In der medialen Diskussion zum Fall des Rammstein-Sängers Till Lindemann werden Begriffe aus dem Sexualstrafrecht vielfach falsch und vorschnell verwendet, etwa wenn von "Missbrauch" die Rede ist. Yves Georg sondiert die Rechtslage.
Seit einigen Tagen berichten Medien von Vorwürfen des "sexuellen Missbrauchs", des "sexuellen Übergriffs", des "Machtmissbrauchs" und der "Vergewaltigung" gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann und stellen die Frage, wann strafrechtlich ermittelt wird. Lindemann streitet die zugrunde liegenden Vorwürfe ab. Über seine Presseanwälte lässt er mitteilen, sie seien "ausnahmslos unwahr".
Nicht alle Vorwürfe sind strafrechtlicher Natur und, soweit sie das sind, wird vieles durcheinandergeworfen. Einordnende Bemerkungen zu den teilweise völlig falsch verwendeten Begrifflichkeiten des Sexualstrafrechts und deren praktischer Anwendung sind daher lohnend.
"Sexueller Missbrauch"
Lässt sich eine erwachsene Konzertbesucherin unter dem Eindruck der Berühmtheit und "Macht" eines Prominenten auf sexuelle Handlungen mit ihm ein, hat das mit sexuellem Missbrauch strafrechtlich – Psychologie und Soziologie können mit guten Gründen andere Definitionen und Maßstäbe zugrunde legen – nichts zu tun. Strafbar ist der sexuelle Missbrauch von Machtstrukturen – missbraucht wird entgegen den missverständlichen, ja geradezu falschen Normüberschriften nicht das Opfer, sondern die Beziehung zu ihm – nur in Ausnahmefällen, etwa, teils unter weiteren Voraussetzungen, gegenüber Kindern (§§ 176 ff. StGB), Jugendlichen (§ 182 StGB), Schutzbefohlenen (§ 174 StGB), Gefangenen oder Kranken (§ 174a StGB) und Patienten (§ 174c StGB).
"Sexueller Übergriff", "sexuelle Nötigung", "Vergewaltigung"
Betritt man den Bereich außerhalb dieser Ausnahmefälle, wird die Rechtslage komplizierter und die Begriffe kaum klarer:
"Gegen den erkennbaren Willen" (§ 177 Abs. 1 StGB)
Sexuelle Handlungen mit Personen, die nicht durch solche Sondertatbestände geschützt werden sind gemäß § 177 Abs. 1 StGB dann als sexueller Übergriff strafbar, wenn sie gegen deren "erkennbaren Willen" erfolgen. Erforderlich ist also sowohl, dass die Person einen entgegenstehenden Willen gebildet und erkennbar geäußert hat (objektiver Tatbestand), als auch, dass der Täter zumindest billigend in Kauf genommen hat, gegen diesen entgegenstehenden Willen zu handeln (subjektiver Tatbestand). Um diese beiden Punkte dreht sich in der strafprozessualen Praxis regelmäßig auch die Auseinandersetzung: Wurde der entgegenstehende Wille erkennbar, also verständlich, geäußert? Und hat der Beschuldigte diese Äußerung auch als solche verstanden?
Dass die Beweislage zu solchen Fragen überdurchschnittlich schwer – oft war niemand sonst dabei – und damit höchst geeignet ist, auf Seiten des Beschuldigten zu Fehlurteilen (Verurteilung) oder auf Seiten der Anzeigeerstatter(-innen) zu gefrusteter Enttäuschung (Freispruch) zu führen, liegt auf der Hand.
Unfähigkeit zur Willensbildung oder -äußerung (§ 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB)
Wer, etwa mit Gammahydroxybuttersäure ("K.O.-Tropfen"), ob vom Täter oder von Dritten, bewusstlos gemacht wurde, kann einen entgegenstehenden Willen schon nicht bilden, jedenfalls aber nicht äußern. Nutzt jemand diese Lage für sexuelle Handlungen aus, indem er bewusst einkalkuliert, dass dieser Zustand die Handlungen zumindest erleichtert, macht er sich gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB strafbar. Ein Ausnutzen liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schon dann vor, wenn sich der Täter durch das Ergreifen der Gelegenheit bewusst eine Auseinandersetzung mit einem "stets möglichen" entgegenstehenden Willen des Opfers erspart. Weil es auf dessen fiktiven (hypothetischen) Willen nicht ankommt, gilt das auch, wenn der Täter sich sicher ist, dass das Opfer, könnte es einen Willen bilden und äußern, mit den sexuellen Handlungen einverstanden wäre. Ausnahmen kommen nur in Betracht, wenn die betroffene Person bereits vor ihrer Bewusstlosigkeit ein auch diesen Zustand umfassendes Einverständnis geäußert hat (Bsp.: "Wir dröhnen uns voll und Du kannst alles mit mir machen".).
Darüber hinaus erfüllt das Verabreichen von "K.O.-Tropfen" zur widerstandslosen Durchführung sexueller Handlungen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (2 StR 79/17) neben dem Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 und 3 StGB auch die Qualifikationstatbestände des § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB (Gewaltanwendung) und des § 177 Abs. 8 Nr. 1 StGB (Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs). Die Mindestfreiheitsstrafe für solche Taten liegt demnach bei fünf Jahren.
