Der BGH hat zu Gunsten von Legal-Tech-Unternehmen kürzlich entscheidende Pflöcke in den Boden gerammt. Ihr Siegeszug wird damit nicht mehr zu stoppen sein. Darauf sollten sich auch BRAK und DAV einstellen, meint Volker Römermann.
23,49 Euro. Das ist der Betrag, um den in der Hauptsache beim Bundesgerichtshof (BGH) in Sachen Lexfox gestritten wird. Eigentlich geht es aber um "alles", um das große Ganze, darum, wer den Rechtsdienstleistungsmarkt beherrscht: Die Anwaltschaft, wie herkömmlich, oder die neuen Legal-Tech-Anbieter, die seit einigen Jahren im Begriff sind, wachsende Teile der Nachfrage zu bedienen.
Die neuen Anbieter treten dabei als Inkassounternehmen auf, aber es wäre ein Missverständnis, sie gleichzusetzen mit früheren automatisierten Eintreibern geringwertiger, unstreitiger und unproblematischer Forderungen. Die neuen Anbieter wissen, wie Recht geht. Sie können auch EDV. Aber vor allem verfügen sie über eine Kunst, die den Institutionen der Anwaltschaft, den Anwaltskammern wie auch – horribilie dictu – dem Deutschen Anwaltverein, weitgehend abhanden gekommen ist: Sie hören zu.
Sie haben bemerkt, wie sich die Welt verändert hat. Sie wissen, was das Publikum will. Juristen nennen dieses Publikum "Rechtsuchende" und legen damit schon ihre tiefgehende Entfremdung von denen, von denen sie leben, offen. Diese Menschen suchen nämlich gar nicht "das Recht". Sie haben ein Interesse, das sie effizient, kostengünstig, risikoarm durchsetzen wollen. Dabei benötigen sie Unterstützung. Die soll einfach sein, im Jahre 2019 fordert der Nachfrager guten Service. Die Institutionen der Anwaltschaft meinen, sie könnten ihren Blick noch auf die Angebotsseite konzentrieren. Wenn dort ein paar mehr Fortbildungsstunden vorgeschrieben werden und Anwälte den LL.M. in Tokyo absolvieren, dann würden ihnen die Mandate zuströmen. Weit gefehlt.
Der Markt ist heute ein Nachfrager-Markt. Das Publikum ist gut informiert und diktiert die Spielregeln. Wer das sieht und beherzigt, wird erfolgreich sein; wer nicht, ist zum Untergang verdammt. Die Institutionen der Anwaltschaft verharren in dem lieb gewordenen Glauben, sie könnten ihr angestammtes Berufsrecht verteidigen und innovative Anbieter verbieten lassen. Ja, mancher spricht davon, man müsse Mandanten "erziehen", etwa wenn es um Antwortgeschwindigkeit bei elektronischer Kommunikation geht. Mit solchen Denkansätzen haben die organisierten Anwälte die Hoheit über Innovationen auf dem Rechtssektor aufgegeben.
"Siegeszug nicht mehr zu stoppen"
Innovation ist eine Sache der neuen Anbieter geworden und ihren Siegeszug wird auch das Reförmchen nicht stoppen, das das BMJV im Eckpunktepapier vom 27.8.2019 ankündigt. Mit der Entscheidung des BGH vom 27.11.2019 (Az. VIII ZR 285/18) sind die Legal-Tech-Unternehmen eine Etappe weiter gekommen.
Lexfox, früher Mietright, macht für Mieter Ansprüche gegen Vermieter geltend. Mieter treten ihre Ansprüche an das Inkassounternehmen Lexfox ab, das gegen Erfolgshonorar gegen Vermieter vorgeht. Das ist, so stellt der BGH nun fest, von der Befugnis eines Inkassounternehmens gedeckt. "Noch“, wie es im Klammerzusatz heißt. "Noch gedeckt" bedeutet: Die rechtliche Grauzone ist schon betreten, im konkreten Fall hat es für die gute Seite gereicht, schon bei einer leicht modifizierten Fallgestaltung kann es anders sein.
