Legal Tech verändert den Anwaltsberuf – bloß wie? Wenn Computer bald weite Teile des Rechtsberatungsmarkts übernehmen, stellt sich die Frage, wie lange Ratsuchende überhaupt noch auf menschliche Anwälte angewiesen sind, meint Nico Kuhlmann.
Selbstfahrende Autos werden in Zukunft Taxifahrer ersetzen. Auch Juristen sind nicht immun gegen den technischen Wandel, obwohl sie ihre Expertise gewöhnlich für unverzichtbar halten. Doch der Rechtsberatungsmarkt ist derzeit erheblichen Innovationen ausgesetzt, die den Markt massiv verändern werden.
Neben "erhaltenden" technologischen Veränderungen, die ein bestehendes, bekanntes Produkt verbessern, kennen Wirtschaftswissenschaftler die sogenannten disruptiven Innovationen. Geprägt wurde der Begriff von Clayton M. Christensen in seinem Bestseller The Innovator's Dilemma. Der Wirtschaftsprofessor der Harvard Business School erklärt darin, warum verfestigte Märkte immer wieder aufgebrochen werden.
Oft wird durch ein viel günstigeres Produkt eines neuen Anbieters zuerst ein neuer Markt eröffnet. Die Leistung der disruptiven Innovation nimmt dann schneller zu als die Bedürfnisse der Nutzer, und am Ende wird der herkömmliche Markt übernommen. Ein solcher Wandel kann jeden Markt treffen.
Weniger herkömmliche Arbeit für Juristen
Die Encyclopædia Britannica, einst Marktführer bei den Nachschlagewerken, stellte nach 244 Jahren die Druckerpressen ab, nachdem Wikipedia zur kostenlosen Alternative geworden war. Der Schuhmacher um die Ecke hat sein Geschäft geschlossen, weil kaum noch jemand teure Maßschuhe trägt. Die billigere Standardware passt zwar nicht perfekt, ist aber bequem genug und reicht für die meisten Bedürfnisse aus. Der Ökonom spricht von Kommodifizierung. Vergleichbares wird in Zukunft für viele Rechtsberatungsprodukte gelten. Der Zugang zum Recht wird einfacher, aber für Juristen wird es weniger zu tun geben.
Das Grundlagenwerk über die disruptiven Trends im Rechtsmarkt hat Richard Susskind im Jahr 2012 geschrieben. Der Professor aus Oxford arbeitet in Tomorrow's Lawyers drei Faktoren heraus, die den Rechtsberatungsmarkt seiner Ansicht nach tiefgreifend verändern werden. Neben einem steigenden Kostendruck, der sogenannten More-for-Less-Challenge, und der Liberalisierung von Rechtsdienstleistungen identifiziert Susskind die Informationstechnologie als treibende Kraft der Veränderung. Auch der britische Economist hat bereits die Attacke auf die "anachronistisch ineffizienten" Juristen ausgerufen.
Die Zukunft hat schon begonnen
Die Arbeitsweise innerhalb von Kanzleien hat sich durch die Anwendung von Informationstechnologie bereits stark verändert. Diktiergeräte mit analogen Kassetten wurden längst durch Spracherkennungssoftware ersetzt. Es werden kaum noch Bücher gelesen, sondern Online-Datenbanken nach Stichwörtern durchsucht, und der Computer erfasst präzise die Arbeitszeit.
Die Schulung von Mandanten wird immer seltener persönlich durch Anwälte durchgeführt. Das Zauberwort ist E-Learning. Bei Hogan Lovells heißt das Online-Fortbildungsprogramm für Mandanten im Kartellrecht COMPETE (Competition Electronic Training Expericence). Mit der LawInContext hat Baker & McKenzie sogar ein eigenes Unternehmen für Online-Trainings gegründet, das Einheiten zu Ausfuhrkontrollen, Geldwäscheregelungen und Datenschutz umfasst. Die Inhalte, für deren Betreuung lediglich einige wenige Anwälte benötigt werden, können weltweit zu jeder Zeit von den Mandaten abgerufen werden.
Start-ups sind die Innovationstreiber
Einige Kanzleien lassen sich bereits durch externe Anbieter unterstützen. Leverton hat eine cloud-basierte Software entwickelt um eine Vielzahl von Dokumenten in verschiedenen Sprachen besser zu managen. Der zugrundeliegende Algorithmus liest die Verträge aus, analysiert den Inhalt und lernt mit der Zeit dazu. Wenn Informationen gebraucht werden, muss niemand mehr die kompletten Verträge lesen, sondern die Software zeigt die relevanten Ausschnitte und Querverweise direkt in der gewünschten Sprache an. Dies spart viel Zeit - und letztlich wohl auch Arbeitsplätze.
