Der BGH hat einen Antrag des Piratenpolitikers Patrick Breyer auf Übersendung eines Strafurteils des LG Kiel abgelehnt. Der Senat widerspricht damit nicht nur den Kollegen aus dem Zivilrecht, sondern auch dem BVerfG, erklärt Martin W. Huff.
Immer wieder gibt es Auseinandersetzungen um die Frage, wie Journalisten, Rechtsanwälte und Bürger an sie interessierende Gerichtsentscheidungen kommen. Ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus September 2015 (Az. 1 BvR 857/15) versprach zwischenzeitlich Rechtsklarheit, doch wer das glaubte, wurde enttäuscht.
Die Karlsruher Richter entschieden damals, dass Medien im Grundsatz einen Anspruch auf Zugang zu anonymisierten Gerichtsentscheidungen haben, auch wenn es sich um ein nicht rechtskräftiges Strafurteil handelt. Zwei Jahre später setzte dann der Bundesgerichtshof (BGH) diese Entscheidung ausgesprochen verbraucherfreundlich um und bestätigte auch in Zivilsachen einen Anspruch interessierter Dritter auf Zugang zu anonymisierten Abschriften (Beschl. v. 05.04.2017, Az. IV AR(VZ) 2/16).
Der 5. Strafsenat dagegen sieht dies für strafrechtliche Urteile nun wieder anders. In seinem bisher nicht auf der Homepage des Gerichts veröffentlichen Beschluss (20.6.2018, Az. 5 AR (Vs) 112/17*) weist er einen Antrag des Bürgerrechtlers Dr. Patrick Breyer (Piratenpartei) auf Übersendung einer anonymisierten Abschrift eines Strafurteils des Landgerichts Kiel (LG) ab.
Offener Widerspruch zu Zivilsenat und BVerfG
Nach § 475 Strafprozessordnung (StPO), so die Begründung, sei eine Übersendung auch anonymisierter Entscheidungen überhaupt nur bei einem berechtigten Interesse möglich, argumentiert der Senat. Ansonsten werde das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen (Angeklagter, Opfer, Zeugen) tangiert. "Denn Strafurteile enthalten teilweise bis in den Kernbereich des Persönlichkeitsrechts hineinreichende Angaben insbesondere über den Verurteilten, das Opfer der Straftat oder über das Tatgeschehen selbst, bei denen kaum je auszuschließen ist, dass ein Personenbezug trotz Anonymisierung hergestellt werden kann", schreiben die Richter zur Begründung.
Demnach, so die Leipziger Strafrichter, lasse sich auch darüber hinaus "jedenfalls für private Dritte kein neben § 475 StPO tretender voraussetzungsloser Anspruch auf Herausgabe einer anonymisierten Urteilsabschrift herleiten". Sie setzen sich damit in offenen Widerspruch zum BVerfG und ihren Kollegen aus dem 4. Zivilsenat, die einen solchen Anspruch aus dem Rechtsstaatsgebot einschließlich der Justizgewährungspflicht, dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Gewaltenteilung hergeleitet hatten.
"Eine derartige Intransparenz der Justiz ist nicht zeitgemäß", kritisiert Antragssteller Breyer die Entscheidung. "Wenn unsere Gerichte im Namen des Volkes urteilen, sind sie dem Bürger auch Rechenschaft schuldig. In einem Rechtsstaat muss jeder Bürger seine Rechte und Pflichten in Erfahrung bringen können. Auch eine kritische Diskussion von Urteilen setzt voraus, dass sie auf Anfrage anonymisiert herausgegeben werden. Die Bundesjustizministerin sollte jetzt umgehend eine gesetzliche Regelung der Publikationspflicht der Gerichte und des Zugangsanspruchs der Öffentlichkeit auf den Weg bringen."
BGH-Richter hätten Vereinigten Großen Senat anrufen sollen
Allerdings überzeugt schon die Begründung des Strafsenats nicht. Denn wer eine Verhandlung als Bürger oder Medienvertreter verfolgt hat, entweder im Gerichtssaal oder durch Berichterstattung, der wird immer in der Lage sein, einen Personenbezug herzustellen. Aufgabe der Gerichte ist es dabei nur, dafür zu sorgen, dass die anonymisierte Fassung der Entscheidungen einen solchen Personenbezug nicht erkennen lässt. So galt schon bisher, auch bei der Versendung von Gerichtsentscheidungen an Fachpublikationen, dass zum Beispiel Aussagen, die in nicht-öffentlicher Sitzung gemacht wurden, in den Urteilsgründen anonymisiert werden dürfen.
Im Übrigen hätte es sich in diesem Fall angeboten, den Vereinigten Großen Senat des BGH anzurufen, da der Strafsenat in einer Rechtsfrage von der Auffassung des Zivilsenats abweicht. Zwar hat letzterer diese Frage naturgemäß nur für Zivilsachen geklärt, seine Ausführungen sind aber auf Strafentscheidungen zu übertragen. Denn laut seiner Entscheidung sind anonymisierte Abschriften auch ohne die Einhaltung der Grundsätze der Akteneinsicht gemäß § 299 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) zu übersenden. In der Struktur entspricht § 299 ZPO aber genau dem § 475 StPO, den die Strafrichter für ihre Ablehnung heranzogen.
Es wäre gut gewesen, wenn der Strafsenat hier für eine einheitliche Rechtsprechung gesorgt hätte. Nun aber muss entweder erneut das BVerfG, sofern Breyer es anruft, darüber entscheiden oder aber das Bundesjustizministerium muss sich Gedanken machen, ob es nicht von sich aus für eine Klarstellung in den Verfahrensvorschriften sorgt.
Der Autor ist Geschäftsführer der Rechtsanwaltskammer Köln und Rechtsanwalt in der Sozietät Legerlotz Laschet Rechtsanwälte in Köln.
*Der Beschluss wurde mittlerweile auf der Homepage von Dr. Breyer veröffentlicht
BGH verneint Anspruch auf anonymisierte Urteile der Strafgerichte: . In: Legal Tribune Online, 29.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30619 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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