Wenn Strafsenate pauschale Mitschreibeverbote in der Hauptverhandlung verhängen, sei das eine unzulässige Beschränkung des Öffentlichkeitsgrundsatzes, meint Katrin Wick. So hätten nicht nur Journalisten gute Gründe, sich Notizen zu machen.
"Zuschauern ist das Mitschreiben in der Verhandlung grundsätzlich nicht gestattet." Derartige Anordnungen las man zuletzt regelmäßig in sitzungspolizeilichen Bekanntmachungen im Vorfeld erstinstanzlicher Hauptverhandlungen vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt am Main. Das Mitschreibeverbot gilt dabei nicht nur für die interessierte Öffentlichkeit, sondern auch für Prozessbeobachter aus Kanzleien – etwa zur Unterstützung der Verteidigung – und auch für Vertreter von Menschenrechtsorganisationen. Ausnahmen hiervon lässt das Gericht allenfalls nach begründeter Antragstellung im Einzelfall zu.
Begründet werden diese pauschalen Mitschreibeverbote regelmäßig mit einer allgemeinen Gefährdung der Wahrheitsfindung. Aber sind sie auch zulässig?
In komplexen Strafverfahren, wie beispielsweise in den Cum/Ex-Prozessen, aber auch in anderen Verfahren aus dem Bereich der "klassischen Wirtschaftskriminalität", kann es notwendig sein, sich als Verteidiger eines anderweitig Verfolgten über den Gang einer früheren oder parallellaufenden Hauptverhandlung zu informieren. Dabei sind insbesondere Einlassungen der Angeklagten, Aussagen der Zeugen sowie das Verhalten der Staatsanwaltschaft in den Blick zu nehmen. Wichtig sind jedoch auch Kenntnisse zu rechtlichen Einschätzungen, insbesondere in Verfahrenskomplexen, in denen die Rechtslage noch nicht hinreichend geklärt ist (etwa bei Cum/Ex) Insbesondere in Umfangsverfahren stellen eingesetzte Prozessbeobachter zur Unterstützung der Verteidigung regelmäßig ein nur schwer verzichtbares "Hilfsmittel" dar.
(Handschriftliche) Mitschriften müssen erlaubt sein
Der in § 169 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) normierte Grundsatz der Öffentlichkeit einer Gerichtsverhandlung ist in jedem Strafprozess zwingend zu wahren und dient historisch betrachtet primär der Kontrolle der Rechtsprechung. Daneben hat das Schutzgut des Öffentlichkeitsgrundsatzes jüngst aber auch immer mehr hin zu einem Informationsinteresse der Allgemeinheit entwickelt, welches sodann durch Medienvertreter in den Sitzungssälen gewährleistet und umgesetzt wird.
Das Recht der übrigen Zuschauer, eine Gerichtsverhandlung (handschriftlich) zu protokollieren, ist in der Strafprozessordnung (StPO) nicht geregelt. Im Zusammenspiel mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz ist es Zuschauern grundsätzlich aber als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) erlaubt, Mitschriften anzufertigen. Eine Einschränkung dessen bedarf einer Rechtfertigung, die gesetzlich normiert oder explizit anhand eines konkreten Einzelfalls begründet sein muss.
Gefährdung der Wahrheitsfindung?
Generell wird das Gebot der strafprozessualen Wahrheitsfindung aus § 244 Abs. 2 StPO durch Mitschriften in der Hauptverhandlung nicht verletzt. Insofern sind pauschale Mitschreibeverbote unzulässig. Nach verbreiteter Ansicht, die auch der Bundesgerichtshof (BGH) teilt (Urt. v. 13.5.1982, Az. 3 StR 142/82), müsse allerdings dann etwas anderes gelten, wenn konkrete Tatsachen darauf hinweisen, dass wartende Zeugen unzulässigerweise informiert oder gar beeinflusst werden sollen. Auch soll verhindert werden, dass sich ein Tatbeteiligter, gegen den noch gesondert ermittelt wird, mit Details über ein laufendes Strafverfahren versorgen lässt. Doch auch in solchen Konstellationen sind pauschal und für alle Zuschauer geltende Mitschreibeverbote nicht das adäquate Mittel.
Soll z.B. eine vorzeitige Information eines anderen Beschuldigten durch die Hauptverhandlung verhindert werden, könnte die Staatsanwaltschaft entsprechend aktiv werden. Durch die Möglichkeit der Verfahrensverbindung, die Wahl des Anklagezeitpunktes oder eine Benennung als Zeugen, ist es hier durchaus durch prozesstaktische Erwägungen möglich, eine Beeinflussung der Wahrheitsfindung zu vermeiden. Ein Rückgriff auf pauschale Mitschreibeverbote bedarf es dann jedenfalls nicht.
Mitschreibeverbote als sitzungspolizeiliche Maßnahme?
Ob Anlass für eine sitzungspolizeiliche Maßnahme "zur Aufrechterhaltung der Ordnung" nach § 176 GVG besteht, unterliegt regelmäßig dem pflichtgemäßen Ermessen des Vorsitzenden. Sitzungspolizeiliche Anordnungen, die der Durchführung und Gewährleistung eines geordneten Verfahrens dienen, sind dabei Ausfluss unabhängiger richterlicher Gewalt.
