Im Prozess wegen falscher Verdächtigung führt das Geständnis Gil Ofarims zur Einstellung gegen Geldauflage, das Gericht sieht nur Gewinner, der Verteidiger verrät die Hintergründe und der Zentralrat der Juden spricht von großem Schaden.
"Die Vorwürfe treffen zu. Ich möchte mich entschuldigen. Es tut mir leid. Ich habe das Video gelöscht."
Vier kurze Sätze, die entscheidender nicht hätten sein können. Vier kurze Sätze, die zu einer vorläufigen Einstellung führen. Vier kurze Sätze, die Antisemitismus-Betroffenen Schaden zufügen. Vier kurze Sätze, die man angesichts Ofarims jüdischen Hintergrunds menschlich nicht glauben möchte. Gil Ofarim gesteht, dass die gegen ihn erhobenen Vorwürfe der Verleumdung und falschen Verdächtigung zu Lasten des Hotelmanagers W. im Prozess vor dem Landgericht (LG) Leipzig (Az.: 6 KLS 607 Js 56884/21) zutreffen.
Nicht irgendwelche Verleumdungsvorwürfe, sondern solche einer antisemitischen Beleidigung: Ofarim beschuldigte W., ihn zum "Einpacken" seines Davidsterns aufgefordert zu haben. Zahlt Ofarim nun innerhalb der nächsten sechs Monate die Geldauflage, wird das zugrunde liegende Verfahren endgültig eingestellt.
Es handelt sich um einen Tag, der – mit den späteren Worten des Vorsitzenden Richters Dr. Andreas Stadler – wie das Verfahren insgesamt von "historischem Interesse" ist. Ofarim und seine Verteidiger tauchen pünktlich kurz vor dem angesetztem Verhandlungsbeginn um 9 Uhr im Schwurgerichtssaal des LG Leipzig auf, posieren für die Kameras und verlassen den Saal mit dem Nebenklägervertreter überraschenderweise wieder. Es folgt eine sehr lange Wartezeit für die im Saal Anwesenden. Dass dies die wesentlich kleinere Überraschung des heutigen sechsten Verhandlungstages vor der 6. Strafkammer sein sollte, war zu dieser frühen Morgenstunde noch nicht absehbar.
"In einer Kochsendung würde es heißen, wir haben da was vorbereitet"
Über zwei Stunden später betritt das Gericht dann endlich den Saal und beginnt den Prozess mit einer Entschuldigung für die Verzögerung, die nicht die einzige Entschuldigung am nunmehr letzten Verhandlungstag bleiben sollte. "Wir sind da auch nicht immer Herr der Dinge", erklärt der Vorsitzende. Dass die Kammer allerdings durchaus maßgeblich auf den Verfahrensausgang einwirkte, wird nach der Verhandlung im Gespräch mit Ofarims Verteidiger klar.
Dann folgt der Auftritt von Ofarim. Der gibt mit tiefer, schwerer Stimme die entscheidenden Sätze von sich und versetzt den nichtsahnenden Saal damit in Überraschung. Seinen Davidstern-Anhänger küsst er kurz vor seinem Geständnis andächtig und hält ihn auch danach fortwährend fest. Im Rahmen des Adhäsionsverfahrens schließen er und der als Nebenkläger beteiligte W. einen zivilrechtlichen Vergleich über die Schmerzensgeldansprüche des W. Über dessen Inhalt, insbesondere die Höhe, äußern sich später auf Anfrage weder der Anwalt von W. noch Ofarims Verteidiger. Die Kammer wirkt indes sichtlich ungerührt. "Das kommt für die Kammer nicht ganz so unerwartet wie für Öffentlichkeit. In einer Kochsendung würde es heißen, wir haben da was vorbereitet", leitet der Vorsitzende die nun folgenden letzten Ausführungen des Verfahrens gewohnt wortgewandt ein.
