Eine Abmachung der Ministerpräsidenten versprach den Grünen ein zweites Vorschlagsrecht bei der Wahl neuer Verfassungsrichter. Vielleicht muss die Ökopartei aber weiter warten. Christian Rath schildert den Konflikt.
Eigentlich dürfen die Grünen den Nachfolger von Michael Eichberger für den Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts vorschlagen. So eine Abmachung der Ministerpräsidenten der Länder von 2016. Doch nun regt sich Unmut in Karlsruhe. Viele der amtierenden Richter befürchten, dass die Grünen die traditionelle Balance zwischen den politischen Blöcken von Union und SPD durcheinander bringen.
Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern. Seine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung rührt daher, dass es als politikfern gilt und immer wieder Gesetze beanstandet. Doch auch das Bundesverfassungsgericht fällt nicht vom Himmel, sondern ist demokratisch legitimiert.
Bei der Wahl der Verfassungsrichter sind vor allem drei Vorgaben aus dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu beachten. So wird die eine Hälfte der Richter vom Bundestag gewählt, die andere Hälfte vom Bundesrat. Außerdem werden die Richter jeweils mit Zwei-Drittel-Mehrheit bestimmt. Und schließlich müssen drei Verfassungsrichter in jedem Senat vorher Bundesrichter gewesen sein.
Die Richter agieren anschließend zwar völlig weisungsfrei und entwickeln sich oft auch anders als gedacht. Aber die pluralistischen Vorschlagsrechte stellen sicher, dass Richter mit unterschiedlichen Einstellungen nach Karlsruhe geschickt werden. Schließlich hat die Auslegung des Grundgesetzes immer auch politische Folgen.
Im Bundesrat könnten die Grünen zur Zeit jede Wahl blockieren
Praktisch bedeutsam ist vor allem die Wahl mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Sie führte dazu, dass sich vor allem Union und SPD die Vorschlagsrechte untereinander aufteilen. Derzeit wurden je sieben Richter auf Vorschlag der Union und der SPD gewählt, je einer auf Vorschlag von FDP und Grünen. Die kleineren Parteien konnten bisher nur einen Verfassungsrichter vorschlagen, wenn ihnen Union und SPD ein Benennungsrecht abtreten.
So wurden erst zwei Mal Verfassungsrichter auf Vorschlag der Grünen gewählt. Der erste war der Gießener Rechtsprofessor Brun-Otto Bryde, der dem Ersten Senat von 2001 bis 2011 angehörte. Bei seiner Wahl regierte im Bund die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder. Die SPD trat dem Koalitionspartner ein Vorschlagsrecht im Bundestag ab. Als Nachfolgerin Brydes wurde Ende 2010 die Rechtsprofessorin Susanne Baer gewählt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Grünen zwar nicht an der Bundesregierung beteiligt, die SPD war aber im Bundestag bereits so schwach, dass sie allein nicht die Sperrminderheit von einem Drittel zusammenbekam. Sie trat deshalb in der Opposition ein Vorschlagsrecht an die Grünen ab.
Bisher konnten die Grünen also nur im Bundestag eigene Kandidaten vorschlagen. Im Bundesrat machten weiterhin Union und SPD die Verfassungsrichterwahl unter sich aus. Ab 2016 akzeptierten die Grünen das aber nicht mehr. Sie rechneten vor, dass sie an zehn (heute neun) von 16 Landesregierungen beteiligt sind. Wenn die Grünen in all diesen Regierungen auf Enthaltung bestehen, kann gar niemand mehr gewählt werden. Das grüne Sperrpotenzial beträgt derzeit 37 Stimmen, also deutlich mehr als die 23 Stimmen, die für ein Drittel der Bundesratsstimmen erforderlich sind.
Nach der neuen Formel sind die Grünen jetzt am Zug
Im September 2016 vereinbarten daher die drei Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne), Volker Bouffier (Hessen, für die CDU-regierten Länder) und Carsten Sieling (Bremen, für die SPD-Länder) einen neuen Wahlmodus: Künftig können die Grünen jeden fünften Verfassungsrichter vorschlagen, der im Bundesrat gewählt wird. Die neue Formel lautet: Union / SPD / Union / SPD / Grüne. Die Anwendung der Formel sollte mit dem dritten Wahlgang der Reihung beginnen, damit die Grünen nicht allzulange warten müssen.