Als sitzungspolizeiliche Maßnahme zur Verhinderung der Weitergabe von Informationen zum Verhandlungsablauf und den Aussagen Einzelner, kommt neben dem Verbot des Ausschlusses einzelner Zuhörer als ultima ratio auch ein Verbot der Anfertigung von Mitschriften in Betracht. Ein solches Verbot ist aber zwingend an den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit orientiert zu verhängen. In der Konsequenz muss zwischen singulären Mitschreibeverboten gegen einen bestimmten Zuschauer aufgrund einer Verdachtslage und dem pauschalen Verbot im Vorfeld des Prozessbeginns für jeden interessierten Zuschauer differenziert werden.
Differenziert werden muss zudem zwischen handschriftlichen und "elektronischen" Mitschriften. Mangels ausreichender Kontrollmöglichkeiten durch das Gericht, ob beim Einsatz eines Laptops oder Tablets zugleich Bild- oder Tonaufnahmen angefertigt werden, darf vom vorsitzenden Richter wegen § 169 Abs. 1 Satz 2 GVG aber die Verwendung von Geräten mit Mikrofon und Kamera untersagt werden. Ob ein solches Verbot im Vorfeld der Hauptverhandlung pauschal allen Zuschauern gegenüber verhängt werden darf, ist umstritten und bislang mangels entsprechender Rechtsprechung nicht entschieden.
Effektive Strafverteidigung fordert Mitschriften in der Hauptverhandlung
Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) folgend, kann die Möglichkeit, Aussagen gründlich zu dokumentieren, für Verfahrensbeteiligte ein wichtiger Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EGMR und Ausdruck strafprozessualer Waffengleichheit sein.
Gerade in komplexen Strafverfahren, wie etwa im Wirtschaftsstrafrecht oder im Bereich der organisierten Kriminalität mit vielen Angeklagten und etlichen Verhandlungstagen, ist die lückenlose Prozessbeobachtung von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Sie ist elementarer Bestandteil für die anzulegende Verteidigungsstrategie und Beratungspraxis. Kommt es auf die Detailgenauigkeit von Aussagen an, kann diese eben nur durch ein unmittelbares Protokollieren durch einen "Gehilfen" des Verteidigers fehlerfrei wiedergegeben werden.
Auch in diesem Zusammenhang kann das Anfertigen von Mitschriften nicht per se mit einer Verletzung des Wahrheitsgebotes durch mögliche Befassung/Manipulation künftiger oder Beeinflussung eines noch zu vernehmenden Zeugen begründet werden. Eine Unterrichtung über den Verfahrensablauf und auch spezifischer Aussagen bis hin zu exakten Formulierungen (wenn auch in begrenztem Ausmaß) kann auch ohne zuvor angefertigte Mitschriften und bloß aus dem Gedächtnis heraus geschehen. Der Einsatz von Prozessbeobachtern ist vielmehr ein zulässiges Werkzeug effektiver Strafverteidigung, solange nicht die Grenzen der Strafvereitelung nach § 258 StGB oder die Anstiftung zur Falschaussage nach § 153 (i.V.m. § 27) StGB überschritten werden.
Gegen ein Mitschreibeverbot insbesondere für "Helfer der Verteidigung" sprechen auch die aktuellen Reformbestrebungen um die digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, in denen von einer (handschriftlichen) Protokollierung bereits ausgegangen wird und Überlegungen angestellt werden, selbst diesen Prozess effektiver und weniger fehleranfällig durch Einsatz technischer Hilfsmittel (Spracherkennungssoftware) auszugestalten.
Verhinderung von Geheimjustiz
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sagte kürzlich : "In einem Strafverfahren geht es für die Beteiligten um sehr viel: um Recht und Gerechtigkeit, die Freiheit eines Menschen oder den guten Namen. Dass sich die Verfahrensbeteiligten aktuell nach einem mitunter monatelangen Prozess alleine auf ihre Notizen und ihr Gedächtnis verlassen müssen, ist nicht mehr zeitgemäß. Eine digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung ist daher kein Selbstzweck, sondern wird ein echter Zugewinn für unseren Rechtsstaat (…)"
Diese Argumentation um die große Bedeutung (handschriftlicher) Notizen sollten sich Gerichte vor Augen führen, bevor sie ein pauschales Mitschreibeverbot in ihren Verhandlungen bestimmen. Die Möglichkeit des Mitschreibens dient damit nicht nur der effektiven Verteidigung. Nach wie vor steht auch der ureigene Zweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes, die Verhinderung von Geheimjustiz durch Kontrolle der Zuschauer, im Fokus eines Abwägungsprozesses.
Nach alledem bleibt jedenfalls festzustellen: Pauschale Mitschreibeverbote, wie vom OLG Frankfurt am Main erlassen, genügen den Anforderungen einer verfassungsrechtlich geschützten Saalöffentlichkeit nicht und könnten daher sogar revisionsrechtlich relevant sein, § 338 Nr. 6 StPO.
Autorin Dr. Katrin Wick ist Rechtsanwältin im Frankfurter Büro von Feigen Graf. Sie ist spezialisiert auf Wirtschafts- und Steuerstrafrecht und vertritt sowohl Unternehmen als auch Individualpersonen. Wick promovierte 2018 zum Öffentlichkeitsgrundsatz im Strafverfahren.
Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen aus der Zeitschrift "StV - Strafverteidiger", Heft 7, 2023. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.
Mitschreiben in der strafrechtlichen Hauptverhandlung: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52016 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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