Als Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft im Oktober 1950 ihre Arbeit aufnahmen, gab es einen großen Festakt. 70 Jahre später fiel der Festakt aus, stattdessen gab es eine Live-Sendung im Fernsehen. Christian Rath saß vor dem Schirm.
Corona ändert auch die Form von Justizjubiläen. Eigentlich war die Schwarzwaldhalle mitten in Karlsruhe gebucht. Mit 1400 Gästen aus dem In- und Ausland sollte der 70. Geburtstag von Bundesgerichtshof und Bundesanwaltschaft gefeiert werden. Doch dann kam die Pandemie und ein ganz neuer Plan. ARD-Rechtskorrespondent Frank Bräutigam diskutierte mit Gästen über den Rechtsstaat in Deutschland: Bildungs-Fernsehen live aus dem Bundesgerichtshof, im Hintergrund war stets das neobarocke alte BGH-Gebäude zu sehen - nicht als Fototapete, sondern in echt.
Wie aber feiert man Gerichts-Geburtstag im TV? Zunächst durften BGH-Präsidentin Bettina Limperg und Generalbundesanwalt Peter Frank ganz sachlich erläutern, was ihre Institutionen eigentlich machen. Dann wurden Bundespräsident Frank Walter Steinmeier und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, mit freundlichen Glückwunsch-Grüßen eingespielt. Und schließlich diskutierte Bräutigam live mit Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), dem Stuttgarter Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) und der Verfassungsrichterin Susanne Baer. Fernsehtitel: "Bilder der Justiz - Abbilder der Gesellschaft".
Erstaunlich, dass die Sondersendung nur im Regionalsender SWR übertragen wurde, so als ob es hier um das Karlsruher Oberlandesgericht ging und nicht um die Spitze der Bundesjustiz. Aber Phoenix übertrug lieber die zeitgleiche Bundestagsdebatte, unter anderem zum Meeresschutz in der Antarktis.
Belastete Vergangenheit
Bundespräsident Steinmeier fand es gut, dass der BGH das Jahr 1950 als Bezugspunkt für seine Jubiläen wählt und nicht 1879, als das Reichsgericht, der BGH-Vorgänger, gegründet wurde. Dennoch sei natürlich auch der Anfang des BGHs NS-belastet gewesen. Dies wurde dann auch intensiv thematisiert und sowohl die BGH-Präsidentin als auch der Generalbundesanwalt konnten versichern, dass bereits eine Aufarbeitung der jeweiligen Frühphase ihrer Institutionen begonnen habe. Man wolle herausfinden, wie stark die personellen Kontinuitäten auch zu inhaltlichen Fortwirkungen in der Rechtsprechung führten. Kretschmann begrüßte dies mit gewisser Dialektik: "Es ist richtig, dass das bis in alle Verästelungen aufgeklärt wird. Aber dann muss man auch mal abschließen."
Dass sich das Bild der Justiz geändert hat, zeigte Moderator Bräutigam mit einem Fotovergleich. Zunächst ein BGH-Senat der 1950er-Jahre: fünf alte Männer: Dann der aktuelle vierte BGH-Zivilsenat: vier Frauen und ein Mann (der freilich den Vorsitz innehat). Ganz so emanzipatorisch ist die Lage am BGH aber nur sehr vereinzelt. Insgesamt liegt der Frauen-Anteil der BGH-Richterschaft derzeit bei rund 35 Prozent - und da hängt er schon lange fest.
"Die Richterbank muss die Vielfalt der Gesellschaft zwar nicht wiederspiegeln", so Verfassungsrichterin Baer, "aber sie aufnehmen". Die Leute müssten sich von der Justiz gesehen und verstanden fühlen. "Vielfalt auf der Richterbank signalisiert, dass das pralle Leben, das hier verhandelt wird, auf offene Ohren stößt", betonte die Feministin.
Geld und Wertschätzung
Frank Bräutigam zitierte den Roland-Rechtsreport, wonach zwar stabil 65 Prozent der Bürger Vertrauen in die Justiz haben. Allerdings fänden 85 Prozent der Befragten die Justiz zu langsam, 59 Prozent fänden die Urteile zu milde und für 56 Prozent ist alles zu kompliziert. Verfassungsrichterin Baer zeigte sich "erschüttert". Doch Justizministerin Lambrecht erinnerte an den Pakt für den Rechtstaat, mit dem bereits 1600 zusätzliche Richterstellen geschaffen wurden. Außerdem habe sie voriges Jahr mit einer Plakataktion "Wir sind Rechtstaat" viele interessante Diskussionen angestoßen.
Baer forderte dagegen mehr Gehalt für Richter, mehr Wertschätzung und bessere Ausstattung am Arbeitsplatz. "So kann man aus dem Stiefkind Justiz die Lieblingstochter machen". Ministerpräsident Kretschmann glaubt jedoch, dass die Akzeptanzprobleme des Rechtstaats gar nicht von der Justiz kommen, sondern von den viel zu komplizierten Gesetzen. "Wenn wir als Landesregierung für bestimmte Materien spezialisierte Anwaltskanzleien brauchen, weil der Beamtenapparat das nicht mehr leisten kann, dann haben wir ein großes Problem."
Reden, reden, reden
Susanne Baer wollte aber nicht nur an den Staat appellieren, sondern sah auch die Justiz in der Pflicht. "Wenn wir verstanden werden wollen, dann müssen wir reden, reden, reden." Der Schüler Yannik Tausch schlug aus dem Publikum vor, Kameras in die Gerichte zu lassen und geeignete Gerichtsverhandlungen zu übertragen. Seine Mitschülerin Martha Gescher stellte fest, dass die Justiz in den sozialen Medien, aus denen sie sich informiere, kaum vorkomme - "außer es stehen Influencer vor Gericht".
Ein wichtiger Dialog-Ort könne das in Karlsruhe geplante "Forum Recht" werden, warb der Kunstprofessor Matthias Bruhn. Dort dürfe es aber keine "One-Way-Kommunikation" geben, bei der die Rechtsprechung den Bürgern "mundgerecht" präsentiert wird. Er forderte dagegen eine interaktive Plattform zum Ausprobieren und Probehandeln, so könnten die Bürger mit dem Rechtsstaat ins Gespräch kommen.
70 Jahre BGH und GBA: . In: Legal Tribune Online, 08.10.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43052 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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