Strafrechtler drängen darauf, wichtige Reformen in StPO und StGB anzupacken. U.a. müssten Bagatelldelikte entkriminalisiert und das Strafbefehlsverfahren neugestaltet werden. Heftige Kritik übten sie am Referentenentwurf zu Cannabis.
Nach vier Jahren – vor allem coronabedingter – Pause sind am vergangenen Wochenende in Berlin erstmals wieder mehr als 850 Strafrechtler:innen aus Wissenschaft und Praxis auf einem Strafverteidigertag in Präsenz zusammengekommen. "Ist unser Rechtsstaat eigentlich noch zu retten?", lautete das durchaus dramatisch klingende Motto der Tagung.
In seinem Eröffnungsvortrag beklagte Stefan Conen, Anwalt und Mitglied des Ausschusses Strafrecht im Deutschen Anwaltverein DAV*, eine bedenkliche Entwicklung. Seine Beobachtung: Die Politik bediene sich zunehmend des Strafrechts, um alle möglichen gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Damit verabschiede sie sich immer mehr vom spezialpräventiv ausgerichteten Schuldstrafrecht. Das Strafrecht verwandele sich zunehmend in ein rein funktionales Strafrecht. "Entgrenzt und tendenziell uferlos", so Conen. Die Kritik der Strafverteidigervereinigungen: "Im funktionalen Strafrecht ist der Mensch nur zum Gehorsam gegenüber der Norm zu veranlassen und Adressat der an ihren generalpräventiven Wirkungen zu messenden Zwangsmaßnahmen."
Ob und vor allem wie nun der Rechtsstaat "noch zu retten" ist, wurde sowohl im großen Plenum des Strafverteidigertags als auch in sieben speziellen Arbeitsgruppen intensiv diskutiert. Dabei machten die Expert:innen zahlreiche, aus ihrer Sicht reformbedürftige Schwachstellen des deutschen Straf- und Strafprozessrechts aus. Der Politik schrieben sie diverse Hausaufgaben ins Stammbuch.
Verpflichtende Dokumentation auch des Ermittlungsverfahrens
Dringend aufgefordert wird die Ampel-Koalition bzw. das Bundesministerium der Justiz (BMJ) etwa, neben der bereits vergangene Woche auf den Weg gebrachten vollständigen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung auch eine verpflichtende Dokumentation des Ermittlungsverfahrens in Angriff zu nehmen.
Das Vorhaben ist grundsätzlich im Koalitionsvertrag vereinbart und die Strafverteidiger:innen machen jetzt Druck: "In Zeiten, in denen praktisch jeder ein mobiles Endgerät in der Tasche mit sich herumträgt, das in der Lage ist, Aufzeichnungen in HD-Qualität zu fertigen, ist nicht zu erklären, warum ausgerechnet polizeiliche Vernehmungen und Ermittlungshandlungen nicht wenigstens akustisch aufgezeichnet werden", heißt es in ihrem Beschluss. Eine "geradezu archaische Dokumentationstechnik" verleihe derzeit polizeilichen Vernehmungsbeamten "eine unangemessene Definitionsmacht über den Inhalt des Vernehmungsprotokolls". Vonnöten sei daher eine gesetzliche Pflicht zur Dokumentation, die die gesamte Kommunikation mit Zeugen und Beteiligten ab dem ersten Verdacht einer Straftat umfasse, – also auch Spontanäußerungen von Zeugen oder Einlassungen von Tatverdächtigen außerhalb formeller Vernehmungen (bspw. im Polizeifahrzeug)".
Auch an ein weiteres Versprechen aus dem Koalitionsvertrag erinnern die Strafverteidiger:innen die Politik: So sei es an der Zeit, endlich den Einsatz privater V-Personen auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Ihr Einsatz im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen stoße "seit jeher" auf verfassungsrechtliche Bedenken. "Auch wo keine Anstiftung zu dann verfolgten Straftaten erfolgt, greift der V-Personeneinsatz regelhaft ein in das informationelle Selbstbestimmungsrecht, in die Unverletzlichkeit der Wohnung, in den Anspruch auf ein faires Verfahren und letztlich unmittelbar auch in die Menschenwürde", kritisieren die Verteidiger:innen. Eine gesetzliche Regelung dürfe nicht regelmäßig mit dem Verweis auf die Vertrauenswürdigkeit der Ermittlungsbehörden abgetan werden. Vollständig verboten werden soll aus Sicht der Strafrechtler:innen die sogenannte Tatprovokation als Teil der V-Personenpraxis. "Eine Tatprovokation, die nicht rechtsstaatswidrig ist, kann es aus Sicht des Strafverteidigertages nicht geben."
Verteidigung zum frühestmöglichen Zeitpunkt
Weiter ermahnten die Expert:innen die Ampel, ihre Ankündigung in Sachen Zeitpunkt der Verteidigerbestellung aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen. "Wir stellen die Verteidigung der Beschuldigten mit Beginn der ersten Vernehmung sicher", hatten SPD, Grüne und FDP darin vereinbart.