Die Zählung der Ministerpräsidenten begann mit der Wahl der Göttinger Rechtsprofessorin Christine Langenfeld (CDU-Vorschlag) im Frühjahr 2016. Im Herbst 2016 war die SPD an der Reihe und schlug die BGH-Richterin Yvonne Ott vor. Nächster vom Bundesrat zu wählender Verfassungsrichter ist der Nachfolger von Michael Eichberger im Ersten Senat, dessen zwölfjährige Amtszeit Ende April endet. Eichberger war einst auf Vorschlag der CDU/CSU gewählt worden und war vor seiner Karlsruher Zeit Richter am Bundesverwaltungsgericht.
Die Grünen mussten nun ebenfalls einen Bundesrichter vorschlagen und fanden ihn in Claudio Nedden-Boeger, seit 2011 Richter am Bundesgerichtshof und dort für Familienrecht zuständig. Er hat auch Erfahrung mit Verfassungsrecht, denn er ist seit 2012 Richter am Landesverfassungsgericht von NRW.
Driftet der Erste Senat nach links?
Doch nun begann man in Karlsruhe nachzurechnen: Wenn ein Vorschlagsrecht von der Union zu den Grünen wandert, dann geräte die Balance des Ersten Senats durcheinander. Dann bestünde er aus drei von der SPD vorgeschlagenen Richtern (Johannes Masing, Gabriele Britz, Yvonne Ott), zwei CDU/CSU-Vorschlägen (Ferdinand Kirchhof, Josef Christ), zwei Grünen-Vorschlägen (Susanne Baer, Claudio Nedden-Boeger) und einem von der FDP Benannten (Andreas Paulus). Vielen amtierenden Verfassungsrichtern ist das nicht geheuer, sie fürchten um die Akzeptanz ihrer Entscheidungen und wünschen sich, dass die Politik am traditionellen Vier-zu-Vier-Schema festhält.
Die Argumente kamen an. Anfang Februar wurde das Thema in der Konferenz der Ministerpräsidenten erstmal vertagt. Einige CDU-Regierungschefs nahmen die Argumente der Verfassungsrichter dankbar auf. Und schon wird in unionsnahen Bundesrichterkreisen nach einem Nachfolger für Eichberger gesucht.
Die Grünen aber sind sauer. Die Unwucht bestehe ja nur für zwei Jahre, denn dann bekäme die CDU/CSU das Vorschlagsrecht für den Nachfolger des auscheidenden Richters Johannes Masing, einst von der SPD benannt. Überhaupt sei es verfehlt, die Grüne einfach dem SPD-Lager zuzurechnen.
Kretschmann will an Claudio Nedden-Boeger festhalten
Kretschmann besteht daher auf der Einhaltung der Absprache von 2016. Die Personalie soll auf der Ministerpräsidentenkonferenz am 15. März erneut besprochen werden, die Wahl von Nedden-Boeger könnte dann am 23. März im Bundesrat stattfinden.
Richtig ist zwar, dass die Grünen schon seit einigen Jahren auch mit der Union koalieren, derzeit in Hessen und Baden-Württemberg, bald vielleicht auch in Bayern. Das macht sie aber verfassungsrechtlich noch nicht zu einem eigenständigen Lager zwischen SPD und Union. Vielmehr stehen die Grünen, wenn es um Demokratie und Grundrechte geht, in der Regel eher links von der SPD, was die Proporz-Überlegungen der Verfassungsrichter plausibel macht.
Allerdings ist das Vier-zu-Vier-Schema am ersten Senat auch schon dadurch durchbrochen, dass die Union 2010 ihrem damaligen Regierungspartner FDP ebenfalls ein Vorschlagsrecht abtrat. Gewählt wurde damals der Rechtsprofessor Andreas Paulus. Er mag zwar in Steuer- und Eigentumsfragen eher den von der Union benannten Richtern nahestehen. Gesellschaftspolitisch und bei Abwehrrechten gegen Sicherheitsbehörden dürfte der Liberale aber für eine strukturelle linksliberale 5-zu-3-Mehrheit am Ersten Senat gesorgt haben, so wie es sie etwa in der Amtszeit des ebenfalls von der FDP benannten Bundesverwaltungsrichters Dieter Hömig (1995 - 2006) schon gab.
