Fast 6000 Entscheidungen trifft das beliebteste Gericht in Deutschland jedes Jahr im Durchschnitt. Hier kommen sechs handverlesene: Rundfunkbeitrag, streikende Beamte, Rotmilane, die NPD, Fixierung in der Psychiatrie und Presserecht.
1 - Innere Unsicherheit im Rechtsstaat?
Bei den wichtigsten Entscheidungen des Jahres vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) denkt man zuerst an Schlagworte wie Rundfunkbeitrag oder Beamtenstreikrecht. Große Aufmerksamkeit hat im Frühjahr 2018 aber eine gerade einmal sechs Randnummern kurze einstweilige Anordnung erregt. Die Kammer entschied, dass die Stadt Wetzlar ihre Stadthalle der NPD für eine Wahlkampfveranstaltung überlassen muss. Eigentlich ein absoluter Klassiker aus dem Uni-Kanon des Verwaltungsrechts und kaum erwähnenswert – wenn sich nicht die nordhessische Stadt geweigert hätte, die Karlsruher Entscheidung umzusetzen.
Als Begründung hatte die Stadt Wetzlar ausgeführt, dass die NPD keine Wahlkampfveranstaltung, sondern eine rechtsradikale "Veranstaltung mit Festivalcharakter" beabsichtige. Diese Argumentation reichte den mit dem Fall befassten Gerichten – das Verwaltungsgericht (VG) Gießen und der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Kassel – nicht aus.
Dass die Stadt Wetzlar aber den Richterspruch aus Karlsruhe offen missachtete, löste breite Besorgnis aus: Wird hier die gerichtliche Autorität in Frage gestellt? Auch wenn die rechtstaatlichen Verhältnisse in Deutschland von solchen wie etwa in der Türkei denkbar weit entfernt sind, erinnert der Vorgang daran, dass die Befolgung gerichtlicher Entscheidungen kein Selbstläufer ist.
Hinzu kam, dass sich die Entscheidung bei späterer Betrachtung in eine Reihe von Entscheidungen fügte, in denen Gerichte sich mit Politik und Behörden ein juristisches Kräftemessen lieferten: In NRW wird der als Gefährder eingestufte Sami A. abgeschoben, obwohl noch ein Eilverfahren beim Verwaltungsgericht läuft, in Bayern ignoriert die Politik hartnäckig eine gerichtliche Entscheidung zu den Dieselfahrverboten in München.
Was blieb dem BVerfG im Fall Wetzlar als Handlungsmittel? In einem Schreiben forderte es die zuständige Kommunalaufsichtsbehörde auf, den Vorfall aufzuklären, aufsichtsrechtliche Maßnahmen zu ergreifen und das Gericht unverzüglich davon zu unterrichten.
Die Antwort aus dem Regierungspräsidium Gießen: Niemand hatte die Absicht, sich rechtswidrig zu verhalten. Weitere Konsequenzen hatte der Zwischenfall nicht. Eine Irritation dürfte bleiben.
Sollte man kennen: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32853 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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