Trotz massiver Zweifel am polnischen Rechtssystem dürfen andere Mitgliedstaaten nicht einfach die Vollstreckung eines EHB ausschließen. Sie müssen im Einzelfall prüfen, ob die gesuchte Person ein faires Verfahren bekommt.
EU-Staaten dürfen ungeachtet wachsender Zweifel an der Unabhängigkeit der polnischen Justiz kein generelles Auslieferungsverbot verhängen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied am Donnerstag, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (EHB) weiterhin nur dann verweigert werden darf, wenn der betroffenen Person tatsächlich ein unfaires Verfahren droht (Urt. v. 17.12.2020, Az. C-354/20 PPU und C-4412/20 PPU). Dies muss im Einzelfall geprüft werden.
Schon vor zwei Jahren hatte der EuGH betont, dass die Justizbehörden sorgfältig prüfen müssen, ob ein von Polen ausgestellter EHB vollstreckt werden darf (Urt. v. 25.07.2018, Az. C-216/18 PPU). Die Luxemburger Richter stellten damals klar, dass angesichts der Reformen des polnischen Justizsystems die Gefahr bestehe, dass eine gesuchte Person in Polen kein faires Verfahren erhalte. Allerdings reiche eine abstrakt-generelle Prüfung nicht aus, die jeweilige Justizbehörde des um Auslieferung ersuchten Mitgliedstaats müsse prüfen, ob sich die Mängel im polnischen Justizsystem auch in dem konkreten Fall auswirken.
Angesichts anhaltender Zweifel an der Unabhängigkeit der polnischen Justiz wollte nun ein Amsterdamer Gericht vom EuGH wissen, ob es überhaupt noch einer Einzelfallprüfung bedarf - oder ob darauf verzichtet werden kann, wenn zuvor festgestellt wurde, dass grundsätzlich eine "reelle Gefahr" eines unfairen Verfahrens besteht, weil die polnischen Gerichte "aufgrund systemischer und allgemeiner Mängel nicht mehr unabhängig sind". Der EuGH verlangt jedoch weiterhin eine Einzelfallprüfung. Allgemeine Mängel an der Unabhängigkeit der Gerichte in Polen reichten nicht aus, um generell keine polnischen EHB mehr zu vollstrecken, so die Luxemburger Richter.
Weiter Zweifel an der Unabhängigkeit der polnischen Gerichte
Die Justizreformen der national-konservativen Regierung in Warschau haben bereits zu einer ganzen Reihe von Klagen vor dem EuGH geführt. Besonders umstritten sind Regelungen zum Disziplinarsystem für Richter und Staatsanwälte. So wies der EuGH zwar im März dieses Jahres zwei Vorabentscheidungsgesuche polnischer Gerichte dazu ab, formulierte aber dennoch eine deutliche Warnung an die polnische Justiz (Urt. v. 26.03.2020, Az. C-558/18 u. C-563/18).
Am Donnerstag legte zudem der EuGH-Generalanwalt Evgeni Tanchev ein Gutachten vor, in dem es um ein Gesetz geht, das die gerichtliche Überprüfung von Richterernennungen am Obersten Gericht Polens erschweren soll. Der Generalanwalt kommt zu dem Schluss, dass das Gesetz gegen EU-Recht verstößt (Schlussanträge des Generalanwalts v. 17.12.2020, Az:C-824/18 A.B. u.a.). Ein Urteil in dem Fall wird nun in der ersten Hälfte des kommenden Jahres erwartet. Der EuGH ist an die Empfehlungen des Generalanwalts nicht gebunden, folgt ihnen jedoch häufig.
aka/LTO-Redaktion/dpa
EuGH zur Unabhängigkeit polnischer Gerichte: . In: Legal Tribune Online, 17.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43767 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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