Der Klammerzusatz "noch" findet sich im BGH-Urteil an diversen Stellen, etwa ein Dutzend Mal, zum Teil sogar gleich zweifach in einem Satz. An einer Stelle heißt es außerdem: Für die Beurteilung der Legalität der Tätigkeit eines registrierten Inkassodienstleisters "lassen sich keine allgemeingültigen Maßstäbe aufstellen". Erforderlich sei eine "Würdigung der Umstände des Einzelfalls einschließlich einer Auslegung der hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen". Dabei seien auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen. Kurzum: Offener kann man Maßstäbe für künftige Prüfungen der Rechtslage kaum beschreiben.
Registrierung als Inkassounternehmen kein "sicherer Hafen"
Eines steht für die Praxis aber auch unabhängig von derartigen Formulierungen fest: Einen "sicheren Hafen" bietet die Registrierung als Inkassounternehmen nicht. Auch nach Erlass dieses Verwaltungsaktes werden Inkasso-Legal-Techs neben dem behördlichen Sanktions-Instrumentarium (§§ 13a, 14 Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG)) von der zivilrechtlichen Nichtigkeit (§ 134 Bürgerliches Gesetzbuch) ihrer Verträge und Abtretungen bedroht.
Der BGH behält sich einzelfallbezogene Prüfungen der Geschäftsmodelle und Aktivitäten vor – anhand der oben genannten, vagen Kriterien. Das führt zu Unsicherheiten und die Legal-Tech-Unternehmen müssen sich fragen, ob daraus besondere Belehrungspflichten gegenüber ihren Kunden resultieren. Schließlich geben sie Leistungsversprechen ab und werden daran gemessen, ob sie das rechtlich einhalten können.
Aber es gibt auch positive Neuigkeiten für die Inkasso-Anbieter. Mit einigen der von konservativen Stimmen vorgebrachten Argumenten räumt der BGH gründlich auf: So etwa mit der zu engstirnigen Auslegung des Inkassobegriffs, mit den gekünstelten Bedenken in Richtung auf eine Interessenkollision (§ 4 RDG) und mit dem Versuch, Inkassounternehmen gleich noch vom anwaltlichen Berufsrecht einverleiben zu lassen.
Was ist eigentlich "Inkasso"?
Nun ist geklärt, dass der Begriff "Inkasso", auf den sich die Erlaubnis der neuen Legal-Tech-Unternehmen bezieht, nicht eng, sondern großzügig auszulegen ist (vgl. Rn. 141 des BGH-Urteils). Auch das wird vom Mietrechtssenat indes sofort wieder relativiert, wenn man genau liest: Nicht "zu" eng soll ausgelegt werden und "eher" großzügig. Die Lexfox-Anträge werden zugelassen, obwohl sie nicht nur auf Zahlung gingen, sondern auch auf Feststellung. Und obgleich sich Lexfox nicht darauf beschränkte, zu klagen, sondern den Vermieter auch zur künftigen Unterlassung von überhöhten Mietforderungen aufforderte. Inkasso, das ist also nicht nur der Forderungseinzug im engeren Sinne, sondern kann zumindest in den Randbereichen erweitert werden.
Hier gilt es, das Terrain zu erkunden. In der mündlichen Verhandlung beim BGH war diskutiert worden, wie es um die Scheidung steht. Bei solchen Verfahren sind Unterhaltspflichten oft von vorneherein absehbar. Ist das dann ein Inkassomandat? Die Überlegung mag fern zu liegen scheinen, und doch: Wer bestimmt, wo die Bereiche zulässiger Anknüpfung "anderer" Rechtsfragen an Forderungen anfangen, wo enden? Zudem muss die Frage erlaubt sein, ob es verfassungsrechtlich überhaupt haltbar ist, auch schwierigste Forderungsprüfungen ohne Weiteres freizugeben – weil "Inkasso" -, einfache Auskunftsverlangen sonstiger, nicht akzessorischer Art aber nicht. Ist diese Ungleichbehandlung zu rechtfertigen (Art. 3 GG)?
Schutzzweck des RDG kann schließlich nur die Sicherung der Rechtspflege sein, oder anders ausgedrückt: Die Abwehr von Quacksalbern auf einem Markt, der zum Schutz des Publikums gewisse Qualitätsstandards erfordert. Wenn diese Qualität im Zuge der Registrierung abgefragt wird, warum sollte es dann an der Formulierung von Klageanträgen hängen, ob eine Aktivität legal ist oder nicht?