Papier und Kirchhof standen für breite Mehrheiten
Es wäre aber verfehlt, den Ersten Senat vor allem unter dem Gesichtspunkt der polititischen Lager zu sehen. Während es in den 1990er-Jahren mehrere spektakuläre 5-zu-3-Entscheidungen gab ("Soldaten sind Mörder", Sitzblockaden, Kruzifix), bemüht sich der Senat schon seit langem stark um breitere Mehrheiten oder gar um Einstimmigkeit. Das war auch ein Verdienst der konservativen Senatsvorsitzenden Hans-Jürgen Papier und Ferdinand Kirchhof, die die Sorgen der Linksliberalen vor einem übermächtigen Sicherheitsstaat ernst nahmen.
Es wäre wohl damit zu rechnen, dass der Erste Senat auch in der anstehenden Phase einer strukturellen linksliberalen Sechs-zu-Zwei-Mehrheit weiter den Konsens sucht. Die beiden konservativen Richter hätten dann im internen Ringen vielleicht sogar ein stärkeres Gewicht als ihnen nummerisch zukommt. Ob das gelingt, hängt allerdings auch von der Union ab, die in den kommenden Wochen den Nachfolger von Ferdinand Kirchhof vorschlägt, der die Altersgrenze erreicht.
Dass sie dabei einen konservativen Hardliner vorschlägt, ist aber eher unwahrscheinlich, schließlich wird der Nachfolger Kirchhofs wohl Vorsitzender des Ersten Senat und im Mai 2020 (nach dem Ausscheiden Andreas Voßkuhles) auch Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Diese Personalie muss also in besonderem Maße konsensfähig sein.
Die informelle Einmischung könnte Misstrauen schüren
Gerade mit Blick auf die konstruktive Zusammenarbeit der Richter am Ersten Senat, aber auch am Zweiten Senat, wundert es, dass nun ausgerechnit die Verfassungsrichter selbst sich nach Vorschlagsrechten sortieren und Proporz anmahnen. Das wirkt so, als ob der Proporz in der Senatsbesetzung für die Akzeptanz der Urteile wichtiger wäre, als deren Qualität, innere Stringenz und verfassungspolitische Ausgewogenheit.
Die Karlsruher Intervention könnte nun sogar dazu führen, dass in der Öffentlichkeit wieder genauer darauf geschaut wird, welcher Berichterstatter einst von welcher Partei vorgeschlagen wurde. Insofern wäre die informelle Einmischung in die Richterwahl geradezu kontraproduktiv gewesen.
Die Richter haben aber recht, wenn sie anmahnen, dass die Richtermacher in Bundestag und Bundesrat nicht nur die jeweils von ihrem Organ zu wählenden acht Richter in den Blick nehmen sollen, sondern die Situation an den jeweiligen Senaten. Ein übergeordnete Koordination, wie es sie bis vor einigen Jahren noch gab, wäre durchaus sinnvoll.
Geht stattdessen die Voßkuhle-Nachfolge an die Grünen?
Immerhin gäbe es auch noch eine alternative Lösung aus dem aktuellen Dilemma der Eichberger-Nachfolge. So könnte den Grünen angeboten werden, 2020 den Nachfolger des dann scheidenden Andreas Voßkuhle zu benennen. Der Nachfolger würde dann zwar nicht Gerichtspräsident, aber die Grünen hätten erstmals Einfluss auf die Zusammensetzung des machtpolitisch wichtigeren Zweiten Senats. Und sie hätten größere Auswahl, weil sie hier auch einen Rechtsprofessor benennen können.
Allerdings sind die Grünen skeptisch, was eine Zusage für das Jahr 2020 wert ist, wenn die Zusage aus dem Jahr 2016 schon 2018 wieder in Frage gestellt wird.
Langfristig wird es sicher auch eine Diskussion geben, warum Linke und AfD bei der Wahl der Verfassungsrichter nicht mitreden können. Die bisherige Situation ist aber eine Folge des Zwei-Drittel-Wahlrechts, das nicht darauf abzielt, die ganze Breite des politischen Spektrums abzubilden. Vielmehr sollen sich die Parteien der linken und rechten Mitte verständigen, damit Deutschland ein pluralistisch besetztes, aber einigungsfähiges Verfassungsgericht bekommt.
Christian Rath, Verfassungsrichter-Wahl: . In: Legal Tribune Online, 12.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27003 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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