Am Dienstag beginnen die Verhandlungen der Fraktionen über ein neues Wahlrecht, nachdem das BVerfG das geltende für in Teilen nichtig erklärt hat. Die Zeit bis zur Bundestagswahl drängt, die Politik taktiert. Eberhard und Gerrit Lopau schlagen sichere Mandate für Direktwahlkandidaten nur noch bei absoluter Mehrheit vor. Und bei der Zweitstimmenwahl soll künftig der Beste gewinnen.
Angesichts der Erfahrungen mit der Dauer von Gesetzgebungsverfahren erscheint die Zeit bis zur Bundestagswahl im Herbst 2013 schon etwas knapp, möglichst noch im November sollen die Fraktionsverhandlungen abgeschlossen werden. Eine grundlegende Wahlrechtsreform auf der Basis sorgfältiger Analysen der Wahlsysteme des In- und Auslands ist damit ausgeschlossen. Es kann jetzt nur darum gehen, für die Bundestagswahl 2013 ein Wahlgesetz zu verabschieden, das den vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gesetzten Maßstäben gerecht wird, ohne die Perspektive für eine grundlegendere verfassungspolitische Reformdiskussion zu versperren.
Die Reaktionen der Politiker auf die Karlsruher Entscheidungen stimmen wenig hoffnungsvoll und werden insofern den Erwartungen gerecht. Ihre Vorschläge, dem Urteil Rechnung zu tragen, orientieren sich inhaltlich an den Konsequenzen, die sich als Vor- oder Nachteil für ihre jeweilige Partei ergeben. Die Opposition ist guter Dinge, nach ihrem Erfolg in Karlsruhe zügig eine Einigung zu erzielen, da die Regierungsparteien sich weitere Blamagen nicht leisten können. Horst Seehofer (CSU) hat zum Unmut der Kollegen der Schwesterpartei CDU angekündigt, er habe kein Problem damit, künftig alle Überhangmandate auszugleichen.
Auch wenn die Verhandlungen unter dieser Prämisse zügig abgeschlossen werden könnten, verbietet es sich wegen des erheblichen Zeitdrucks, die auch in der Bundesrepublik in fast regelmäßigen zeitlichen Intervallen aufkommenden Grundsatzdiskussionen über das Für und Wider der unterschiedlichen Wahlsysteme, vor allem des Mehrheitswahlrechts einerseits und des Verhältniswahlrechts andererseits, jetzt neu aufzuwerfen, wobei unvergessen ist, dass solche Diskussionen früher oft als Drohkulisse gegen kleinere Koalitionspartner errichtet wurden.
Das in der Bundesrepublik geltende Mischsystem sollte also im Zusammenhang mit dem vom BVerfG erzwungenen Wahlrechtsreformgesetz nicht in Frage gestellt werden. Vielmehr kann auf seiner Grundlage mit nur wenigen und nicht kapitalen Änderungen schnell eine verfassungskonforme Lösung schnell erreicht werden.
Das Ziel: Begrenzung der Überhangmandate ohne aufgeblähtes Parlament
Karlsruhe hat hauptsächlich eine Begrenzung der Zahl der so genannten Überhangmandate vorgegeben, die entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach den Zweitstimmen an Sitzen zustehen. Man mag diese Einschränkung des BVerfG für problematisch halten, da die Verfassungen anderer europäischer Staaten es gestatten, der in den Wahlen erfolgreichsten Partei einen Bonus von 10 Prozent der Parlamentssitze zu gewähren. Aber das höchste deutsche Gericht hat gesprochen und das neue Wahlrecht muss die Grundstrukturen des geltenden Mischsystems wahren.
Dabei muss das Parlament nicht aufgebläht werden, wie es die Anhänger von Ausgleichsmandaten befürworten. Vor allem die SPD will, wie nach den Wahlgesetzen für die Landtagswahlen teilweise schon üblich, eine Sitzverteilung nach dem Zweitstimmenergebnis dadurch erreichen, dass die Überhangmandate einer Partei durch Ausgleichsmandate der anderen Parteien gewissermaßen neutralisiert werden.
