Das Land NRW durfte die 3G-Pflicht für Ratsmitglieder nicht per Verordnung regeln, so das VG Minden. Grundlage einer Nachweispflicht könnte aber das Hausrecht des Bürgermeisters sein. Sebastian Piecha hält die Begründung für inkonsequent.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts (VG) Minden durfte das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) die sogenannte "3G"-Pflicht (geimpft, genesen, getestet) für die Teilnahme von Ratsmitgliedern an Ratssitzungen nicht per Verordnung regeln. Dies verstoße gegen das Recht auf freie Mandatsausübung aus § 43 Abs. 1 Gemeindeordnung (GO NRW), stellte das Gericht in einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf Antrag eines AfD-Ratsmitgliedes klar (Beschl. v. 08.09.2021, Az. 2 L 595/21).
Es habe hierfür eines Parlamentsgesetzes bedurft. Gleichwohl könne der Bürgermeister eine entsprechende Nachweispflicht (Immunisierung oder Testung) aber auf Grundlage seines Hausrechts nach § 51 Abs. 1 GO NRW anordnen. Hiervon habe er keinen Gebrauch gemacht.
Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, eine Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht (OVG NRW) noch möglich. Die betroffene Stadt Salzkotten hat am vergangenen Freitag angekündigt, Rechtsmittel gegen den Beschluss einzulegen. Auf Nachfrage erklärte die Pressesprecherin vom OVG NRW gegenüber LTO, bis Montagmittag sei noch keine Beschwerde eingegangen.
Ausschluss von Ratsmitgliedern wegen 3G-Regel?
§ 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (CoronaSchVO NRW) knüpft die Teilnahme an Veranstaltungen und Versammlungen an die Voraussetzungen nach der sog. 3G-Regel.
Das NRW-Gesundheitsministerium hat mit § 4 Abs. 5 Satz 5 CoronaSchVO NRW einen Ausschluss von Ratsmitgliedern für die Teilnahme an Gemeinderatssitzungen vorgesehen, wenn diese den Nachweis nach den "3G" verweigern. Das VG Minden hat jetzt entschieden, dass der Verordnungsgeber unter Rückgriff auf die Wesentlichkeitstheorie zum Erlass einer solchen Regelung in der CoronaSchVO nicht ermächtigt sei.
Die Entscheidung wirft Fragen zwischen Staats- und Kommunalrecht auf.
Überzogene Anforderungen an die Wesentlichkeitstheorie
Bei der Wesentlichkeitstheorie sind mehrere Faktoren zu berücksichtigen: die Bedeutung der Frage für die Allgemeinheit, die Intensität des staatlichen Handelns, die Stärke des politischen Konfliktes sowie der Grad der Beeinträchtigung von Grundrechten. Die 3G-Regel stellt beim derzeitigen Infektionsgeschehen und der Impfquote den geringstmöglichen Eingriff unter Berücksichtigung des Schutzes der Gesundheit aller Anwesenden dar.
Zwar ist die Intensität des staatlichen Handelns hier zugegebenermaßen gravierend: Die Teilnahme eines Ratsmitgliedes an der Sitzung des Gemeinderats ist fraglos erforderlich, um die freie Mandatsausübung nach § 43 Abs. 1 GO NRW zu ermöglichen. Dies Recht ist einfachgesetzlich angelehnt an das freie Mandat aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG). Dadurch wird die Teilhabe am demokratischen Austausch der gewählten kommunalen Mandatsträger im Rat praktisch überhaupt erst ermöglicht.
Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, wenn das VG Minden unter Rückgriff auf das Wesentlichkeitsdogma zu der Entscheidung gelangt, dass nach der Eigenart des Sachbereichs und dem demokratischen Gewicht der kommunalen Mandatstätigkeit eine parlamentarische Rechtsgrundlage benötigt wird.
3G-Regel im Stadtrat: Ausgleich zwischen Infektionsschutz und kommunaler Arbeit
Jedoch könnten schon die Stärke des politischen Konfliktes und der Grad der Beeinträchtigung von Grundrechten hier anders zu bewerten sein: Der politische Konflikt wird praktisch ausschließlich durch die hier immer wieder opponierende AfD geschürt, während die anderen im Bundestag vertretenen Parteien doch weitgehend den Wert des Gesundheitsschutzes, angepasst an das Infektionsgeschehen und den Impffortschritt, jeweils höher einschätzen.
