Die VW-Abgasaffäre bringt eine alte Forderung neu auf den Tisch: Sammelklagen für Verbraucher, die durch Fehlverhalten von Unternehmen geschädigt werden. Robert Peres über die deutsche Angst vor "amerikanischen Verhältnissen".
Dieses Mal ist es der VW-Skandal, der die Diskussion um den kollektiven Rechtsschutz wieder entfacht hat. Der Skandal und die Erkenntnis, dass Einzelklagen bei einer Vielzahl gleichgelagerter Fälle ineffizient sind, die Gerichte verstopfen und dazu führen, dass viele Anspruchsinhaber schon im Vorfeld aufgeben und somit keine adäquate Rechtsdurchsetzung möglich ist.
Oft geht es um kleinere Beträge, wenn etwa der Stromversorger überhöhte Rechnungen schickt. Aber manchmal geht es um auch erhebliche Schadenssummen, wie zum Beispiel bei der Pleite des Energieunternehmens Prokon oder eben jüngst Dieselgate, von dem tausende Anleger und Autobesitzer betroffen sind. Während aber vor dem Langericht Braunschweig am Mittwoch das erste Sammel-Verfahren von Aktionären startete, welche wegen der gefallenen Kurse gegen VW klagen, müssen andere geschädigte Verbraucher ihr Recht alleine vor Gericht erstreiten. Das ist oft teuer, langwierig und nicht immer von Erfolg gekrönt.
Heiko Maas (SPD), Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, fordert, dass "Verbraucherrechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch Wirklichkeit werden". Dazu erwägt man im BMJV auch die Einführung einer Superbehörde mit weitreichenden Sanktionskompetenzen, ähnlich der Federal Trade Commission (FTC) in den USA. Die FTC ist keine bloße Wettbewerbsbehörde, sondern nimmt auch Aufgaben des Verbraucherschutzes wahr. Die Einführung eines neuen Akteurs in Form einer Verbraucherschutzbehörde erhöhe die Verfolgungswahrscheinlichkeit und dämme damit bewusste oder fahrlässige Schädigungsabsicht beim Verursacher ein, heißt es aus dem Ministerium.
In Deutschland dürfen nur Aktionäre gemeinsam klagen
Neu ist die Idee nicht, politisch gab es seit jeher und gibt es weiterhin Gegenwind für die Sammelklage, auch der Deutsche Richterbund sieht keine Notwendigkeit für ihre Einführung von Sammelklagen.
In den USA gibt es eine solche Klagemöglichkeit durch die sog. "Class action", nicht aber in Deutschland. Hier gibt es die Verbandsklage, die hauptsächlich im Umweltbereich eingesetzt wird. Im Zivilrecht dürfen Verbände lediglich auf Unterlassung klagen.
Das deutsche Recht kennt auch keine Gruppenbetroffenheit. Bei uns muss jeder Kläger individuell den Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und seiner Betroffenheit darlegen und beweisen. Einzige Ausnahme: Das angesprochene sog. KapMuG-Verfahren für Anleger. Dabei werden zehn oder mehr gleichgelagerte Fälle in einem Musterverfahren verhandelt und am Ende sollen dann auch diejenigen davon profitieren, die sich dem Ergebnis anschließen.
Ausgangspunkt waren etwa 16.000 Telekom-Aktionäre, die wegen nach ihrer Ansicht falscher Angaben in einem Verkaufsprospekt Schadensersatz verlangten. Man versprach sich vor allem auch eine zügige Abwicklung der Fälle, denn das Bundesverfassungsgericht sieht in einer langen Prozessdauer einen Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie, wonach in angemessener Zeit über einen Streit zu entscheiden ist. Doch leider blieb dies ein frommer Wunsch, noch heute werden Telekom-Fälle verhandelt, und das über 10 Jahre nach Eintritt des schädigenden Ereignisses.
Politische Auseinandersetzungen
Die EU-Kommission versucht seit 2007, europäische Sammelklagen einzuführen, ist aber stets am nationalen Widerstand aus der Wirtschaft gescheitert - vor allem in Deutschland und Frankreich.
2013 hat die Kommission den Mitgliedstaaten unverbindlich die Einführung kollektiver Rechtsschutzverfahren empfohlen, um einen effektiveren Zugang zum Recht zu gewährleisten. Zuletzt 2014 hat sich das Europaparlament gegen die Einführung von Sammelklagen bei Kartellverstößen ausgesprochen. Doch damit war das Thema nicht vom Tisch.
Im selben Jahr legte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag den Entwurf eines Gesetzes über die Einführung von Gruppenverfahren vor, das stark am Prinzip der Sammelklage angelehnt war. Mit einem Prozessrecht aus dem "19. Jahrhundert" könne man weder dem Problem des mangelnden Zugangs zum Recht bei massenhaft auftretenden Individualschäden begegnen noch dem daraus folgenden Defizit bei der Rechtsdurchsetzung, so die damalige Begründung.
Ginge es nach den Grünen, sollten auch die Verbraucher, die Fahrzeuge gekauft haben, welche die versprochenen Abgaswerte nicht erfüllen, nach den kollektiven Grundsätzen des KapMuG gemeinsam gegen den Wolfsburger Weltkonzern vorgehen können.
2/2: Die Angst vor "amerikanischen Verhältnissen"
Im November 2015 lehnte der Bundestag den Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ab. Die SPD stimmte zwar im Kern zwar dessen Grundzielen zu, ging aber von einem zu großen Missbrauchspotential aus. Insbesondere spezialisierte Großkanzleien würden die Gruppenklage zu ihrem Hauptgeschäftsfeld machen.
Dieses Argument hört man im Zusammenhang mit Sammelklagen immer wieder, gern umschrieben mit dem ebenso plastischen wie diffusen "bloß keine 'amerikanischen Verhältnisse'"! Dabei denkt man wohl an die in den USA tätige Klageindustrie, aufgrund derer Unternehmen angesichts tausender gebündelter Klagen schnell zu teuren Vergleichen bereit sind.
Das passiert auch deutschen Firmen, die in diesem Markt tätig sind. Boehringer Ingelheim musste einem Vergleich über 470 Millionen Euro Schadensersatz zustimmen, weil US-Kläger deren Schlaganfallmittel Pradaxa für zum Teil tödliche Blutungen verantwortlich machten. Das Unternehmen ließ daraufhin mitteilen, dass man mit der Zahlung keineswegs eine irgendwie geartete Schuld anerkenne. Man habe dem Vergleich lediglich zugestimmt, um einem langwierigen Prozess aus dem Weg zu gehen.
Der feine Unterschied zwischen Deutschland und Amerika
Tatsächlich ist es die Regel in Amerika, dass Anwälte an Class-actions mehr verdienen als ihre Mandanten. Bei einem klassischen Fall klagte eine amerikanische Anwaltskanzlei etwa 16 Dollar pro Kläger dafür ein, dass die diagonale Abmessung von gekauften Computerbildschirmen wenige Millimeter geringer war als im Prospekt angegeben. Die Anwälte strichen ein Millionenhonorar ein.
Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass Unternehmen in den USA wesentlich mehr Angst vor einer späteren Entschädigungspflicht haben müssen als hierzulande. Dort gibt es sogar noch die sog. "punitive damages", den Strafschadensersatz. Dabei kann das Gericht eine verdreifachte Schadenssumme bestimmen, wenn der Schädiger absichtlich oder aus niederen Motiven gehandelt hat.
In Deutschland ist man davon weit entfernt. Und das sollte auch so bleiben. Nach dem in Deutschland herrschenden Vorsorgeprinzip mischt sich der Staat bereits im Vorfeld mittels Marktzulassungskriterien und Prüfungsprozessen stärker in die Produkt- und Dienstleistungserbringung ein. Für ein nachträgliches Korrektiv mittels gerichtlicher Überprüfung ist daher weniger Raum. Was aber passiert, wenn die Marktzulassungsbarrieren nicht funktionieren oder, wie im Fall von VW, betrügerisch umgangen werden?
Workaround auf niederländisch
VW-Geschädigte versuchen sich anders zu behelfen. Sie haben bereits vielfach Einzelklagen sowohl gegen Volkswagen als auch gegen Händler angestrengt, erst Anfang der Woche wurde die erste stattgebende Entscheidung des LG München I bekannt. Dazu kommen die Anlegerklagen nach dem KapMuG-Verfahren, die aber nach aller Erfahrung viele Jahre in Anspruch nehmen.
Eine interessante und kreative Lösung haben sich die beratenden Rechtsanwälte der „Stichting Volkswagen Investor Claims“ ausgedacht. Das Modell basiert auf niederländischem Recht und führt geschädigte Anleger über ein Stiftungskonstrukt zusammen, die dann als Gruppe einen Vergleich mit Volkswagen anstreben können.
Dieser Lösung können sich Anleger aus ganz Europa anschließen. Bisher hat Volkswagen allerdings alle Verantwortung für die Verluste der Aktionäre abgestritten und Verhandlungen abgelehnt. Dabei wäre eine kollektive Lösung gerade im Interesse der Wolfsburger, denn damit hat man nicht nur das Problem vom Tisch, sondern gewinnt auch in den Augen der Öffentlichkeit wieder an Statur.
Vielleicht kommt die Sammelklage in Deutschland ja doch noch. Es gibt in der CDU/CSU Fraktion durchaus Stimmen, die eine solche Möglichkeit befürworten. Das wäre allerdings erst in einer neuen Koalition möglich, denn das gegenwärtige Regierungsbündnis sieht hier keinen Regelungsbedarf. Zu wünschen wäre es, denn mit einer Sammelklage lässt sich mehr Gerechtigkeit erzielen und Unternehmen wären vorsichtiger im Umgang mit ihren Kunden und Anlegern. Wenn man die aus den USA bekannten Exzesse vermeidet und eine für alle Beteiligten faire Regelung findet.
Der Autor Robert Peres ist Rechtsanwalt in Wiesbaden.
Robert Peres, Nach Dieselgate: Braucht Deutschland die Sammelklage? . In: Legal Tribune Online, 27.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19480/ (abgerufen am: 18.07.2024 )
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