Zum Teil wird vorgeschlagen, zur Begrenzung der Gesamtzahl der Abgeordneten die Normalsitzzahl des Parlaments um 50 Mandate verringern, so dass es etwa nach dem Ergebnis der Bundestagswahl 2009 mit 24 Überhangmandaten und 24 Ausgleichsmandaten bei einer Gesamtabgeordnetenzahl von unter 600 bliebe.
Für die durch die Erststimmen vergebenen Direktmandate gilt in dem Mischwahlsystem der Bundesrepublik das Mehrheitswahlrecht. Der Wahlkreisbewerber, der die meisten Stimmen auf sich vereinigt, erhält den für den Wahlkreis bestimmten Parlamentssitz, und zwar gleichgültig, wie viele Stimmen er erhält. Da sich die Stimmen auf mehrere, künftig manchmal vielleicht sogar auf viele Bewerber verteilen, kann der Wahlgewinner nach bisher geltendem Wahlrecht mit deutlich unter 50 Prozent der Stimmen ein Direktmandat erringen.
Die Wahlstatistiken zeigen, dass die Wahlkreisgewinner in den Bundestagswahlen der Vergangenheit sehr unterschiedliche Stimmenanteile erhalten haben. Ein Wahlkreismandat konnten sie auch erlangen, wenn eine deutliche Mehrheit der Wähler dem Bewerber, der die meisten Stimmen erhalten hat, ihre Stimme verweigerte, indem sie anderen Bewerbern für das Direktmandat den Vorzug gab.
In reinen Mehrheitswahlrechtssystemen werden daher häufig zwei Wahlgänge durchgeführt: Im ersten Wahlgang muss der Gewählte 50 Prozent der Wählerstimmen errungen haben. Widrigenfalls findet ein zweiter Wahlgang statt, in dem die Wähler ihre Stimme neu vergeben können unter denjenigen, die im ersten Wahlgang die besten Ergebnisse erzielt haben, sei es, dass nur diese im zweiten Wahlgang als Kandidaten zugelassen sind, sei es, dass die Wähler von sich aus ihre Stimme im zweiten Durchgang nur den chancenreicheren Kandidaten geben.
Sichere Mandate nur noch für Direktwahlkandidaten mit absoluter Mehrheit
Vor diesem Hintergrund könnte das Problem der Überhangmandate so gelöst werden, dass die Direktwahlkandidaten ein sicheres Mandat nur erhalten, wenn sie von der Mehrheit der Stimmbürger, nach herkömmlicher Terminologie also mit absoluter Mehrheit gewählt worden sind.
Haben sie in ihrem Wahlkreis nur eine einfache (relative) Mehrheit errungen, so erhalten sie das Wahlkreismandat nur, wenn ihrer Partei nach dem Zweitstimmenergebnis das Mandat noch zusteht. Wenn die Wahl ein Ergebnis hatte, bei dem nach dem Wahlrecht vor der BVerfG-Entscheidung Überhangmandate vergeben worden wären, kann der Kandidat, der die höchste Stimmenzahl im Wahlkreis erreicht hat, nur noch ein Direktmandat erhalten, wenn das Zweitstimmenwahlergebnis es hergibt. Es würden also nicht mehr alle Wahlkreisgewinner ein Wahlkreismandat erhalten, sondern nur noch diejenigen, die bei den Erststimmen die besten Wahlergebnisse erzielt haben.
