Einen Tag vor dem europaweiten Aktionstag die Entwarnung: Deutschland wird das internationale Urheberrechtsabkommen vorerst nicht unterschreiben. Wenn Hunderttausende auf die Straßen gehen, könnte man meinen, außergewöhnliche Regelungen drohten das Internet grundlegend zu verändern. Nein, meint Dirk Heckmann und wirbt dennoch um Verständnis für die Anliegen der ACTA-Kritiker.
Der 11. Februar 2012 wurde zum "ACTA Aktionstag" ausgerufen. Friedliche Demonstrationen in vielen der betroffenen Staaten, auch in ganz Deutschland, sind geplant. Hinzu kommen zahlreiche kreative Aktionen wie etwa eine Online-Petition gegen das Abkommen oder der von der Gruppe Anonymous ausgerufene "Paperstorm", bei dem Gegner des Vertrages kreative Flyer entwerfen und dann verteilen sollen. Es bleibt abzuwarten, ob der Sturm der Entrüstung kleiner ausfallen wird, nachdem Deutschland nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa nun angekündigt hat, das Abkommen zunächst nicht zu unterzeichnen.
Gibt man die Begriffe ACTA und Protest in die Suchmaschine Google ein, erhält man aktuell ca. 331.000 Treffer - alleine für die "letzten 24 Stunden". Kaum ein Thema berührt die Menschen, die sich im Internet artikulieren oder über deren Haltung im Netz berichtet wird, derzeit mehr als das Anti-Counterfeiting Trade Agreement, kurz ACTA.
In diesem Handelsabkommen, das als völkerrechtlicher Vertrag für die einzelnen Vertragspartner etwaige Anpassungen in ihren innerstaatlichen Rechtsordnungen zur Folge haben kann, geht es kurz gesagt darum, internationale Standards im Kampf gegen Urheberrechtsverletzungen und Produktpiraterie zu setzen. Anders als das seit 1994 geltende Abkommen "Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights" (TRIPS) wurde ACTA nicht innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO), sondern unmittelbar zwischen der EU mit ihren Mitgliedstaaten, den USA, Japan und acht weiteren Staaten verhandelt.
Damit es in Kraft treten kann, müssen noch fünf Staaten, darunter Deutschland, das Abkommen unterzeichnen. Selbst in den Ländern, die bereits unterzeichnet haben, wächst nun Widerstand gegen das Abkommen. Zuletzt hat Lettland das Verfahren ausgesetzt. Zu seiner Verbindlichkeit müssen die beteiligten Staaten die Vereinbarung aber ratifizieren, was regelmäßig eine parlamentarische Zustimmung voraussetzt. Auch das Europäische Parlament wird sich nun mit ACTA beschäftigen. Der Protest will, neben der allgemeinen Aufmerksamkeit, dessen Ablehnung bewirken.
Stopp ACTA Aktionstag
Was ist es aber, das so viele Menschen bewegt und eine massive Protestwelle auch in den sozialen Medien im Internet erzeugt? Unter anderem kann man lesen: ACTA fördere eine private Rechtsdurchsetzung geistiger Eigentumsrechte. Diese solle, auch mit Blick auf die Grundrechte der Nutzer, nicht den Vermittlern im Internet (z.B. Host Provider, Access Provider) überantwortet werden. ACTA führe, ähnlich wie SOPA (Stop Online Piracy Act), eine Internetzensur ein. Das Recht auf Privatkopie sei durch neue Straftatbestände aufgehoben.
Ebenfalls nach wie vor häufig, geradezu als Triebfeder der Protestwelle dienend, findet man die Aussage, ACTA forciere die Einführung von Netzsperren. Also genau jenes Instrument, das in Deutschland vor nicht langer Zeit zur Bekämpfung von Kinderpornografie im Internet erwogen (Zugangserschwerungsgesetz) und dann wieder (weil nicht zwecktauglich und unverhältnismäßig) zurückgezogen wurde.