Das Verfahren werde gemäß § 153a Abs. 2 S.1 i.V.m. Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) gegen die Auflage einer Zahlung in Höhe von 10.000 Euro, je zur Hälfte der Jüdischen Gemeinde zu Leipzig und dem Trägerverein des Hauses der Wannseekonferenz – "als zumindest symbolische Abhilfe für den nicht unerheblichen Schaden für den Kampf gegen Antisemitismus" – vorläufig eingestellt. Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung sei beseitigt, insbesondere gebiete die Wiederherstellung des Rechtsfriedens keine Kriminalstrafe. Primär sei es darum gegangen, zuverlässig festzustellen, was wirklich geschehen sei. Demgegenüber habe die Verhängung einer Strafe untergeordnete Bedeutung.
Davon sind auch die Vorwürfe des Betrugs und der falschen Versicherung an Eides statt eingeschlossen. Es sei zwar zu missbilligen, dass Ofarim eine ihm unangenehme Presseberichterstattung zu verhindern und damit die Meinungs- und Pressefreiheit zu behindern suchte. Letztlich sei dies aber auf äußeren Druck geschehen und das öffentliche Echo auf sein Instagram-Video hätte in den letzten beiden Jahren erhebliche Auswirkungen auf seine Lebensgestaltung gehabt, weshalb eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen sei, erklärt die Kammer.*
Wahrheit sei wichtiger als Strafe
Der Weg der Schadenswiedergutmachung sei eingeschlagen, da sich beide auf eine Entschädigung – über dessen Höhe seitens der Beteiligten Stillschweigen herrscht – geeinigt hätten und W. die Entschuldigung Ofarims akzeptiert habe. Dadurch habe W. zudem volle Rehabilitierung erhalten, wofür eine Entschuldigung wertvoller sei als ein Gerichtsurteil. "Ein Urteil ist anfechtbar, eine Entschuldigung ist es nicht", so die Kammer.
Die Wahrheit liege nun offen zutage, stellt die Kammer fest. Einen maßgeblichen Anteil daran habe die am zweiten Verhandlungstag erfolgte Aussage einer Zeugin, die hinter Ofarim in der Schlange vor der Rezeption gestanden, das Geschehen mitbekommen und eine antisemitische Beleidigung in Abrede stellte. Stattdessen habe Ofarim "gepöbelt". In einer wenig später erfolgten Whats-App-Unterhaltung mit einer Kollegin hat sie die Darstellung Ofarims in seinem Instagram-Video ebenfalls dementiert. Durch den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem eigenen Erleben des Geschehens und seiner Weitergabe an eine andere Person sei ihre Aussage besonders glaubhaft, hieß es seitens der Kammer.
Außerdem ergebe sich aus den Aufzeichnungen der Überwachungskameras und dem Gutachten, dass Ofarim den Davidstern innerhalb des Hotels nicht sichtbar trug. Damit fehle es an einem wichtigen Anknüpfungspunkt für den von Ofarim geschilderten Geschehensablauf, so die Kammer weiter.
"Unsere Gesellschaft kennt keine ewige Verdammnis"
Zu guter Letzt führte die Kammer fast schon poetisch auf, dass dieses Verfahren durchaus Gewinner hätte. Erstens die Gesellschaft, die die Wahrheit erfahren habe. Zweitens W., der volle Rehabilitierung erhalten habe. Und schließlich Ofarim, der die Chance auf einen befreiten Neustart habe und demgegenüber die Kammer abschließend einen sehr vermittelnd-verständnisvollen Ton anschlägt. Mit seinem Geständnis, der öffentlichen Entschuldigung und der Wiedergutmachung habe Ofarim diese– vor allem für ihn günstige – Verfahrensbeendigung überhaupt erst ermöglicht, wofür er einen weiten Weg gegangen sei.
Zwischen seinem letzten Interview – Ofarim bestätigte vor Verhandlungsbeginn erneut seine im Instagram-Video geschilderte Version des Geschehens – und dem heutigen Geständnis lägen zeitlich 24 Tage, aber inhaltlich Welten. Er habe das gesagt, was er sagen konnte. Das sei ihm schwergefallen und fiele auch anderen oft schwer.
Er habe einen Fehler gemacht, aber sich dazu bekannt. Er habe um Entschuldigung gebeten und sie erhalten, womit die Sache vom Tisch sei. Unsere Gesellschaft kenne keine ewige Verdammnis, stellt die Kammer klar.
Doch woher rührt das abrupte Ende?