Interessenkollision und anwaltliches Berufsrecht
Lexfox bietet, wie viele andere Anbieter, eine Kombination aus Forderungsabtretung und Erfolgshonorar. Daraus hatten in der Vergangenheit manche Kritiker einen Interessengegensatz abzuleiten versucht. Anders der BGH, der zu Recht auf den "(prinzipiellen) Gleichlauf der Interessen“ von Lexfox und Mietern (Kunden) verweist. Aber auch hier beeilt sich der BGH, die Tür einen Spalt dafür offen zu lassen, indem er überlegt, "ob es Fälle geben kann, in denen zum Schutz des Rechtsverkehrs und der rechtsuchenden Kunden des Inkassodienstleisters eine erweiternde Auslegung oder analoge Anwendung (…) des § 4 RDG geboten sein kann, wenn (…) eine Interessenkollision besteht".
Das anwaltliche Berufsrecht ist auf Nichtanwälte nicht anzuwenden. Eine scheinbar banale Feststellung, und doch hatten Teile des Schrifttums die sinngemäße Anwendung bejaht. Soweit eingeräumt wird, dass das methodisch nicht geht, wird – so jüngst noch von der BRAK im Oktober 2019 – verlangt, dass der Gesetzgeber einschreiten und Inkassounternehmen die gleichen Verbote wie der Anwaltschaft aufzuerlegen möge. Wie das unter Geltung des Grundgesetzes umsetzbar sein könnte, verraten die Ideengeber nicht. Dabei zeigen inzwischen Hunderttausende von Mandaten, die durch Legal-Tech-Unternehmen bearbeitet wurden, dass es in der Praxis Gemeinwohlbelange, die ein Verbot rechtfertigen könnten (Art. 12 GG), nicht gibt.
Erfolgshonorar schon heute zulässig
Das gilt, so muss man heute sagen, auch für das angestammte Verbot des Erfolgshonorars. Nichtanwälten ist es ohne Weiteres gestattet, die Vergütung an den Erfolg zu koppeln. Im Anwaltsblatt 1996 habe ich zum ersten Mal öffentlich gefragt, wo denn die Gefahren lauerten, wenn Erfolgshonorare auch bei Anwälten freigegeben würden. Diese Frage ist bis heute unbeantwortet geblieben. Sogar Vertreter von BRAK und DAV äußern inzwischen öffentlich – wenn auch jeweils unter Hinweis darauf, das sei keine autorisierte Meinung der Institution – die Möglichkeit, Erfolgshonorare bis 2.000 Euro freizugeben.
Welche Gefahren ab 2.001 Euro bestehen, bleibt weiter unklar, aber immerhin: Es scheint auf einmal einen breiten Konsens dafür zu geben, das bisherige Verbot weiter zu lockern. Wenn das so ist, liegt darin zugleich die Erkenntnis, dass von Erfolgshonoraren keine Gefahren ausgehen – sogar bei Anwälten. Denn sonst müsste man sie strikt verbieten. Daraus wiederum folgt: Erfolgshonorare sind bei verfassungskonformer Betrachtung schon heute, Ende 2019 erlaubt, die dem Wortlaut nach bestehenden Verbote sind verfassungswidrig und nichtig.
99 Seiten umfasst nunmehr das erste BGH-Urteil in Sachen Legal Tech. Der für Mietrecht zuständige Senat hat entscheidende Pflöcke in den Boden gerammt, ein Grundsatzurteil zum Berufsrecht geschrieben. Der Nebel über dem sumpfigen Gelände des Rechtsdienstleistungsrechts beginnt sich zu lichten. Damit können die neuen Anbieter weiter arbeiten. Und die verfasste Anwaltschaft weiß, worauf sie sich einstellen muss. Mögen ihre Institutionen die Augen öffnen und rasch die dringend notwendigen Konsequenzen für das anwaltliche Berufsrecht ziehen: die Fesseln zu lösen, um chancengleich am Wettbewerb um Mandate teilnehmen zu können.
Prof. Dr. Volker Römermann ist Vorstand der Römermann Rechtsanwälte AG, Direktor des Forschungsinstituts für Anwaltsrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und President der German Speakers Association (GSA).
Nach dem BGH-Urteil zu wenigermiete.de: . In: Legal Tribune Online, 12.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39215 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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