In den finalen Tagungsthesen heißt es hierzu: "Vor der ersten polizeilichen Vernehmung ist in Fällen der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Verteidigers notwendiger als in der Situation, in der er einer neutralen Instanz– sprich: einem Richter – vorgeführt wird". Es sei ein Systembruch, "dass in Fällen der notwendigen Verteidigung, die der Beschuldigte generell unabhängig von seinem Willen erfährt, in der für ihn kritischsten Situation der ersten Konfrontation mit den Ermittlungsbehörden, die Notwendigkeit zu seiner Disposition gestellt sein soll und er einen vom Gesetz als notwendig angesehenen Verteidiger nur auf Antrag bekommt".
Neugestaltung des Strafbefehlsverfahrens
Reformbedarf sehen die Verteidiger:innen schließlich auch beim Strafbefehlsverfahren. Als vereinfachte Verfahrenserledigung dürfe dieses nicht allein der Hoheit von Polizei und Staatsanwaltschaft unterliegen. "In seiner jetzigen Ausgestaltung ist das Strafbefehlsverfahren eine Ursache für die überhohe Zahl an verhängten Ersatzfreiheitsstrafen", lautet die Kritik.
Im Rahmen einer Reform müsse z.B. geregelt werden, dass die Festsetzung der Tagessatzhöhe eine wirksame Erforschung der wirtschaftlichen Verhältnisse voraussetze und der Strafbefehl einer für den Beschuldigten verständlichen Sprache verfasst sei. Überhaupt dürfe es keine Urteile mehr gegen unverteidigte, rechtsunkundige Beschuldigte geben: "In Strafbefehlsverfahren ist immer von einem Fall notwendiger Verteidigung auszugehen."
Entkriminalisierung von Bagatelldelikten
Wie das BMJ grundsätzlich auch, sind die Strafverteidiger: innen der Meinung, dass das StGB an der einen oder anderen Stelle entrümpelt werden muss: Durch die Entkriminalisierung von Bagatelldelikten sei eine erhebliche Entlastung der Strafjustiz auf denkbar einfachste Weise zu erreichen, heißt es. Eine ganze Reihe von Straftatbeständen könnten aus Sicht der Strafrechtler:innen gestrichen werden:
"Am prominentesten ist hier das sog. Erschleichen von Leistungen gem. § 265a Strafgesetzbuch (StGB) – zumeist die sog. Beförderungserschleichung – zu nennen. Auch kleine Eigentums- und Vermögensdelikte bedürfen keiner strafrechtlichen Sanktion (§§ 248 a bis c StGB (Diebstahl geringwertiger Sachen, unbefugter Gebrauch eines KfZ, Entziehung von elektr. Energie). Jede Verurteilung wegen Ladendiebstahls und Unterschlagung geringwertiger Sachen (§§ 242, b, 246, 263 StGB), wegen Schwarzfahrens (§ 265a StGB) oder des Konsums von Freizeitdrogen führt die Rede vom ‚Strafrecht als Ultima Ratio‘ ad absurdum."
Da sich die strafrechtliche Verfolgung solcher Bagatelldelikte sich überwiegend gegen ohnehin sozial abgehängte Tätergruppen richte, handele es sich in der Regel um eine Bestrafung der Armen.
"Cannabis-Besitz uneingeschränkt straflos stellen"
Apropos "Konsum von Freizeitdrogen": Jedenfalls in seiner bisherigen Form lehnen die Strafrechtler:innen den Gesetzentwurf für ein Cannabisgesetz ab. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte diesen kürzlich in die Ressortabstimmung gegeben. LTO hat ihn veröffentlicht.
Der Entwurf enthalte so viele in sich widersprüchliche und nicht kontrollierbare Vorgaben an die Konsumierenden, so die Kritik. "Die Subtexte (…) enthalten die Etikettierung von Konsumierenden als besonders gefährliche Bürger, deren Genussgewohnheiten nur durch besonders restriktive Regelungen in Zaum gehalten werden können". Der Besitz von Cannabis zum Eigenkonsum müsse ohne Einschränkung straflos gestellt werden, so die Strafrechtler: innen.
Ob die Ampel indes diesem Wunsch – zumindest ein stückweit – bis zum 45. Strafverteidigertag, der irgendwann im ersten Halbjahr 2024 in Hamburg stattfinden soll, nachkommt? Im Koalitionsvertrag jedenfalls wurde eine umfassende Legalisierung und Entkriminalisierung versprochen. Wie so manches.
*Korrektur am Tag des Erscheinens, 20.51 Uhr: RA Stefan Conen ist nicht mehr Vorsitzender der Berliner Strafverteidigervereinigung.
Ergebnisse des 44. Strafverteidigertages: . In: Legal Tribune Online, 15.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51780 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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