Und dasjenige, von dem immer wieder gemutmaßt wurde, es werde über den Regelungsbereich des Zugangserschwerungsgesetzes hinaus demnächst auch auf Urheberrechtsverletzungen erweitert.
Rechtsexperten widerlegen Einwände, besonders zu den Netzsperren
Genau jene Netzsperren sind allerdings jedenfalls in der konsolidierten Fassung des Vertrages nicht mehr zu finden. Auch die weiteren vorgenannten Kritikpunkte treffen nur teilweise zu, wie mittlerweile in mehreren Expertisen - etwa von Thomas Stadler, Jens Ferner oder dem Rechtsdienst des Europäischen Parlaments - plausibel dargelegt wurde.
Vor allem geht es dabei darum, dass die im Abkommen geforderten Maßnahmen im straf- und zivilrechtlichen Bereich im deutschen Urhebergesetz oder auch im Markengesetz allesamt schon existieren. Auch Regelungen zum Kopierschutz beziehungsweise zum Schutz vor der Umgehung technischer Maßnahmen sind für das deutsche Urheberrecht nichts Neues.
Und ebenso wie das Abkommen keine Netzsperren vorsieht, sind auch die Einwände betreffend eine mögliche Einführung eines "Three-Strikes-Modells" oder einer Verpflichtung von Internet-Providern, Inhalte zu überwachen, jedenfalls mit Blick auf das nun konsolidierte Vertragswerk ungerechtfertigt. Dies bestätigt auch die Bundesministerin der Justiz, Sabine Leutheusser Schnarrenberger, in einem Youtube-Video: "Internetprovider sind keine Hilfssheriffs". Alles in allem enthält ACTA vor diesem Hintergrund aus juristischer Sicht nichts Außergewöhnliches.
Neue netztypische Protestkultur
Warum dann aber die Vehemenz des Protestes? Betrachtet man die Art und Weise, wie sich der Protest entwickelt hat und weiter auslebt, mag man ihn in mancherlei Hinsicht als "netz-typisch" charakterisieren: Er lässt sich leichter als früher insbesondere über die sozialen Netzwerke organisieren. Das Internet ermöglicht eine direkte Reaktion auf Ereignisse, ungefiltert etwa durch klassische Medien und deren Redaktionen, und ebenso eine direkte Kommunikation der Betroffenen, jenseits ihrer demokratischen Repräsentanten.
Diese schnelle und direkte Information und Kommunikation durch "jedermann" trägt auch dazu bei, dass sich Ungenauigkeiten, Irrtümer oder überholte Fakten verbreiten, zumal die rasante Informationsverarbeitung und -verbreitung nicht gerade "synchron" und abgestimmt verläuft.
Auf diese Weise erklärt sich auch eine neue "Protestkultur", die auf den kurzen Nenner gebracht werden kann: blitzartig, lawinenartig, unartig. Vor allem aber ist das neue Selbstbewusstsein der Betroffenen bemerkenswert, die "urdemokratische" Rechte der Offenheit und Bürgerbeteiligung nicht nur einfordern, sondern teilweise auch erzwingen können. In der Tat kann solches Crowd Sourcing zu Politikerrücktritten führen, ebenso wie das "Leaken" geheimer Dokumente die "Herrschenden" permanent an ihre Gemeinwohlorientierung erinnert. Das ist lästig, aber notwendig.
Neues Verständnis für die Unverstandenen
Denn das ist der eigentliche Kristallisationspunkt der Auseinandersetzung: Normgeber und Normadressaten verstehen einander kaum, soweit es um das Internet, seine Funktionen, Wirkungen, Chancen und Risiken geht. Und wenn einer "da oben" jenen "da unten" den (virtuellen) Krieg erklärt wie im Fall des Bundestagsabgeordneten Heveling, gießt er nur Öl ins Feuer.
Es mag vielfach um Inhalte (Online-Durchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, Netzneutralität oder eben Urheberrecht) gehen; vor allem aber sind es Form und Verfahren der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, die zumindest in bestimmten Themenbereichen nicht mehr zeitgemäß ablaufen.