Einschränkung der Willensbildung oder -äußerung (§ 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB)
Ist die Fähigkeit zur Willensbildung und -äußerung zwar nicht aufgehoben, aber doch erheblich eingeschränkt – wie etwa bei einem sturzbesoffen Lallenden – macht sich gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB strafbar, wer diesen Zustand ausnutzt, ohne sich der Zustimmung zu versichern. Diese Zustimmung muss jeweils vorher erklärt werden, jede einzelne Handlung betreffen und kann auch durch schlüssiges Verhalten (konkludent) erteilt werden. Diese Konzession der "Ja-heißt-Ja"-Debatte an die Autonomie fordert eine objektiv eindeutige Zustimmung, an der kein vernünftiger Zweifel bestehen darf und die während der sexuellen Handlung jederzeit – abermals auch konkludent, aber freilich nicht mit Wirkung für das schon Geschehene – zurückgenommen werden kann.
Wer (m/w/d), etwa anlässlich seines nächsten Festivalbesuchs (wahlweise: "Rock am Ring", "Nature One", "Wacken" oder "Splash!"), eine (halb-)besoffene Bekanntschaft "abschleppt", wird auf Grundlage des Vorstehenden zunächst selbst beurteilen müssen, ob die Willensbildungs- und -äußerungsfähigkeit dieser Person (schon) ausgeschlossen oder (noch nur) erheblich eingeschränkt ist und ob im zweitgenannten Fall zumindest konkludent (aber zweifelsfrei!) Konsens geäußert und nicht zumindest konkludent wieder zurückgenommen wurde. Dass Staatsanwaltschaft und Gericht seine Einschätzung der Lage im Fall der Fälle für plausibel halten werden, kann er oder sie dabei nur hoffen. Für Fehleinschätzungen kann man mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren einstehen müssen, solange die sexuelle Handlung im Bereich des sog. Pettings blieb.
Vergewaltigung (§ 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB)
Kommt es hingegen zum Vaginal-, Oral- oder Analverkehr, erwartet den Täter gemäß § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB i.d.R. eine Freiheitsstrafe von zwei bis 15 Jahren. Solche "Vergewaltigungen" müssen mit Gewalt nicht das Geringste zu tun haben, während der in § 177 Abs. 5 Nr. 1 StGB geregelte sexuelle Übergriff unter Gewaltanwendung ohne Eindringen in den Körper i.d.R. gerade keine Vergewaltigung darstellt:
Geschlechtsverkehr gegen den erkennbaren Willen einer Person, aber ohne Gewaltanwendung (Bsp.: Übersichergehenlassen des Vaginalverkehrs trotz vorangegangenen Hinweises, keine Lust zu haben, um nicht herumdiskutieren zu müssen) stellt nach der Legaldefinition des § 177 Abs. 6 Satz 2 Nr. 1 StGB grundsätzlich eine Vergewaltigung dar. Sexuelle Handlungen, die nicht mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind, aber unter Gewaltanwendung geschehen ("Petting" unter Festhalten beider Handgelenke), stellen hingegen keine Vergewaltigung dar. Vor dem Hintergrund von Wortlaut und Systematik scheint das nicht vollends stimmig.
Bloßes Ausnutzen der Machtposition nicht strafbar
Einstweilen bleibt festzuhalten: Allein der Umstand, dass erwachsene Frauen in einer von ihnen als Drucksituation empfundenen Lage einem "Star" – institutionalisiert und sukzessive-systematisch (Raum 1, Raum 2, Raum 3...) – nähergebracht werden, dessen zuvor nicht offen kommunizierten sexuellen Avancen sie dann aus den unterschiedlichsten Gründen nicht ablehnen, obwohl sie es uneingeschränkt könnten, ist strafrechtlich von keinem der oben beschriebenen Tatbestände erfasst.
Solche womöglich problematischen Mechanismen, über die auch aus anderen Bereichen des Pop-, Rock- und Rap-Bereichs berichtet wird – sind von den unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu untersuchen, strafrechtlich aber derzeit nicht relevant.
Anders könnte es hingegen mit den – von Lindemann bestrittenen Vorwürfen – aussehen, welche die Einvernehmlichkeit etwaiger sexueller Handlungen in Frage stellen. In seiner Titelstory vom 10.6.2023 hat nun auch der SPIEGEL ausführlich über die Vorwürfe gegen Lindemann berichtet und lässt dabei unter von der Redaktion geänderten Namen einzelne Frauen mit konkreten Berichten zu Wort kommen. Dazu, wie deren Schilderungen im Einzelnen strafrechtlich zu bewerten sind und welche Widersprüchlichkeiten und Beweisproblematiken bestehen, folgt Näheres in einem weiteren, am Mittwoch erscheinenden Beitrag.
Dr. Yves Georg ist Strafverteidiger und Partner der Kanzlei Schwenn Kruse Georg Rechtsanwälte in Hamburg.
Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann: . In: Legal Tribune Online, 12.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51976 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag