Das Zimmer in der Unterkunft ist für Flüchtlinge der einzige Raum, in dem sie eine Privatsphäre haben können. Für den VGH Baden-Württemberg fallen diese Räume daher in den grundrechtlich geschützten Bereich der Wohnung.
Viel Platz haben Bewohner und Bewohnerinnen einer Flüchtlingsunterkunft nicht. In der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) Freiburg etwa sind es pro Person sieben Quadratmeter. Dieser zugewiesene Raum sei die einzige verbleibende Möglichkeit für die Menschen, sich eine gewisse Privatsphäre zu schaffen und ungestört zu sein, so die Richterinnen am 12. Senat des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg. Diese Zimmer seien daher eine Wohnung iSd Art. 13 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Die Entscheidungsgründe sind nun veröffentlicht (Urt. v. 24.02.2022, Az. 12 S 4089/20).
Das zugrunde liegende Verfahren geführt hatten inzwischen ehemalige Bewohner der LEA Freiburg unterstützt von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), Pro Asyl, der Aktion Bleiberecht und dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Sie wandten sich gegen eine Regelung in der inzwischen ersetzten Hausordnung. Diese hatte es u.a. dem Sicherheitspersonal auch bei Abwesenheit der Bewohner und Bewohnerinnen erlaubt, deren e nicht abschließbaren Zimmer zu öffnen und zu "betreten, um eine der Sicherheit und Ordnung drohende, unmittelbare Gefahr abzuwenden (insbesondere um bauliche, technische oder hygienische Mängel zu beheben und um unbefugte Personen aus der Einrichtung zu verweisen", hieß es in § 11 Abs. 4 der Hausordnung.
Den Wohnzwecken gewidmet
Diese Regelung war allerdings rechtswidrig, entschied der VGH. Die Zimmer der Bewohner und Bewohnerinnen, in denen sich zugleich ihre Schlafstätte befinde, seien eine Wohnung iSd Art. 13 Abs. 1 GG. Der Begriff sei aufgrund des engen Zusammenhangs mit der Menschenwürdegarantie weit auszulegen. Darunter fielen alle privaten Wohnzwecken gewidmete Räumlichkeiten, in denen der Mensch das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden.
Das gelte auch dann, wenn ein Mensch sich den Raum wie in der Erstaufnahmeeinrichtung in Freiburg mit bis zu zwei weiteren, ihm zuvor nicht bekannten Personen teilen muss. Denn dort sei die einzige verbleibende Möglichkeit, sich – für die vorübergehende, allerdings auch verpflichtende Dauer der Zuweisung – auf dem Gelände eine gewisse Privatsphäre zu schaffen und ungestört zu sein.
Zwar müssten die Flüchtlinge in einer solchen Unterkunft wegen bestehender Ordnungs- und Sicherheitsinteressen anderer Bewohner und der Einrichtung selbst mit größeren Einschränkungen als in einer Privatwohnung rechnen. Das ändere aber nichts an dem betroffenen Schutzbereich des Art. 13 GG. Das Verwaltungsgericht (VG) Stuttgart hatte dies zuletzt anders entschieden (Urt. v. 18.02.2021, Az. 1 K 9602/18).
Der VGH betonte, dass seine Bewertung sich mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) decke. Das BVerfG stelle bei der Annahme einer Wohnung nicht mehr darauf ab, ob ein entgegenstehendes Hausrecht bestehe (BVerfG, Beschl. v. 09.08.2019, Az. 2 BvR 1684/18).
Betreten ja, aber mit Grundlage
Das bedeutet indes nicht, dass es keine Gründe geben kann, aus denen die Einrichtungsleitung oder das Sicherheitspersonal die Räume der Bewohner und Bewohnerinnen betreten darf. Die Schwelle für einen solchen Eingriff könnte – so meinen es die Richterinnen am VGH – sogar unterhalb der Gefahrenschwelle des Art. 13 Abs. 7 GG liegen. Allerdings braucht es dafür eine gesetzliche Grundlage. In dem Gesetz müsste u.a. die Ermächtigung zum Betreten und der Zweck geregelt sein; es muss für die Bewohner und Bewohnerinnen erkennbar sein, wer wann mit welchem Ziel die Räume kontrollieren darf.
Die Regelung des § 6 Abs. 3 Satz 2 Flüchtlingsaufnahmegesetz (FlüAG) und die gewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsätze über das Hausrecht genügten diesen Anforderungen nicht. Zwar heißt es in der Norm, dass das Regierungspräsidium die Nutzungsordnung erlässt und die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung erforderlichen Anordnungen und Maßnahmen trifft. Diese pauschale Regelung der Kontrollen verstößt nach der Entscheidung des VGH sowohl gegen den Bestimmtheitsgrundsatz als auch gegen die Wesentlichkeitstheorie. Der Senat erklärte sie daher für unwirksam.
Kläger hoffen auf Verbesserung für Flüchtlinge
"Die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt auch in Erstaufnahmeeinrichtungen, und Geflüchtete haben dort ein Recht auf Privatsphäre – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, stellt der Verwaltungsgerichtshof Mannheim mit dem Urteil endlich klar", sagt Sarah Lincoln, Juristin bei der GFF. "Die Entscheidung macht eine klare Ansage an das Land Baden-Württemberg. Weitreichende Grundrechtseingriffe per Hausordnung regeln – das geht nicht. Das Land muss Einschränkungen gesetzlich festlegen, nur dann sind Grundrechte und Demokratieprinzip gewahrt".
Auch die Kläger Emmanuel Annor und Ba Gando erhoffen sich nach dem Urteil eine Verbesserung der Situation in den Unterkünften: "Nach der Flucht brauchen wir einen Ort, an dem wir zur Ruhe kommen können. Bislang hatten wir in der Unterkunft kaum Privatsphäre. Das Urteil macht Hoffnung auf Veränderung und ist für uns ein wichtiges Signal. Es bestärkt uns, weiter für uns und unsere Rechte einzustehen".
Der VGH die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen. Ähnliche Fragen zum Schutzbereich der Wohnung stellen sich übrigens bei der Unterbringung von Obdachlosen, Soldaten und Polizisten.
Flüchtlingsunterkunft als Wohnung iSd Art. 13 GG: . In: Legal Tribune Online, 08.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47757 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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