Kaum einer weiß, wie Richter der obersten Gerichtshöfe ausgewählt werden. Auf welche Fähigkeiten kommt es an? Ist die Wahl politisch? Warum werden keine Verteidiger gewählt? Ex-Bundesrichter Thomas Fischer blickt auf das Auswahlverfahren.
Bundesrichter in Deutschland entscheiden an insgesamt fünf Obersten Gerichtshöfen des Bundes. Nach Art. 95 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sind dies der Bundesgerichtshof (BGH), das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), das Bundessozialgericht (BSG), das Bundesarbeitsgericht (BAG) sowie der Bundesfinanzhof (BFH).
Im Wesentlichen entscheiden die Bundesgerichte über Revisionen. Das sind Rechtsmittel gegen (meist) zivilrechtlich und im weiteren Sinn verwaltungsrechtlich zweitinstanzliche und im Übrigen strafrechtlich erstinstanzliche Urteile. Aufgabe der Obersten Gerichtshöfe ist nicht die Prüfung der tatsächlichen Beweislage, sondern die Prüfung der Rechtsfehlerfreiheit der mit der Revision angefochtenen Urteile. Grundlage dieser Prüfung ist – jedenfalls im Strafrecht – vor allem die schriftliche Begründung des angefochtenen Urteils.
Im Folgenden befasse ich mich vorrangig mit dem Bereich des Strafrechts, also eines Teils der ordentlichen Gerichtsbarkeit, deren Oberster Gerichtshof der BGH ist.
Aufgabe
Die Aufgabe von Revisionsrichtern der Obersten Gerichtshöfe unterscheidet sich gravierend von der Aufgabe von Tatrichtern. Daher unterscheiden sich auch die Anforderungen an die richterliche Kompetenz. Bundesrichter sind nicht per se klüger oder "besser" als Nichtbundesrichter. Sie haben schlicht eine andere Aufgabe mit anderen Anforderungen. Das wird in der öffentlichen Wahrnehmung und Berichterstattung oft verkannt, die unterstellt, mit der Stufe der Instanz müsse die Weisheit der Beurteilung des tatsächlichen Sachverhalts steigen.
Fehlgeleitet ist deshalb auch die Erwartung, spätestens der Bundesgerichtshof oder gar das Bundesverfassungsgericht – das gänzlich außerhalb des Instanzenzugs steht – solle feststellen und entscheiden, dass eine Beweiswürdigung falsch oder eine erstinstanzlich verhängte Strafe ungerecht sei. Diese Ansicht oder Hoffnung ist so verbreitet, dass auch rechtskundige Prozessbevollmächtigte – etwa Strafverteidiger – sie immer wieder auch entgegen besserem Wissen vortragen, weil ihre Mandanten darauf bestehen, auch den Senaten des BGH müsse mitgeteilt werden, dass dieser oder jene Zeuge wahrscheinlich gelogen habe.
Anforderung
Daraus ergibt sich, dass das Anforderungsprofil für Bundes(=Revisions)richter sich ganz erheblich von demjenigen an "Tatsachenrichter" unterscheidet, darüber hinaus aber auch eine vertiefte und reflektierte Kenntnis gerade dieses Unterschieds voraussetzt. Aus diesem Grund sind Personen nicht schon – beispielsweise – für die Tätigkeit qualifiziert, weil sie besonders gute Examensergebnisse oder eine langjährige Tätigkeit als Ministerialbeamte in einer obersten Landes- oder Bundesbehörde vorweisen können. Das gilt auch umgekehrt: Nicht jeder herausragende Richter am Amtsgericht taugt zum Revisionsrichter; viele würden damit eher unglücklich.
Wer länger als Tatrichter oder Staatsanwalt gearbeitet hat, braucht nach einem Wechsel zum obersten Gerichtshof fast immer einige Zeit, um sich von der gewohnten "eigenen Beweiswürdigung" zu trennen und angefochtene Entscheidungen nicht deshalb rechtsfehlerhaft zu finden, weil er meint, er selbst hätte die Beweislage anders gewürdigt als das Tatgericht. Diese Unterschiede der Entscheidungskriterien sind zwar durch die im Laufe der Zeit immer stärker gewordene Tendenz zur Einzelfallgerechtigkeit (jedenfalls im Bereich des Strafrechts, den ich beurteilen kann) zurückgetreten: Auch bei den Strafsenaten findet sich heute ein gelegentlich problematisches Bemühen, bloß keinen potenziell Schuldigen davonkommen zu lassen. Insoweit brechen sich auch intuitive, subjektive Impulse Bahn. Diese sind selbstverständlich nicht etwa per se illegitim, sondern gerade Teil der das Ergebnis legitimierenden Unabhängigkeit der Richter. Die Grenze zwischen Tat- und Rechtsbeschwerdegericht – grob umschrieben: zwischen Form und Inhalt der Konfliktentscheidung – ist hier aber besonders deutlich und nicht selten auch schmerzlich. Bei den Tatgerichten treten Fragen der Rechtseinheitlichkeit oder gar der Rechtsfortbildung, die für das Revisionsgericht von Bedeutung sind, dagegen zurück.
Andererseits muss man sagen, dass eine revisionsrichterliche Tätigkeit ganz oder fast ohne tatrichterliche Erfahrung ebenfalls problematisch ist: Wer jahrzehntelang nicht mehr oder noch nie eine Hauptverhandlung geleitet hat, wird ganz anders auf die angefochtenen tatrichterlichen Urteile blicken als jemand, der selbst lange Zeit erstinstanzlich tätig und verantwortlich war.
Auch aus diesem Grund wird auch von den Gerichts-Präsidien der Bundesgerichte angestrebt, die Senate mit Richter und Richterinnen unterschiedlicher Erfahrungsgrundlagen und beruflicher Biografie zu besetzen. Strafsenate, in denen vier von fünf entscheidenden Bundesrichtern aus derselben Staatsanwaltschaft stammen, kamen vereinzelt vor, sind aber gewiss ebenso wenig eine glückliche Lösung wie Senate aus lauter ehemaligen Strafkammervorsitzenden oder Ministerialbeamten.
Stellung
Es stellt sich also die Frage, wie man die "Beförderung" (rechtlich: Wahl) zum Bundesrichter begründen und willkürfrei gestalten kann. Bei der Beantwortung dieser Frage muss man bedenken, dass die Hierarchie der Richterämter in zweierlei Hinsicht strukturell begründungsbedürftig und nicht frei von möglichen Einwänden ist:
Zum einen ist die Orientierung der Bedeutung an einer dem (exekutiven) Beamtenrecht nachempfundenen Pyramide der Amtsstellung (mit deren unmittelbaren Folgen für die exekutive Macht) zweifelhaft. Sie findet ihren Ausdruck in einer Besoldungsordnung, die einer – militärisch und exekutivisch generierten – Machtzuweisung entspricht. Im Bereich der weisungsgebundenen Exekutive sind die Besoldungsstufen (A 1 bis A 13 sowie B 1 bis B 11) fast durchgängig Ausdruck von Kompetenz- und Weisungsverhältnissen: Die Beamten mit höherem Dienstgrad erteilen den Beamten mit niedrigerem Dienstrang Weisungen.
In der Justiz ist das aber ganz anders. Es gibt in Rechtsfragen keine Weisungsabhängigkeit; "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen" (Art. 97 Abs. 1 GG). Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass sie in verschiedenen Instanzen tätig sind. Der BGH erteilt dem Landgericht keine Einzel-"Weisungen". Vorsitzende eines Kollegialgerichts (Schöffengericht, Kammer, Senat) sind nicht die "Vorgesetzten" ihrer Kollegen. Und die Wichtigkeit eines Richters am Revisionsgericht ist nicht höher als die eines Richters am Amts- oder Landgericht.
Deshalb ist die Analogie der Richterbesoldung zur Beamtenbesoldung (die R-Stufen R 1 bis R 10 entsprechen den B-Besoldungen der Beamten) problematisch: Sie fördert innerhalb und außerhalb der Justiz die Vorstellung von und Orientierung an hierarchischen Strukturen. Die Beförderung etwa vom Richter am Landgericht (R 1) zum Vorsitzenden Richter am Landgericht (R 2) oder vom Vorsitzenden Richter am OLG (R 3) zum Richter am BGH (R 6) entscheidet nicht über Reichtum oder Armut, sondern wird vor allem als Macht- und Bedeutungs-Zuwachs bewertet. Hieraus folgt im Ergebnis das Risiko, dass zu Bundesrichtern nicht in der Sache Geeignetsten, sondern solche Personen „aufsteigen“, die sich langfristig an Karriere-Modellen des Aufstiegs um seiner selbst willen orientieren.
In den 70er Jahren forderte einst eine deutsche maoistische Organisation (deren Führungspersonal und Nachfahren sich später in bedeutenden Staatsämtern fand): "Wahl der Richter durch das Volk!" So etwas Ähnliches würde wohl auch die Partei AfD formulieren, wobei sie unter "Volk" sich selbst versteht. In beiden Fällen würde man mit hoher Wahrscheinlichkeit "Tribunale“ und macht-willfährige Richter generieren.
Richterwahl
Das geltende Richterwahlgesetz (RWG) auf der Grundlage von Art. 98 Abs. 1 GG geht einen ganz anderen, sehr indirekten und vermittelnden Weg: Ein Ausschuss des Bundes (Richterwahlausschuss), zusammengesetzt aus den Justizministern aller Bundesländer sowie derselben Anzahl von – nach dem Proporzsystem bestimmten – Bundestagsabgeordneten (§§ 2, 3 Abs. 1, 5 Abs. 1 RWG) wählt Personen zu Bundesrichtern, die entweder vom Bundesjustizminister oder einem Mitglied des Richterwahlausschusses vorgeschlagen wurden (§ 10 Abs. 1 S. 1 RWG) und so in einem Kandidaten-Topf gelandet sind.
Politische Parteien haben kein direktes Vorschlagsrecht; in der Praxis aber ist die Struktur von Parteipolitik und Parteienproporz maßgeblich bestimmend. "Parteibuch"-Karrieren unter Richtern kommen daher vor, sind aber nicht die Regel. Der verstorbene einstige Präsident des Bundesgerichtshofs, Gerd Peiffer, hat einmal gesagt: Jeder Richter, der aufgrund parteipolitischer Beziehungen gewählt wird, sei „eine Schande für den Bundesgerichtshof“. Dem ist, auch wenn die Grenze in der Praxis unsicher bleiben mag, jedenfalls im Grundsatz zuzustimmen.
Auch zivilgesellschaftliche Organisationen haben kein Vorschlagsrecht. Eine individuelle Bewerbung nach einer Stellenausschreibung gibt es nicht.
Die interessierten Kandidaten müssen also mindestens zwei Hürden überspringen: Sie müssen zunächst vom Minister ihres Landes (oder des Bundes) oder einem von einer Fraktion benannten Mitglied des Ausschusses vorgeschlagen und sodann vom Ausschuss durch Wahl aus dem Kandidatentopf gefischt werden. Wurde ein Kandidat dreimal nicht gewählt, gilt er/sie als "verbrannt".
Wie man in den Topf kommt, ist ein großes Geheimnis. Selbstverständlich sind alle Auserwählten davon überzeugt, dies sei Ergebnis ihrer herausragenden Befähigung und Eignung. Die zurückbleibenden Kollegen sind oft anderer Ansicht. Spekulationen sind verbreitet; Ambitionen werden sorgsam geheim gehalten und nur auf höherer (ministerieller) Ebene und auf Anfrage dort vertraulich offenbart. Da es keine Stellenausschreibung gibt, sind auch keine Konkurrentenklage-Verfahren auf dieser Ebene möglich: Niemand kann formell darüber klagen, dass "sein" Minister eine andere Person vorgeschlagen habe.
Auswahl
Ist man vorgeschlagen, folgt eine Begutachtung und Bewertung durch den Präsidialrat des jeweiligen Gerichtshofs. Dies ist ein Kollegium, das beim BGH aus dessen Präsident und Vizepräsident, zwei Mitgliedern des (seinerseits gewählten) Präsidiums gewählten und drei von allen Richtern gewählten Mitgliedern besteht (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 Deutsches Richtergesetz (DRiG)); bei den anderen Bundesgerichten ist die Zahl etwas geringer (§ 54 Abs. 1 Nr. 2).
Die mündliche Tauglichkeitsprüfung durch den Präsidialrat ist eine durchaus einschüchternde Nervenprüfung, die sich – mit Pech – stundenlang hinziehen kann. Die Befragung ist keine fachliche Prüfung, sondern thematisch frei. Es kann vorkommen, dass ein Kandidat gefragt wird, wie er eine früher geäußerte abweichende Rechtsmeinung mit einer möglichen Tätigkeit am Gericht zu vereinbaren gedenke. Auch die Abfrage sehr ins Einzelne gehender biografischer Einzelheiten ist nicht ausgeschlossen.
Die Vorstellung beim Präsidialrat mündet in eine mit einer zusammenfassenden Beurteilung abschließende Empfehlung, die für den Wahlausschuss nicht bindend, aber von faktisch hoher Bedeutung ist. Die Skala reicht in fünf oder sechs Stufen von "besonders geeignet" über "geeignet" bis "nicht geeignet"; bei Beurteilungen unterhalb von "(sehr) gut geeignet" kann man die Hoffnung fahren lassen. Die schlechteste der genannten Beurteilungen wurde meines Wissens beim Bundesgerichtshof bisher nur zweimal erteilt; in beiden Fällen lagen Anhaltspunkte für nicht allein sachliche Motivation des Votums vor.
