteil – "das ständige Filmen von unbescholtenen Bürgern verletzt deren Rechte".
Rechtspolitik
Reform der Tötungsdelikte: Der Vorsitzende Richter am 2. Strafsenat des BGH Thomas Fischer befasst sich für die Zeit mit dem Referentenentwurf zur Reform der vorsätzlichen Tötungsdelikte. Er erläutert die Hintergründe der Reform von Mord und Totschlag, die geplanten Neuregelungen und gibt eine vorläufige Bewertung ab. Ein "großer Wurf" werde es nicht – insbesondere aus der Sicht derer, die sich ein "grundlegendes neues Durchdenken der StGB-Systematik erhofft haben"; er begrüßt allerdings die sprachliche Modernisierung.
Separat stellt Fischer dar, wie die künftigen §§ 211 und 212 Strafgesetzbuch aussehen könnten.
Flüchtlinge in Kommunen: Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, und die Europaparlamentsabgeordnete Maria João Rodrigues haben einen Plan für einen neuen Verteilmechanismus vorgebracht: Die EU solle sich nicht an die einzelnen Staaten, sondern direkt an die Kommunen wenden. Diese sollen sich bei der EU um die finanzielle Unterstützung für die Unterbringung der Flüchtlinge bewerben. Die Zeit (Caterina Lobenstein) stellt die Verteilungsidee vor.
Unfall-Gaffer: Jost Müller-Neuhof (Tsp) fragt sich, wie eine Reform des (wohl für die meisten Video-Gaffer unbekannten) § 201a Strafgesetzbuch Gaffern Grenzen aufzeigen solle. Mehr Erfolg verspricht er sich von dem Plan, das Behindern der Rettungsarbeiten zu kriminalisieren; mahnt allerdings, dass der geplante § 115 Strafgesetzbuch entsprechend beworben werden müsste. "Das wäre etwas, das jeder kapiert."
TTIP: Im Interview mit der taz (Eric Bonse) spricht der Europaabgeordnete Bernd Lange (SPD) über die TTIP-Leaks, den Stand der Verhandlungen und die TTIP-Resolution des Europaparlaments. Einen Ausblick auf ein Verhandlungsende wollte er nicht geben: "Sicherheit vor Schnelligkeit".
Schiedsgerichte: Der Zeit (Pin - Zusammenfassung) liegt ein informelles Papier vor, demzufolge die Bundesregierung zusammen mit vier anderen EU-Mitgliedsstaaten dafür plädiere, dass alle EU-Staaten ein Schutzabkommen abschließen, welches Investoren ein Schiedsgerichtsverfahren in innereuropäischen Streitfällen ermögliche. Dieser Vorstoß konterkariere die Politik der EU-Kommission; diese will privaten Schiedsgerichten die Zuständigkeit für innereuropäische Fälle versagen. Sigmar Gabriel (SPD) hatte sich zuvor dafür eingesetzt, einen internationalen Gerichtshof zu etablieren.
Justiz
LG Hamburg zu Böhmermann: Nachdem das Landgericht Hamburg Jan Böhmermann verbot, große Teile seines Gedichts erneut vorzutragen, hat dessen Anwalt Christian Schertz beantragt, dass das Gericht Erdogan eine vierwöchige Frist zur Klageerhebung in der Hauptsache setzt. Wenn dieser nun keine Klage einreicht, könne die Verfügung verfallen. Notfalls wolle Schertz bis vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, denn die Verfügung sei "eklatant falsch", melden focus.de und zeit.de.
Die FAZ (Hendrik Wieduwilt) gibt die Entscheidung des Landgerichts von vergangenem Dienstag wieder. Der Beitrag betont, die Entscheidung wirke sich nur zwischen den Parteien aus, und er weist zudem darauf hin, dass das Gericht neben der Pressemitteilung auch eine Version des Gedichts veröffentlichte, in der die verbotenen Stellen markiert sind.
Reinhard Müller (FAZ) hält es für möglich, dass das Strafverfahren gegen Böhmermann ähnlich endet. Einen in Satire verpackten Angriff auf andere Grundrechte decke die Verfassung nicht mehr. Medienrechtler Karsten Gulden (infodocc.info) hält das Gedicht für gänzlich unzulässig und meint, das Gericht habe mit der unterschiedlichen Beurteilung einzelner Teile eine klare Entscheidung verpasst. So schaffe das LG keine Rechtssicherheit und mache die "im Ergebnis zu großen Teilen richtige Entscheidung" angreifbar.
Nachlese zu Böhmermann: focus.de (Michael Voltz) skizziert den bisherigen Verlauf des Falls Böhmermann und prüft, ob der Satiriker sich strafbar gemacht hat. Dabei komme es auf eine Abwägung der Grundrechte Erdogans und Böhmermanns und letztlich darauf an, ob das Gedicht Erdogan in seiner Menschenwürde verletze, wofür vieles spräche. Es sei richtig, dass das LG Hamburg die Abwägung für jede Zeile des Gedichts vorgenommen hat.