Durch andere Dienstleister kann der Gang zum Anwalt vollständig entfallen. SmartLaw, das wie LTO zu Wolters Kluwer gehört, startete mit der Idee, individualisierte Verträge und Rechtsdokumente online erstellen zu können. Unternehmer, Vermieter und Privatleute erhalten individuell computergenerierte Testamente, Mietverträge und Abmahnungen. Zusätzlich gibt es Hinweise, wenn sich die Rechtslage ändert und das entsprechende Dokument angepasst werden muss. Das Abo kostet für Privatpersonen mit 10 Euro im Monat in etwa so viel wie ein Netflix-Account.
Flightright hilft Fluggästen bei der Durchsetzung von Rückerstattungsansprüchen bei Verspätungen. Im Internet können Nutzer die Flugnummer und das Datum eingeben, und sie erhalten sofort eine voraussichtliche Entschädigungssumme. Anschließend kann Flightright damit beauftragt werden, den Anspruch gegenüber der Fluggesellschaft durchzusetzen. Der Fluggast muss sich um nichts mehr kümmern und kann auf sein Geld warten. Im Erfolgsfall behält Flightright 25 Prozent Provision. Falls es doch kein Geld gibt, entstehen dem Fluggast auch keine Kosten. Ein Versprechen, das aus rechtlichen Gründen kein Anwalt geben kann.
Eine Plattform zur Streitbeilegung ist Modria. Dort können Probleme nach einem Vertragsschluss im Internet gelöst werden. Das Unternehmen ist eine Ausgründung von Ebay und hat zuletzt weltweit 60 Millionen Streitigkeiten im Jahr gelöst. Nach eigenen Angaben werden über 90 Prozent der Auseinandersetzungen technologiebasiert ohne Eingreifen von menschlichen Mediatoren und Streitschlichtern beigelegt. Anwälte werden überhaupt nicht benötigt.
Was sagt RA Dr. ROSS dazu?
Mit IBM steht ein Gigant der Technologiebranche in den Startlöchern, um mit Hilfe des Supercomputers Watson die Welt zu verändern. Watson ist eine semantische Suchmaschine, die den Sinn einer Frage erfassen und schnell aus riesigen Datenmengen die relevanten Passagen herausfinden kann. Der Öffentlichkeit bekannt ist Watson als Gewinner der US-amerikanischen Quizshow "Jeopardy". Zurzeit hilft er erfolgreich, Krebs besser zu behandeln. Er durchsucht die Krankenakte und anschließend wissenschaftliche Studien und weitere Fachliteratur. Innerhalb weniger Minuten erhält der Arzt eine Liste mit Behandlungsempfehlungen.
Ein ähnlicher Anwendungsbereich ist für Juristen denkbar. Das dachte sich auch ein Legal-Tech-Start-up und hat Watson unter dem Namen ROSS bildlich gesprochen zum Jurastudium geschickt. Unterstützung erhält das Projekt durch den kanzleieigenen Accelerator von Dentons. Nachdem ROSS mit Unmengen von Daten über US-amerikanisches Insolvenzrecht gefüttert wurde, befindet er sich nun in einer privaten Beta-Phase. Er beantwortet rechtliche Fragen in normaler Sprache und liefert zudem eine Einschätzung der Korrektheit und den Ausschnitt des zitierten Dokuments. Darüber hinaus gibt ROSS Bescheid, wenn neue relevante Rechtsprechung ergangen ist.
Mensch oder Maschine?
Es ist normal, dass wir Siri fragen, wie das Wetter wird. Die Vorhersage trifft dann kein studierter Meteorologe mit langjähriger Berufserfahrung, sondern ein mit Wetterdaten gefütterter Algorithmus. Wie selbstverständlich fragen wir Google und keinen Ortskundigen nach dem schnellsten Weg zum besten Restaurant der Stadt. In Zukunft wird ein Rechtsuchender ROSS oder einen nahen Verwandten fragen können, um wie viel Prozent die Miete gemindert werden kann, weil die Heizung schon wieder nicht geht.
Kurzfristig kann es sein, dass technologische Innovationen in der Rechtsberatung nur ersetzen, wofür man sowieso keine Anwälte braucht. Langfristig könnte die relevante Frage aber eher sein, wofür Rechtsuchende überhaupt zwingend auf herkömmliche Dienstleistungen menschlicher Anwälte angewiesen sind.
Literatur:
• Clayton M. Christensen: The Innovator's Dilemma. The Revolutionary Book That Will Chance the Way You Do Business. New York, London, Toronto, Sydney: Harper Business, 1997. XXXVII, 286 S. ISBN: 978-0-06-206024-2.
• Richard Susskind: Tomorrow's Laywers. An Introduction to Your Future. Oxford: Oxford University Press, 2013. XVIII, 180 S. ISBN: 978-0-19-966806-9.
Der Autor Dipl.-Jur. Univ. Nico Kuhlmann, Wirtschaftsjurist (Univ.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einer internationalen Wirtschaftskanzlei in Hamburg.
Nico Kuhlmann, Disruptive Innovationen im Anwaltsmarkt: Löst der Computer den Anwalt ab? . In: Legal Tribune Online, 07.01.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18043/ (abgerufen am: 04.07.2024 )
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