Abkommen, Gesetze, Verwaltungsmaßnahmen werden auch in einer Demokratie nicht nur Befürworter finden. Persönliche Interessen, aber auch politische Haltungen oder ethische Bedenken können Gegenstimmen, vielleicht auch Protest hervorrufen. In einer demokratischen Streitkultur ist es deshalb wichtig, dass sich die Kontrahenten auf Augenhöhe begegnen, mit offenen Karten spielen und fair miteinander umgehen. Eine repräsentative Demokratie ist heute mehr denn je auch responsive Demokratie, darf also an den Interessen, Wünschen und Sorgen der Menschen nicht vorbeientscheiden, selbst wenn eine komfortable parlamentarische Mehrheit dies ermöglichen sollte.
Proteste gegen Intransparenz und Politik hinter verschlossenen Türen
Genau daran knüpfen auch die aktuellen Proteste zu ACTA an. Die gesamten Verhandlungen zu ACTA seien geheim geführt worden. Ein Prozess, der der Schaffung weitreichender Regelungen im Bereich des Urheberrechts und der gewerblichen Schutzrechte diene, sei unterdessen transparent und demokratisch zu gestalten. Und dieser Einwand trifft auch den Kern: die erheblichen Defizite hinsichtlich Transparenz und Partizipation.
Dabei verfangen weder der Hinweis auf Gepflogenheiten bei völkerrechtlichen Vertragsverhandlungen noch die parlamentarischen Möglichkeiten im Ratifizierungsverfahren. Eine Sachmaterie, die wie der Urheberrechtsschutz im digitalen Zeitalter unstreitig und unabhängig vom Ergebnis reformbedürftig ist, sollte durch keine staatlich veranlasste Maßnahme vorab verfestigt werden.
Im Gegenteil: Alle Interessengruppen, auch solche ohne ersichtliche Lobby, sind frühzeitig zu beteiligen. Und wenn es doch einmal Bedarf für diskrete Verhandlung gibt, sollte der Grund hierfür verständlich gemacht werden. Auch in Momenten der Intransparenz kann es also Transparenz geben: als Verständigung mit den Bürgern, welche Abwägungen und Überlegungen derlei Entscheidungen erst nötig machen.
Dabei ist auch unerheblich, ob das Abkommen überhaupt unmittelbare Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage hat. Auch deutsche Internetnutzer bewegen sich zwangsläufig im internationalen Raum. Eine sinnvolle Abgrenzung der Urheberrechte und der Nutzungsrechte Dritter kann nur im internationalen Kontext gelingen.
Einseitige Berücksichtigung von Interessen
Und deshalb trifft auch eine weitere Kritik gegen ACTA den Kern: Es sei nicht nachzuvollziehen, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer an den Verhandlungen zu ACTA nicht beteiligt wurden und nur nachträglich dem schon ausgehandelten Abkommen beitreten könnten. Diese Länder hätten andere Interessen als die beteiligten Vertragsstaaten, deren Berücksichtigung in den Verhandlungen geboten gewesen wäre.
Das Problem der mangelnden Berücksichtigung divergierender Interessen trifft dabei freilich nicht nur auf die Entwicklungs- und Schwellenländer zu. Vielmehr darf es ebenso wenig sein, dass ein internationales Abkommen mit einseitigem Blick auf die Interessen der Rechtsinhaber die effektive Durchsetzung von Immaterialgüterrechten zementiert, ohne einen zielführenden Interessenausgleich im Rahmen harmonisierender Schrankenregelungen zu schaffen.
Das gilt umso mehr, als sich jedenfalls manche Bestimmungen in ACTA einer klaren Lesart entziehen und daher in ihrer Unbestimmtheit im Zweifel noch zusätzlich den Schutz hin zu den Rechteinhabern verschieben, ohne widerstreitende Nutzer- und Allgemeinwohlinteressen ausreichend zu berücksichtigen.
Das Abkommen vermittelt in dieser Hinsicht durchaus das Gefühl, als ergäbe sich die volkswirtschaftliche Relevanz des Internet nur aus dem Schutz der Rechteinhaber und nicht auch aus einer zielführenden Beschränkung dieser Rechte mit Blick auf weiterverwertende Nutzungen. Ebenso mutet die Vereinbarung an, als seien die Interessen der Entwicklungs- und Schwellenländer weniger wert als die entwickelter Industrienationen.
ACTA's Signalwirkung gefährdet den Rechtsfrieden
Beides aber ist verfehlt, hier wie dort handelt es sich nicht um "Interessen zweiter Klasse". Das ist dann freilich nicht mehr nur allein ein Problem des Rechtssetzungsverfahrens. Exklusivität verhindert zugleich die Schaffung angemessenen materiellen Rechts. Insoweit ist ACTA durchaus auch ein materiellrechtlich problembeladenes Abkommen.
Insofern ist auch die Signalwirkung dieses plurilateralen Abkommens nicht zu unterschätzen. Eine Politik, die sich einseitig um Durchsetzungsmechanismen kümmert, schaut an dem technischen und sozialen Wandel vorbei, den das Internet hervorruft. Viele der ACTA-Kritiker haben die Fernwirkungen unzeitgemäßer Politik erkannt. Sie fühlen sich jedoch nicht verstanden. Nein, sie werden auch tatsächlich nicht verstanden. Das gefährdet über kurz oder lang den Rechtsfrieden. In seiner jetzigen Form ist ACTA deshalb abzulehnen.
Die Zeit, die bis zu einem neuen Anlauf für ein Handelsabkommen zum Schutz der Urheberrechte und Schutz der Urheberrechtsschranken vergeht, kann zur gegenseitigen Akzeptanzstiftung durch rechtliches, technisches, wirtschaftliches und soziales Verständnis genutzt werden.
Neue Verantwortung der netzpolitischen Avantgarde
Mit der neuen Machtposition, die dieser "netzpolitischen Avantgarde" zukommt, korrespondiert allerdings auch eine neue und gesteigerte Verantwortung für einen geordneten öffentlichen Diskurs. Eine Verantwortung, die der Staat hauptsächlich, aber nicht mehr alleine trägt. Das gilt zumindest für jene, die sich im Rahmen dieser neuen Protestkultur besonders stark über das Netz in den gesellschaftlichen Dialog einbringen. Neben dem Staat sind auch sie ein ganz wesentlicher Faktor dafür, ob und inwieweit der Dialog miteinander oder gegeneinander verläuft.
Die Meinungsäußerungsfreiheit als eines der "vornehmsten Menschenrechte überhaupt" (Bundesverfassungsgericht) kann durch das Internet vom Einzelnen zunehmend substantiell und effektiv wahrgenommen werden. Das Grundrecht gibt dem Einzelnen die Freiheit, polarisieren und polemisieren zu dürfen. Und dennoch sollten Protagonisten, die eine Meinungsführerschaft erlangen, einen konstruktiven Dialog ermöglichen. In einer Zeit, in der sich der früher durch die Medien in sehr viel stärkerem Maße "vermittelte" Dialog über gesellschaftsrelevante Themen hin zu einem unmittelbaren Gespräch zwischen Staat und Bürger verschiebt, sollten und müssen beide Seiten ihr gewandeltes Rollenverständnis in ein modernes Verantwortungskonzept überführen.
Dazu zählt auch Deeskalation. Zumindest über Twitter trägt man dem bereits Rechnung. So lautet der Toptweet für #acta (von @stopptacta abgesetzt und 120 mal retweetet): "Wir haben Beschwerden über das Kontaktformular bekommen, dass #ACTA Gegner LKWs und Häuser mit "Anti-ACTA" besprüht haben - lasst das!"
Der Autor Prof. Dr. Dirk Heckmann, Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Sicherheitsrecht und Internetrecht sowie Leiter der Forschungsstelle für IT-Recht und Netzpolitik an der Universität Passau. Er lehrt außerdem an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und ist sachverständiges Mitglied des CSU Netzrates.
Dirk Heckmann, Stopp-ACTA-Aktionstag: . In: Legal Tribune Online, 10.02.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5546 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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