Zumindest für den laufenden Haushalt 2023 muss der Bundestag eine Notlage und damit eine Ausnahme von der Schuldenbremse beschließen. Das ergab eine Expertenanhörung im Haushaltsausschuss. Christian Rath hat den Sachverständigen zugehört.
Ob die Verfassungsrichter:innen all das durchdacht haben, was Ihr Urteil von voriger Woche nun auslöst? Die Politik und auch die Wissenschaft sind noch dabei, sich einen Überblick zu verschaffen. Dabei ist der Bundestag kurz davor, den Haushalt für 2024 zu beschließen und nun steht plötzlich alles in Frage und unter Vorbehalt.
Der Haushaltsausschuss des Bundestags hat deshalb kurzfristig Juristen und Ökonomen (ausschließlich Männer) eingeladen, um über die Folgen des Karlsruher Urteils für den laufenden und den kommenden Haushalt nachzudenken.
Zur Erinnerung: Nach einer Normenkontrollklage von 197 Bundestagsabgeordneten hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) am Mittwoch voriger Woche den zweiten Nachtragshaushalt für das Jahr 2021 für nichtig erklärt. Hauptgrund hierfür war ein Verstoß gegen das Prinzip der Jährlichkeit: Schulden müssen in dem Jahr verbucht werden, in dem sie aufgenommen werden und nicht in dem Jahr, indem Kreditermächtigungen aus dem Haushalt in ein Sondervermögen ausgelagert werden. Damit fehlen dem Klima- und Transaktionsfonds (KTF) plötzlich 60 Milliarden Euro und noch weiß niemand, wie sie ersetzt werden sollen.
In diesen turbulenten Zeiten war die Anhörung der zehn Sachverständigen hilfreich und brachte einige Klarheit.
Verfassungswidriger Haushalt 2023
Von den neuen Maßstäben des BVerfG ist neben dem Klimafonds KTF auch der Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) betroffen. Er wurde per "Doppelwumms" 2022 mit Kreditermächtigungen in Höhe von 200 Milliarden Euro befüllt. Damit sollte u.a. der Anstieg der Strompreise gebremst werden. Allerdings wurden die konkreten Schulden erst im Jahr 2023 auf dem Kapitalmarkt aufgenommen. Nach den neuen Regeln des Verfassungsgerichts müssen die Schulden daher nicht 2022 verbucht werden, sondern 2023.
Doch der Bundeshaushalt 2023 sah bereits rund 45 Mrd. Euro Schulden vor (gerade so viel wie die Schuldenbremse inklusive Konjunkturkomponente zulässt). Mit den nun auch 2023 zu verbuchenden Schulden des WSF ist die Schuldenbremse verletzt, der Haushalt ist damit verfassungswidrig. Darin waren sich alle Sachverständigen einig, unabhängig davon, wer sie eingeladen hatte.
Die Verfassungswidrigkeit kann aber behoben werden, wenn der Bundestag wie 2020, 2021 und 2022 beschließt, dass eine außerordentliche Notsituation vorliegt. Dann können nämlich laut Artikel 115 Abs. 2 S. 6 Grundgesetz (GG) mehr Kredite aufgenommen werden als die Schuldenbremse erlaubt.
Für einen solchen Notlagenbeschluss warben der Berliner Rechtsprofessor Alexander Thiele, der schon die Bundesregierung vor dem BVerfG vertrat, und auch der von den Grünen benannte Trierer Rechtsprofessor Henning Tappe. Selbst der Heidelberger Rechtsprofessor Hanno Kube, der die Klage der CDU/CSU-Abgeordneten geschrieben hatte, stimmte zu. Er will den Notlagenbeschluss allerdings strikt auf Ausgaben des WSF zur Abmilderung der Folgen der Energiekrise 2022 beschränken.
Große Unklarheit beim Haushalt 2024
Eigentlich will der Bundestag den Haushalt für 2024 in der nächsten Woche am 1. Dezember beschließen. Tappe sieht kein Problem dabei. Wegen der Karlsruher Entscheidung seien "nur redaktionelle Änderungen" erforderlich. Über die fehlenden Mittel für den Klimafonds könne man auch später noch entscheiden und dann einen Nachtragshaushalt beschließen.
Das sieht Kube aber ganz anders. Der Haushalt 2024 sei derzeit "nicht entscheidungsreif". Erstmal müsse ein Kassensturz für das Jahr 2023 gemacht werden. "Und wenn der Haushalt 2023 abgesichert ist, kann auch der darauf aufbauende Haushalt 2024 ins Ziel gebracht werden", so Kube. Das könne auch erst im kommenden Jahr 2024 sein.
Anders als Thiele sieht Kube darin keine verfassungsrechtlichen Risiken. "Die vorläufige Haushaltsführung gemäß Art. 111 GG ist doch genau dafür verfassungsrechtlich vorgesehen." Auch Jan Keller vom Bundesrechnungshof hält die vorläufige Haushaltsführung für ein gängiges Instrument. "Wenn die Regierung außerplanmäßig Geld ausgeben will, muss sie eben jedes Mal den Bundestag fragen." Das sei zwar etwas umständlich, habe sich aber bewährt.