Die letzte Stufe, also die Wahl selbst, wird dadurch sehr kompliziert, dass im Wahlausschuss so genannte "Stimmführer" der dominierenden Parteien/Fraktionen tätig sind ("A-Seite" und "B-Seite"), die in oft langwierigen Verhandlungen "Pakete" zusammenstellen: Wählt Ihr drei von uns vorgeschlagene Richter am BGH, wählen wir zwei von Euch vorgeschlagene Richter am BVerwG (usw.). Die formelle Wahl erfolgt dann in fast allen Fällen einstimmig. Ob oder wie intensiv die Mitglieder des Wahlausschusses zuvor die ihnen vorliegenden Personalakten aller Kandidaten durchgesehen haben oder ob sie nur den Voten ihrer Stimmführer folgen, mag hier dahinstehen.
Stärken und Schwächen
Die Schwächen und Risiken dieses Systems liegen auf der Hand: Dominierung der Instanzenspitze der rechtsprechenden Gewalt durch Exekutive und parteipolitische Erwägungen im interessengeleiteten Vorfeld der Legislative. Hieraus ergibt sich eine Gefahr parteipolitischer Steuerung der judikativ "herrschenden Meinung". Die Gefahr vorauseilender Willfährigkeit wird jedenfalls nicht gemindert. Die Auswahl der Kandidaten ist überaus justizlastig, obgleich dies formell nicht begründet und in der Sache nicht geboten ist: Dass ein Rechtsanwalt in den Kandidatentopf wandert, ist – jedenfalls beim BGH – eine große Seltenheit und kommt dort bislang allenfalls im Bereich der Zivilgerichtsbarkeit. Die Anregung, auch Rechtsanwälte (Strafverteidiger) in Richtung auf eine Tätigkeit in einem Strafsenat zu wählen, erscheint offenbar immer noch als unerhörte, gar provokative Verunsicherung.
Dem gegenüber lassen sich auch allerlei Stärken des Systems feststellen: Sie liegen insbesondere in der weitgehenden Abkopplung des revisionsgerichtlichen Personals von populistischen Stimmungen und unmittelbar partikularen Lobby-Interessen, die Berücksichtigung fänden, wenn gesellschaftlich relevante Gruppen wie in den Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mitentscheiden würden. Die enge Anbindung an die repräsentativ-demokratische Legitimation des Staats ist auch geeignet, die Legitimität der Auswahl und damit der Entscheidungen in der öffentlichen Wahrnehmung zu stärken.
Alternativen
Selbstverständlich gibt es sowohl theoretisch als auch praktisch Alternativen und entsprechende Vorschläge.
Eine Möglichkeit wäre eine vollständig auf ein justiz-internes Verfahren abstellende Auswahl, eine andere die Öffnung des Auswahlverfahrens etwa durch (öffentliche) "Anhörungen", (eingeschränkte) Transparenz der Kandidatenbewertungen. Auch die Möglichkeit offener Stellenausschreibungen und Bewerbungsverfahren wurde vorgeschlagen. Denkbar wären auch Formen der Einbeziehung weiterer Kreise von Bewerbern aus zivilgesellschaftlichen Systemen (Wirtschaft, Wissenschaft, Anwaltschaft). Orientierungen könnten auch die Auswahlverfahren für die Richter Oberster Gerichtshofe in anderen Staaten geben.
Alle Vorschläge haben Vor- und Nachteile gegenüber dem hergebrachten und derzeitigen System. Letzten Endes geht es immer um die möglichst beste Methode, Legitimität, also Glaubwürdigkeit und Vertrauen herzustellen. Im demokratischen Rechtsstaat kommt es hierfür auf Transparenz und Willkürfreiheit an. Auf Dauer kontraproduktiv wären eine direkte Anbindung an einen volatilen "Volkswillen" oder der Versuch, partikulare gesellschaftliche Interessengruppen in der Besetzung der Gerichtshöfe unmittelbar "abzubilden".
Antworten, im Ergebnis:
1) Das deutsche System der Bundesrichterauswahl ist verschachtelt und leidet unter einem Mangel als Transparenz.
2) Ihr Vorteil ist eine weitgehende Anbindung an die staatlichen Legitimationsgrundlagen (Demokratie; Gewaltenteilung) und eine Abkopplung von populistischen Strömungen.
3) Veränderungen sind denkbar und teilweise wünschenswert. Das betrifft vor allem die die Kandidatenauswahl, die bislang sehr staats- und justizlastig ist. Risiken einer noch deutlich mehr rechts-politisch und interessenorientierteren Auswahl stehen dem entgegen.
Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtsanwalt in München und Rechtswissenschaftler. Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53772 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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