Erreicht die AfD in Thüringen mehr als 33 Prozent, könnten das Landesverfassungsgericht und die Justiz im Land blockiert werden. Über Schwachstellen im System und was sich bis September noch ändern lässt.
LTO: Herr Laude, Sie arbeiten für das Thüringen-Projekt des Verfassungsblogs. Dort untersuchen Sie, was passiert, wenn autoritär populistische Parteien wie die AfD Regierungsmacht bekommen. Welche verfassungsrechtliche Schwachstelle macht Ihnen am meisten Sorgen?
Lennart Laude: Große Sorgen muss man sich darüber machen, was direkt nach der Wahl als erster Akt passieren wird. Nämlich über die Ministerpräsidentenwahl. Dabei bestehen gleich aus zwei Richtungen politische und rechtliche Unsicherheiten: Infolge der Geheimheit der Wahl und wegen den potenziell unklaren Regeln der Landesverfassung. Und schon 2020 hatte es bei diesem wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer neuen Regierung Probleme gegeben.
… als nach zwei erfolglosen Wahlgängen der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich im Thüringer Landtag mit den Stimmen von Liberalen, CDU und der AfD zum Regierungschef gewählt worden war.
Der Ministerpräsident wird vom Landtag in geheimer Wahl gewählt. Die AfD hatte es geschafft, eine Falle zu stellen. Sie ging mit einem eigenen Kandidaten ins Rennen und hat stattdessen den FDP-Mann Kemmerich gewählt. Das zeigt, die AfD kennt die Verfahrensabläufe und Schwachstellen gut und weiß, sie für ihre Zwecke einzusetzen. Sie hat gelernt, ihre Rechte bis zu den Grenzen auszuschöpfen und damit zu spielen.
Sollte man die Geheimheit der Wahl also aufgeben?
Erfahrungen mit Unsicherheiten wegen der Geheimheit der Wahl haben wir auch schon in anderen Ländern gemacht. 2005 wurde auch nach vier Wahlgängen Heide Simonis nicht zur Ministerpräsidentin in Schleswig-Holstein gewählt. Gerade in einem Land wie Thüringen, das aus einer politischen Situation mit einer Minderheitsregierung kommt, kann diese Anonymität für taktische Manöver genutzt werden. Man sollte darüber nachdenken, ob durch die Abschaffung der geheimen Wahl nicht die Demokratie gestärkt wäre.
Welche rechtlichen Unsicherheiten bei der Ministerpräsidentenwahl bestehen noch?
Nach Art. 70 der Thüringer Verfassung ist im dritten Wahlgang gewählt, wer die meisten Stimmen erhält. Unklar ist, was passiert, wenn nur ein Kandidat vorgeschlagen ist: ob die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, also mehr Ja- als Nein-Stimmen, erforderlich sind oder ob nur die für den Kandidaten abgegebenen Stimmen (also nur die Ja-Stimmen) zählen. Kann ein Ministerpräsident mit einer einzigen Ja-Stimme gewählt werden, während alle anderen mit Nein stimmen oder sich enthalten? Diese Unklarheiten sollten aufgelöst werden, bevor es nach der Thüringen-Wahl im September zum Ernstfall kommt. Sonst droht direkt eine Verfassungskrise, wenn niemand sicher weiß, ob der Ministerpräsident wirksam gewählt wurde.
Was schlagen Sie vor?
Durch eine Textänderung in Art. 70 Abs. 3 der Thüringer Verfassung könnte Klarheit geschaffen werden. Bisher hat es trotz langer Diskussionen der demokratischen Parteien keine Einigung hierzu gegeben. Das ist enttäuschend. Ein CDU-Vorschlag, dem Landesverfassungsgericht ein neues Vorabklärungsverfahren zuzuschlagen, damit es interpretatorische Zweifelsfälle lösen kann, konnte sich auch nicht durchsetzen. Auch wenn eine Verfassungstextänderung wohl sinnvoller wäre: Vor allem wäre es wichtig, überhaupt eine Lösung zu finden.