Im Anschluss an die Hauptverhandlung im LTO-Gespräch mit Verteidiger Dr. Alexander Stevens wird deutlich, was vorher noch unbeantwortet blieb. An dem unerwarteten Ende trägt die Kammer wohl einen entscheidenden Anteil. In einem Rechtsgespräch im Anschluss an die letzte Hauptverhandlung an Tag fünf habe die Kammer erstmals das Angebot der vorläufigen Einstellung gegen Geldauflage unterbreitet, so der Anwalt. Diese "Art Deal", wie Stevens sagt, sei für Ofarim günstig gewesen. "So hat er keinen juristischen Makel, erhält keine Eintragungen ins Führungszeugnis und formal gilt immer noch die Unschuldsvermutung", erläutert Stevens. Außerdem sei auch die noch ausstehende Verfahrensdauer, die noch zu hörenden Zeugen und die damit einhergehende Belastung zu berücksichtigen gewesen.
Der Vorsitzende fasste zuvor hinsichtlich dieses Rechtsgesprächs zusammen, dass er darin den erreichten Stand der Beweisaufnahme erläutert habe. Zudem habe er geäußert, dass es in diesem Verfahren insbesondere um die zweifelsfreie Feststellung des Sachverhalts und weniger auf den formellen Verfahrensabschluss ankomme. Er habe sich dabei auf die Anregung des Täter-Opfer-Ausgleichs bezogen. Eine Verständigung gem. § 257c StPO habe nicht stattgefunden.
Zeichen standen wohl auf Verurteilung
Zwischen diesen Zeilen ist also herauszuhören, dass die Zeichen wohl auf Verurteilung standen. Möglicherweise hat der Vorsitzende dies im Rechtsgespräch mehr oder weniger deutlich durchblicken lassen. Es wäre zumindest eine Erklärung für die überraschende Wendung des Verteidigungsvorgehens. Die Verteidiger Ofarims argumentierten bis zuletzt in verschiedenen Ansätzen.
Wegen vorherigen Googelns von Ofarims Person käme es auf die Sichtbarkeit des Sterns gar nicht an, die Überwachungsvideos könnten durch das Hotel manipuliert worden sein, die umstrittene Handbewegung – mit der Ofarim den Anhänger vermutlich für das Video sichtbar machte – wurde mit aller Kraft anders interpretiert, bei der dem W. vorgeworfenen Stern-Bemerkung könnte es sich ja auch schlichtweg um ein Missverständnis gehandelt haben, und generell habe es die Wahrheit inzwischen sehr schwer.
Ob die Verteidigung all dies auch hervorgebracht hätte, wenn das Einstellungsangebot seitens der Kammer schon früher gekommen wäre? Hätte man sich dann grundsätzlich einen zeitaufwendigen und kostenintensiven Prozess sparen können? Oder ging es zunächst auch um eine Bühne vor Medien und öffentlichem Publikum? Spekulationen, die momentan genauso unbeantwortet bleiben wie die menschlich-moralischen Hintergründe von Ofarims Handeln.
Großer Schaden für tatsächlich Betroffene
Der Zentralrat der Juden hob indes laut dpa-Informationen hervor, Ofarim habe neben der Öffentlichkeit auch die jüdische Gemeinde belogen und all denen, die tatsächlich von Antisemitismus betroffen sind, großen Schaden zugefügt. Es sei richtig, bei einem Antisemitismusvorwurf auf der Seite des Betroffenen zu stehen, ihm beizustehen und die Antisemitismuserfahrung zunächst nicht in Frage zu stellen. Umgekehrt dürfe so ein Vorwurf aber niemals grundlos erhoben werden. "Und das ist hier leider passiert", so der Zentralrat weiter.
Um sich der abschließenden Worte der Kammer zu bedienen: "Eins bleibt, wie es war: Antisemitismus ist eine Tatsache. Der Kampf dagegen ist eine Aufgabe." Und letztere hat Ofarim durch seine erfundenen Vorwürfe zweifelsohne ein Stück weit erschwert.
Prozess-Chronologie im Überblick:
*Anm. d. Red.: Absatz ergänzt am 29.11.2023.
Sechster Verhandlungstag im Prozess gegen Gil Ofarim: . In: Legal Tribune Online, 28.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53287 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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