Der Grad der Beeinträchtigung von Grundrechten ist unter Berücksichtigung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG für die an der Sitzung teilnehmenden Personen eher zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Die 3G-Regel stellt einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen Infektionsschutz und der Möglichkeit der Durchführung von kommunalen Gremiensitzungen in Präsenz dar.
Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass das nordrhein-westfälische Kommunalrecht digitale Formen der Sitzungen kommunaler Gremien, anders als bspw. in Baden-Württemberg (§ 37a der Gemeindeordnung) oder Bayern (Art. 47a der Gemeindeordnung), derzeit nicht ermöglicht.
Inkonsequente Brücken für die kommunale Praxis
Wenngleich das VG mit seiner Entscheidung den Kommunen mittels der Möglichkeit der Anordnung der 3G-Regel über das Hausrecht des Bürgermeisters aus § 51 Abs. 1 GO NRW eine praktische Brücke baut, präsentiert es die Inkonsequenz seiner Begründung: Bei einer so gewichtigen Materie, die nach der Wesentlichkeitsdoktrin des Bundesverfassungsgerichts ein Parlamentsgesetz als Rechtsgrundlage erfordert, reicht eine durch die Exekutive angeordnete Regelung nicht aus. In einem solchen Fall kann nicht gleichzeitig das Hausrecht eines Bürgermeisters genügen, um die Vorgaben zum Zwecke des Gesundheitsschutzes der an der Sitzung teilnehmenden Personen doch machen zu können.
Das Hausrecht des Bürgermeisters soll einen geordneten Verlauf der Sitzungen ermöglichen und in Zeiten der Pandemie verpflichtet es ihn auch, geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen (Hygienekonzepte inkl. Abstand, Masken und hinreichende Lüftung). Isoliert betrachtet scheint es sich also um eine prima facie verhältnismäßige Maßnahme zum Schutz der teilnehmenden Ratsmitglieder, Besucherinnen und Besucher sowie Verwaltungsangehörigen zu handeln.
Legt man die vom VG hier zugrunde gelegten Maßstäbe an, so dürfte die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Ergebnis jedoch dahingehend ausfallen, dass Ratsmitgliedern zur Ausübung ihres Mandates gerade kein Zutrittsrecht zu Sitzungen zu gewähren ist, denn der Gesundheitsschutz der Anwesenden wiegt deutlich stärker.
Demokratische Teilhabe darf nicht an finanzielle Möglichkeiten geknüpft werden
Allerdings kann dieses Ergebnis nicht überzeugen: Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass demokratische Teilhabe nicht an finanzielle Möglichkeiten geknüpft werden darf.
Spätestens mit dem beschlossenen Ende der kostenlosen Bürgertests am 11. Oktober 2021 müssten auch impfskeptischen Ratsmitgliedern etwa kostenfreie Testmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. So wird unter Beibehaltung der 3G-Regel einem hinreichenden Gesundheitsschutz aller Anwesenden Sorge getragen, während die freie Mandatsausübung gewährleistet wird.
Folgen für die Pandemiebekämpfung
Wird der Beschluss rechtskräftig bzw. in der Hauptsache bestätigt, so dürfte dies Folgen für weitere Bestimmungen der CoronaSchVO NRW haben: Die in § 4 Abs. 2 CoronaSchVO NRW angeordnete 3G-Regel wird für Versammlungen nach Art. 8 GG unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls angeordnet, wenngleich es für die Teilnahme am Gottesdienst in Innenräumen nach Art. 4 GG indes nicht verlangt wird.
Nimmt man die Ausführungen des VG Minden ernst, dürfte dies mit dem Wesentlichkeitsvorbehalt gleichsam unvereinbar sein. Für die in einigen Ländern bereits in der Umsetzung befindliche oder geplante "2G"-Regel dürften indes wesentlich strengere Maßstäbe anzulegen sein, dürfte dies doch zu einer "Impfflicht durch die Hintertür" führen.
Während "3G" im Falle von kommunalen Mandatsträgern noch nachvollziehbar begründet werden kann, dürfte dies bei "2G" kaum mehr der Fall sein. Eine Impfung kann somit nicht zur Voraussetzung für die Teilnahme an demokratischen Prozessen gemacht werden.
Prof. Dr. Sebastian Piecha lehrt Staats- und Europarecht sowie Allgemeines Verwaltungsrecht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV NRW). Er befasst sich darüber hinaus auch mit Fragen des Kommunalrechts.
VG Minden zu Eilantrag eines Ratsmitgliedes: . In: Legal Tribune Online, 13.09.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45997 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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