"Weshalb wurde der Antrag in Hamburg entschieden?" - "Warum wurden nur bestimmte Teile verboten?" - "Welche Auswirkungen hat die Verfügung auf die Strafverfahren gegen Böhmermann?" zeit.de (Ludwig Greven) beantwortet Fragen rund um die einstweilige Verfügung des Landgerichts.
LG Hamburg als "fliegender Gerichsstand": Udo Vetter (lawblog.de) erläutert, warum Unterlassungsklagen wegen Ehrverletzungen häufig vor dem Landgericht Hamburg landen. "Das Landgericht Hamburg gilt als die sicherste Bank, wenn es darum geht, im Äußerungsrecht für die Kläger zu entscheiden. Also im Ergebnis gegen die Meinungsfreiheit." Dies erlaube eine Ausnahme des Zivilprozessrechts, der "fliegende Gerichtsstand". Diese Regelung sowie das "Hamburger Monopol" gehörten "auf den Prüfstand", so Vetter.
VG Berlin zu veganem Schulessen: Das Verwaltungsgericht Berlin hat den Antrag auf Prozesskostenhilfe eines Vaters, der veganes Schulessen für seine Tochter einklagen wollte, abgelehnt. Er argumentierte, die ethischen Gründe für die Diät stünden religiösen und gesundheitlichen Gründen gleich, berichtet lawblog.de (Udo Vetter). Das Gericht verweist hingegen auf die Möglichkeit des Mädchens, sich eigenes Essen mitzubringen.
"Der Staat garantiert die Freiheit, eigenen Bedürfnissen nachzugehen – aber stillen muss er sie nicht." Jost Müller-Neuhof (Tsp) begrüßt die Berliner Entscheidung: Nicht nur praktische Gründe sprächen dagegen, dass die Schule besondere Essenswünsche berücksichtige. Hinzu komme, dass die Kinder weder gezwungen werden, eine Ganztagsschule zu besuchen, noch werden sie dort zwangsernährt.
LG Dresden zu Kritik an der NPD: Die Zeit (DZ) moniert, die einstweilige Verfügung des Landgerichts Dresden gegen den Wissenschaftler Steffen Kailitz wegen seiner NPD-Kritik sei rechtswidrig. Dass die Kammer dem Einzelrichter Jens Maier die Sache übertrug, verstoße gegen die Zivilprozessordnung und letztlich auch gegen das Grundgesetz. Zudem betont der Beitrag, dass Maier Mitglied der AfD Sachsen ist. Der Anwalt der Zeit (zeit.de hatte Kailitz' Stellungnahme veröffentlicht) hat die Aufhebung der einstweiligen Verfügung und die Abweisung des Unterlassungsantrags beantragt. Auch SZ (Heribert Prantl) und taz (Sabine am Orde) greifen den Fall auf, der laut Kailitz' Anwalt ein "echter Justizskandal" sei. Die FAZ (Helene Bubrowski/Justus Bender) gibt neben der Position Kailitz' Anwalts (Kritik als wissenschaftliches Forschungsergebnis) auch den NPD-Anwalt Peter Richter wieder (NPD-Kritik als eigene Bewertung).
BVerfG - OMT: Das Bundesverfassungsgericht wird am 21. Juni sein Urteil zum OMT-Programm der EZB verkünden. Der Europäische Gerichtshof hatte auf Vorlage aus Karlsruhe hin entschieden, dass die EZB innerhalb ihrer währungspolitischen Kompetenz handele. Dessen Prüfung ist allerdings auf EU-Recht begrenzt, daher bestehe insbesondere die Frage, wie das BVerfG mit Blick auf die Identitätskontrolle urteilen werde, meldet die FAZ (hw.).
Recht in der Welt
USA - 9/11-Klagen gegen Saudi-Arabien: Der US-Senat hat für einen Gesetzentwurf gestimmt, der es betroffenen Familien der 9/11-Opfer ermöglichen soll, gegen Saudi-Arabien zu klagen. Das geplante Gesetz soll die Immunität der Staaten aufheben, die in den Terroranschlag involviert sein sollen. Das Repräsentantenhaus muss dem Gesetzentwurf noch zustimmen – Präsident Barack Obama hat sein Veto angekündigt, meldet spiegel.de.
Mexiko - gleichgeschlechtliche Ehe: Mexiko plant, die gleichgeschlechtliche Ehe einzuführen. Präsident Nieto will eine entsprechende Verfassungsänderung in den Kongress einbringen, melden spiegel.de und zeit.de. Er will "Diskriminierung verhindern und gleiche Rechte für alle sicherstellen".