Wäre eine solche Verfassungsänderung denn bis September noch machbar?
Dafür bräuchte es jetzt ein zügiges und gemeinschaftliches Handeln der demokratischen Fraktionen; leider sind diese sehr zerstritten. Das Thema ist ja nicht neu und wird schon länger diskutiert, es kommt jetzt auf den politischen Willen an. Wir haben unter anderem dazu ein Policy Paper verfasst mit konkreten Handlungsvorschlägen, die wir in diesen Tagen der Landespolitik in Thüringen vorstellen.
Wie verhält sich eigentlich die AfD zu diesen Diskussionen um Schwachstellen in der Thüringer Verfassung?
Wir vom Thüringen Projekt stehen nicht im Kontakt zur AfD. Mein Eindruck ist, die kennen die Unsicherheiten sehr genau. Das haben wir etwa bei der Wahl Kemmerichs 2020 gesehen.
Derzeit wird ja viel über die Resilienz und Absicherung des Bundesverfassungsgerichts diskutiert. Wie sehen Sie die Lage der Landesverfassungsgerichte?
Ich sehe für den Fall einer Sperrminorität oder einer Regierungsbeteiligung autoritär-populistischer Parteien eine erhebliche Gefährdung auf Landesverfassungsgerichte zukommen. Einem Landesverfassungsgericht kommt ja die wichtige Aufgabe zu, in Organstreitverfahren etwa zwischen der Landesregierung und Landtagsfraktionen zu entscheiden. Also in Streitigkeiten, die politisch besonders sensibel sind. Außerdem entscheidet das Gericht in Thüringen auch über Verfassungsbeschwerden.
Was könnte konkret dem Landesverfassungsgericht in Thüringen drohen?
Bereits die Wahl der Verfassungsrichterinnen und -richter kann künftig schwierig werden. Nach Art. 79 Abs. 3 der Thüringer Verfassung braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit. AfD-Landeschef Björn Höcke hat schon als Ziel ausgegeben "33 Prozent plus X". Das zeigt, die AfD ist sich ganz genau bewusst, dass sie dann über eine Sperrminorität verfügt. Sie kann mit einem solchen Stimmenanteil die Wahl neuer Verfassungsrichterinnen und -richter blockieren. Vor allem, um dadurch Druck aufzubauen und Deals zu anderen politischen Themen zu machen.
Warum wäre das problematisch?
Es würde der Reputation des Gerichts schaden, wenn seine Besetzung und Arbeitsfähigkeit als politische Verhandlungsmasse genutzt wird. Bis zum Ende der anstehenden neuen Legislatur im Jahr 2029 müssen übrigens alle neun dauerhaften Verfassungsrichterstellen neu besetzt werden. Ein erheblicher Faktor.
Was schlagen Sie als Lösung vor?
Für den Fall, dass eine Richterstelle neu besetzt werden muss, braucht es Übergangsregeln und Ersatzwahlregeln, damit das Gericht auch dann arbeitsfähig bleibt, wenn die Nachwahl blockiert werden sollte.
Wie könnte das aussehen?
Entweder bleiben die bisherigen Mitglieder im Amt bis erfolgreich neu gewählt wurde; hierzu bräuchte es eine klarstellende Übergangsregel. Sollte sich die Blockade dauerhaft fortsetzen, dann bräuchte es einen Ersatzwahlmechanismus, der das Zwei-Drittel-Erfordernis ablöst.
Ein geringeres Quorum wäre aber auch ein demokratisches Minus …
Die Legitimation aus einer Zwei-Drittel-Mehrheit kann man nicht ersetzen, eine Ersatzwahl bleibt eine Ersatzwahl. Sie kann immer nur eine Alternativlösung mit dem Ziel der Erhaltung der Arbeitsfähigkeit darstellen. Wir schlagen vor, dass das Landesverfassungsgericht selbst einen Vorschlag macht, der dann mit einfacher Mehrheit gewählt werden kann.