Wie kann man die Einnahmen erhöhen?
Wenn plötzlich 60 Milliarden Euro fehlen, müssen entweder die Einnahmen erhöht oder die Ausgaben gekürzt werden. Bei der politischen Bewertung waren nun auch die Ökonomen in der Anhörung gefragt.
Der von der FDP benannte Karlsruher Ökonomieprofessor Berhold U. Wigger warnte vor Steuererhöhungen, insbesondere für Unternehmen: "Im Vergleich zu den anderen G-7-Staaten sind die Steuern jetzt schon in Deutschland am höchsten", das sei ein Standortnachteil. Der von den Grünen benannte Ökonomieprofessor Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft stimmte zu.
Auch bei Haushaltskürzungen zeigte sich Wigger skeptisch. "Natürlich müsste man jetzt Priorisierungen vornehmen, aber dabei sind die Investitionsmittel besonders vulnerabel." Das heißt: Bei Investitionen wird leichtherziger gekürzt als bei Sozialleistungen, weil die negativen Effekte erst mittelfristig spürbar sind. Wenn bei den Investitionen gespart wird, wäre das aber, so Wigger, besonders problematisch, weil in Deutschland besonders hoher Investitionsbedarf bestehe.
Rechnungshof-Mann Keller verwies auf die Empfehlungen des Bundesrechnungshofs. Es gebe soviele Möglichkeiten, Mittel zu streichen, die bisher nicht effizient eingesetzt würden.
Wie lange dauert eine Notlage?
Und natürlich könnte der Bundestag die 60 Milliarden - wie ja ursprünglich geplant - durch neue Schulden finanzieren. Von zentraler Bedeutung bei der Anhörung war deshalb die Frage, ob der Bundestag sich auch 2024 und 2025 noch auf die Notlagenklausel des Grundgesetzes berufen kann. Thiele konnte hier auf das Karlsruher Urteil von voriger Woche verweisen. In Randziffer 172 stelle das BVerfG klar, dass es beim jährlich erforderlichen Notlagenbeschluss nicht nur um die auslösende Notlage an sich gehe, sondern auch um "deren Folgen".
Eine Notsituation im Sinne des Grundgesetzes ist also nicht nur die Corona-Pandemie und die durch den russischen Krieg in der Ukraine verursachte Energiekrise, sondern auch die dadurch ausgelöste ökonomische Krise, die durchaus länger dauern kann als das auslösende Ereignis. Im Fall einer länger dauernde Krise müsse dann eben der Bundestag zu "jährlich wiederholten Feststellungen" der Notlage greifen. Auch hier konnte Thiele auf das Urteil verweisen, diesmal auf Randziffer 212.
Wie soll der Staat noch Vertrauen in seine Investitionen schaffen?
Diese Konzeption des BVerfG erlaubt zwar vermutlich die Lösung der drängendsten Haushaltsprobleme. Das Urteil der Verfassungsrichter:innen stieß allerdings bei den Ökonomen auf Kritik. Wenn die Finanzierung von Mitteln gegen die Krise jährlich neu beschlossen werden muss, könne kein langfristiges Vertrauen in die staatlichen Maßnahmen aufgebaut werden.
"Es ist Aufgabe des Staates, die Erwartungen des privaten Sektors zu stabilisieren", sagte Wigger, eine jährliche Feststellung der Notlage bringe dagegen "zusätzliche Unsicherheit in den privaten Sektor" hinein. Der Düsseldorfer Ökonomieprofessor Jens Südekum, von der SPD benannt, befürchtet, dass der Staat so nur noch kurzfristige konsumptive Maßnahmen ("Helikoptergeld") finanzieren könne, nicht aber verläßliche mehrjährige Investitionen, die viel wirkungsvoller wären.
Auch Michael Hüther vom Institut der Deutschen Wirtschaft warnte, dass mit der neuen Rechtsprechung keine Erwartungsstabilität für Investoren geschaffen werden könne. "Wir laufen jetzt in eine hartnäckige Investitionskrise hinein", so Hüther.
Thiele sah das "Ziel einer schnellen Krisenbewältigung" gefährdet. Wenn die Notlage jährlich neu festgestellt werden muss, könnten sich ja politische Mehrheiten oder politische Prioritäten verändern. So werde kein belastbares Vertrauen geschaffen.
Nur Kube war zuversichtlicher: Der Staat habe viele Möglichkeiten, langfristige Signale zu setzen. Auf die Sicherung der Finanzierung komme es für die Außenwirkung nicht so sehr an.
Ein Reform der Schuldenbremse forderte lediglich der Düsseldorfer Ökonom Südekum.
Sachverständige zur Haushaltskrise: . In: Legal Tribune Online, 21.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53231 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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