Bei der Verteilung der nach dem Zweitstimmenwahlergebnis den Parteien zustehenden Mandate wären dann vorrangig die Gewinner der Wahlkreise zu berücksichtigen, die für diese Parteien kandidiert haben. Haben die Wahlkreiskandidaten jedoch nur eine relative Stimmenmehrheit errungen, erhalten sie das Wahlkreismandat nur, wenn das Zweitstimmenwahlergebnis dies deckt. Könnten danach nicht alle Wahlkreisgewinner ein Mandat bekommen, wenn also nach bisherigem Bundestagswahlrecht Überhangmandate anfallen würden, müssten die Mandate unter den Wahlkreisgewinnern mit den besten Ergebnissen verteilt werden.
Zweitstimmenwahl: Möge der Beste gewinnen.
Dabei werden die Wahlkreiskandidaten mit relativen Stimmenmehrheiten vorrangig berücksichtigt, welche die höchste Stimmenzahl oder den höchsten Stimmenanteil in ihrem Wahlkreis erhalten haben. Es wird also eine Rangfolge der Wahlkreisbesten mit nur relativen Stimmenmehrheiten aufgestellt.
Dabei sollte die Stimmenzahl maßgeblich sein. Eine unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den Wahlkreisen würde sich dann so auswirken, dass die Bürger in den Wahlkreisen mit höherer Wahlbeteiligung eine größere Chance hätten, ihre regionalen Kandidaten in den Bundestag zu entsenden. Alternativ könnte man die Rangfolge auch nach den Stimmanteilen bezogen auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten ermitteln, um nicht bei unterschiedlichen Wahlkreisgrößen die größeren Wahlkreise zu bevorzugen.
Bei einer so geringfügigen Modifizierung des geltenden Wahlrechts erledigt sich das Problem der Überhangmandate verfassungsfest und verfassungsgerichtsfest. Nur theoretisch lassen sich Fälle konstruieren, in denen es eine Überzahl von Wahlkreisgewinnern mit absoluten Mehrheiten gegenüber der Sitzverteilung nach dem Zweitstimmenergebnis gibt. Die Wahlergebnisstatistiken sprechen insoweit eine deutliche Sprache.
Eine saubere Reform mit marginalen Änderungen
Nachteilig wäre, dass nicht mehr alle Wahlkreise im Bundestag durch einen direkt gewählten Abgeordneten vertreten sind. Aber dieser Nachteil ist hinzunehmen gegenüber dem gravierenderen Problem der Verzerrung des Wahlergebnisses durch Überhangmandate beziehungsweise der Aufblähung des Parlaments durch Ausgleichsmandate. Auch hätten es die Wähler in der Hand, mit ihrer Stimme ein Wahlergebnis zustande zu bringen, das dem Wahlkreisbewerber einen Parlamentssitz beschert.
Für die meisten Fälle könnte das Problem der Überhangmandate auch mit einer Bundesliste gelöst werden. Diese könnte aber die bisherige, als vorteilhaft empfundene Regionalisierung der Bundestagswahlen durch Landeslisten nicht erhalten.
Auf dem vorgeschlagenen Weg wäre mit marginalen Veränderungen des geltenden Rechts ein verfassungsmäßiges Bundestagswahlrecht zu kreieren - gewissermaßen nach dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs in das geltende Recht. Der Regelungsaufwand wäre angesichts der knappen für die Reform zur Verfügung stehenden Zeit so gering wie möglich. Das Zeitproblem jedenfalls könnte niemand mehr gegen eine vernünftige Reform ins Feld führen kann.
Der Autor Prof. Dr. Eberhard Lopau war zuletzt Professor für Wirtschafts- und Sozialrecht an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim. Zuvor arbeitete er als Geschäftsführer juristischer Fachverlage sowie als Dozent für Wirtschaftsprivatrecht an der Universität Gießen.
Der Autor Gerrit Lopau ist Rechtsanwalt in Hannover.
Mit Materialien von dpa.
Prof. Dr. Eberhard Lopau, Gerrit Lopau, Neues Bundeswahlgesetz nach dem Karlsruher Urteil: Die absolute Mehrheit und die Auslese der Besten . In: Legal Tribune Online, 28.08.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6943/ (abgerufen am: 08.07.2024 )
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