Stichwort Richterwahl, der Richterwahlausschuss ist auf Landesebene zuständig, alle Richterinnen und Richter zu berufen. Ein mächtiges Gremium, dem auch Gefahr droht?
Das Gremium muss zustimmen, wenn Proberichter auf Lebenszeit ernannt werden. Es setzt sich in Thüringen aus Abgeordneten und richterlichen Mitgliedern zusammen, im Verhältnis zehn zu fünf. Nach Art. 89 Abs. 2 der Thüringer Verfassung werden die parlamentarischen Mitglieder aus dem Landtag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in den Richterwahlausschuss entsandt. Jede Fraktion muss mindestens einmal vertreten sein. Wer also im Landtag eine Sperrminorität hat, könnte dauerhaft verhindern, dass der Richterwahlausschuss ordentlich besetzt wird. So könnte die Richterernennung lahmgelegt werden.
Mit Folgen für ein Land, das wie andere Bundesländer angesichts einer Pensionierungswelle ohnehin Nachwuchssorgen in der Justiz plagt?
So ist es. Man kann sich vorstellen, was das für eine Wirkung auf den viel umworbenen juristischen Nachwuchs hat, wenn eine Blockade der Richternennung auf Lebenszeit droht. Das kann auf längere Sicht die Arbeitsfähigkeit der Justiz in der Breite beeinträchtigen.
Lässt sich dieses Bedrohungsszenario noch abwenden?
Ich sehe derzeit für Thüringen keine rechtlichen Änderungsvorschläge. Denkbar wäre, den Anteil der Justizmitglieder im Richterwahlausschuss zu erhöhen, zumindest als Übergangs- und Ersatzlösung, falls es zur Blockade kommt.
Und den Richterwahlausschuss abschaffen? Nicht alle Länder besetzen ihre Richterinnen und Richter über ein solches Gremium.
Das wäre möglich - zugleich ein Schritt, den man sich gut überlegen sollte. Immerhin wird über das Gremium auch demokratische Legitimation und Verantwortung hergestellt. Ich würde generell vor Schnellschüssen warnen nach dem Motto: Das Gremium ist in Gefahr, wir schaffen es mal lieber ab. Besser man überlegt sich, wie das Organ langfristig geschützt werden kann.
Aber dazu gibt es gerade noch keine Idee, oder?
Für einige Szenarien ist es wichtig, einfach auch das Bewusstsein für Risiken und Gefahren zu schärfen. Uns kommt es mit dem Projekt auch darauf an, auf Schwachstellen hinzuweisen, gefährliche Strategien rechtzeitig sichtbar zu machen.
Ein anderes viel diskutiertes Justizthema ist das Weisungsrecht aus dem Justizministerium gegenüber den Staatsanwaltschaften in den Ländern. Je nach Fall wird die Einflussnahme begrüßt bzw. kritisiert.
Beim Weisungsrecht ist problematisch, dass es so gut wie gar nicht rechtlich normiert ist. Ich finde es wichtig, das Weisungsrecht auf das formelle Weisungsrecht zu beschränken. Es darf für Staatsanwaltschaften nicht der Eindruck entstehen, jederzeit könnten informelle Weisungen aus der Politik etwa per Telefon drohen. Formelle Weisungen müssen auf Einzelfälle beschränkt, gut schriftlich dokumentiert und begründet werden. Nur so bleiben sie nachprüfbar. Das muss gesetzlich klar normiert werden. Auf Bundesebene hatte die Große Koalition dazu sogar einen Vorschlag gemacht, das einschlägige Gerichtsverfassungsgesetz zu ändern. Der ist leider versandet. Das Vorhaben steht auch im Ampel-Koalitionsvertrag, passiert ist noch nichts.