Türkei - Immunität: Am kommenden Freitag will das türkische Parlament darüber abstimmen, ob die Verfassung geändert werden soll, damit 138 Abgeordnete ihre Immunität verlieren. Betroffen davon wären insbesondere Parlamentarier der prokurdischen HDP – laut Erdogan seien sie der "verlängerte Arm der PKK im Parlament". Eine Probewahl ging zugunsten der Aufhebung aus. focus.de beantwortet die wichtigsten Fragen rund um die Abstimmung.
Türkei – Abkommen mit der EU: Die Zeit (Martin Klingst/Michael Thumann) erläutert den Streit zwischen EU und Türkei rund um das Flüchtlingsabkommen, Erdogans Position und mögliche Beweggründe und präsentiert einen Kompromissvorschlag, der gewährleistete, dass der Flüchtlingspakt nicht scheitert.
Italien - Amanda Knox: Amanda Knox verklagt Italien vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, meldet die SZ (OM). Die Beamten hätten sie bei den Ermittlungen um den Mord an der Studentin Meredith Kercher ohne Verteidiger und Dolmetscher verhört und geohrfeigt. Ihr Anwalt gibt an, sie sei unmenschlich und entwürdigend behandelt worden; die Beamten hätten gegen das Folterverbot verstoßen.
Sonstiges
Carl Schmitts Glossarium: In ihrem Feuilleton rezensiert die Zeit (Alexander Cammann) die kommentierte Neuauflage von Carl Schmitts Glossarium und unterstreicht dessen Bedeutung. Das Denktagebuch erscheint nun erstmals komplett. In seinem Glossarium gebe Schmitt "seinen Ressentiments gegen die Emigranten und Alliierten freien Lauf und stilisierte sich als Opfer einer neuen Verfolgung".
Datenaustausch mit FBI: Deutschland wird dem FBI Grunddaten über bekannte und mutmaßliche Terroristen übermitteln und entsprechende Informationen von den USA erhalten. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat mit der amerikanischen Justizministerin eine Vereinbarung unterzeichnet, die regelt unter welchen Bedingungen die Datenweitergabe erfolgen soll. Deutsche Datenschutzbestimmungen würden eingehalten. Die FAZ (Andreas Ross) wirft tatsächliche und rechtliche Fragen rund um die Vereinbarung auf.
Prominentenstrafrecht: Der Verband Deutscher Strafverteidiger hat die Dissertation des Strafrechtlers Fabian Meinecke zum Thema Prominentenstrafrecht ausgezeichnet. Im Interview mit lto.de (Pia Lorenz) spricht Meinecke über die Gründe für seine Forschung, seine Vorgehensweise, den "Spießrutenlauf" angeklagter Prominenter und die Ergebnisse seiner Arbeit.
Mietpreisbremse: Im Interview mit zeit.de (Bastian Brauns) erklärt der Justiziar des Deutschen Mietschutzbundes, Norbert Eisenschmid, rechtliche und tatsächliche Lücken der Mietpreisbremse. Um die Rechte der Mieter zu stärken, schlägt er etwa vor, Vermieter zu verpflichten, auch rückwirkend die überhöhte Miete zurückzuzahlen.
Die correctiv-Reporter Matthias Bolsinger und Benedict Wermter weisen in einem taz-Gastbeitrag anhand von Beispielfällen darauf hin, dass die Mietpreisbremse nicht funktioniere. Sie beschreiben zudem Fälle, in denen Vermieter die Rechte ihrer Mieter aushebelten.
NSU-U-Ausschuss: Der NSU-Untersuchungsausschuss plant, aufzuklären, inwieweit der frühere V-Mann Ralf "Primus" Marschner im NSU involviert war. Zweifel an dessen Aussage, er habe den NSU nur aus den Medien gekannt, ergaben sich unter anderem, nachdem Zeugen angaben, Mundlos habe in Marschners Baufirma gearbeitet, meldet die taz (Konrad Litschko).
Negativzinsen: Die BadZ (Christian Rath) geht der Frage nach, ob Negativzinsen für Spar-, Giro- und Termingeld-Einlagen zulässig sind. Nach Angaben von Experten verstoßen Negativzinsen für bestehende Verträge gegen § 488 BGB, können aber für zukünftige Verträge eingeführt werden.
Beiträge, die in der Presseschau nicht verlinkt sind, finden Sie nur in der Printausgabe oder im kostenpflichtigen E-Paper des jeweiligen Titels.
Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/vb
Was bisher geschah: zu den Presseschauen der Vortage.
Die juristische Presseschau vom 19. Mai 2016: Dashcams als Beweismittel / Fischer zu Mordreform / OMT-Urteil Ende Juni . In: Legal Tribune Online, 19.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19411/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
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