Auch die Risiken für einen schnellen Austausch auf politischen Beamtenposten wurden diskutiert. Wie schauen Sie darauf?
Mit politischen Beamten soll sichergestellt werden, dass in bestimmten Bereichen enger Zusammenarbeit das Vertrauensverhältnis zum Minister gewährleistet wird. Die politischen Beamten können deshalb jederzeit ohne Angaben von Gründen in den Ruhestand versetzt werden. Das gilt für Staatssekretäre und Regierungssprecher. Aber in Thüringen eben auch für den Präsident der Landespolizeidirektion und den Verfassungsschutzpräsidenten. Die letzteren sind aus unserer Sicht keine Positionen, bei denen es primär um die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Regierung geht. Diese Behördenleiter sind vielmehr selbst zur Neutralität verpflichtet. Wir schlagen deshalb vor, die Liste politischer Beamter entsprechend zu kürzen.
Es wird viel über die Absicherung von Institutionen diskutiert, Landesverfassungsgerichte, Behörden. Sprechen wir zu wenig über die Resilienz von Menschen, die von den Entwicklungen betroffen sind?
Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auf die Personen ankommen wird, die betroffen sind. In der Justiz wird es wichtig werden, wie verstehen Richterinnen und Richter ihre Rolle? Sind die bereit ihre Institutionen und deren Funktionsfähigkeit zu verteidigen? Wir können Institutionen noch so gut absichern, es kommt immer auf die Menschen dahinter an.
Was könnte eine einzelne Richterin, ein einzelner Staatsanwalt oder Justizbeamter tun?
Es wird wichtig sein, die eigene Selbstorganisation des Gerichts oder der Behörde aufmerksam zu beobachten. Und je nach Position seine Mitsprache oder Entscheidungsmacht geltend zu machen. Zum Beispiel an einem Verwaltungsgericht: Die Logik sollte nicht sein: Hauptsache alle Stellen sind besetzt und alle Rechtsgebiete werden bearbeitet. Sondern es kann eben einen Unterschied machen, warum eine Person unbedingt das Versammlungsrecht oder das Verfassungsschutzrecht bearbeiten will. Ein sehr krasses Beispiel kennen wir vom Verwaltungsgericht Gießen. Auch nachdem 2019 ein Richter entschieden hat, der Slogan "Migration tötet" entspreche der Realität und sei nicht volksverhetzend, sah das Gericht keinen Anlass, dessen Zuständigkeit für das Migrationsrecht zu überdenken. Es musste erst das Bundesverfassungsgericht die Befangenheit des Richters feststellen, damit man am Gericht in Gießen reagiert. Das zeigt: In jedem einzelnen Gericht sollte man seine Verantwortung bedenken und prüfen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Laude.
Über das Projekt: Der Verfassungsblog ist ein Open-Access-Forum zur Debatte über Entwicklungen in Verfassungsrecht und Verfassungspolitik. Seit Jahren wird dort beobachtet, wie autoritär-populistische Parteien in anderen Staaten, wie z.B. Polen und Ungarn, versuchen, Demokratie und Rechtsstaat auszuhebeln. Um zu untersuchen, ob derartige Szenarien auch in Deutschland möglich sind und wie man ihnen begegnen kann, hat der Verfassungsblog 2023 das "Thüringen-Projekt" initiiert. Am Beispiel des Freistaats Thüringen wird erforscht, was passieren könnte, wenn autoritär-populistische Parteien staatliche Machtmittel in einem Land in die Hand bekommen.
Über den Gesprächspartner: Lennart Laude arbeitet als Rechtsanwalt in einer Großkanzlei und unterstützt ehrenamtlich nebenbei das Thüringen-Projekt. In diesem ist er vor allem für die Recherche in den Bereichen Justiz und Medien verantwortlich.
Thüringen: . In: Legal Tribune Online, 15.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54334 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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