Der Fall des Schusters Friedrich Wilhelm Voigt, der sich als Offizier ausgab und die Stadtkasse von Köpenick entwendete, wirkt "auserzählt". Seine Geschichte in amtlichen Dokumenten wiederzuentdecken, lohnt aber nicht nur für Juristen.
Wie viele Eltern nehmen an diesem Schritt ihrer Kinder wohl leibhaftig Anteil?
Zur Immatrikulation seines vierten Sohnes an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn reiste sein Vater aus Potsdam an. – Dieser Sohn, August Wilhelm von Preußen (1887–1949), der später als NSDAP-Mitglied und SA-Führer in Erscheinung trat und darum in jüngster Zeit für die juristische Frage relevant wurde, ob und in welchem Umfang die frühere preußische Herrscherfamilie dem NS-Regime Vorschub geleistet hat, bezog im Jahr 1906 die Kronprinzenvilla zu Bonn, ein nicht eben bescheidenes Gebäude am Rhein – deutlich größer als die durchschnittliche Unterkunft eines gewöhnlichen Professors, selbst wenn die Gelehrten damals noch nicht auf das soziale Niveau von Reihenhausbesitzern herabgesunken waren.
Sein Vater, Wilhelm II. (1859–1941), nutzte die Gelegenheit, sich dem Volk zu zeigen. Am Kaiserplatz, einen Steinwurf vom Gebäude der Hochschule entfernt, weihte der Preußenfürst ein Denkmal für Wilhelm I. ein, besichtigte weiterhin die historisch bedeutende Doppelkirche in Schwarzrheindorf.
An diesem Tag, an dem die Professoren der Universität zu Bonn ihrem Landesherren huldigten und der preußische Fürst – wie die Presse berichtete – mit dem immer noch neumodischen Automobil zu den ausgesuchten Sehenswürdigkeiten befördert wurde, nahm in der damals selbständigen Stadt Köpenick – amtlich: Cöpenick – bei Berlin die berühmte "Köpenickiade" ihren Lauf.
"Hauptmann von Köpenick" – Worum ging es da noch einmal?
Am 16. Oktober 1906 kleidete sich Friedrich Wilhelm Voigt (1849–1922), ein Schuhmacher aus dem ostpreußischen Tilsit, in die – unzureichend zusammengekaufte – Uniform eines preußischen Hauptmanns, befahl einer Anzahl von Soldaten, die er beim Abmarsch von der Militärbadeanstalt Plötzensee und anderweitig abpasste, ihm zu folgen. Mit der Bahn und zu Fuß marschierte die obskure Truppe zum Rathaus von Köpenick, riegelte es ab.
Voigt ließ den Bürgermeister und einen leitenden Beamten sistieren, schickte jedoch den Leiter der örtlichen Polizei zum Baden nach Hause, weil dieser – wie Voigt später angab – die Körperreinigung auch nötig gehabt habe.
Ein zugezogener Beamter hatte den Bargeldbestand der Stadtkasse abzurechnen, den Voigt an sich nahm. Den Soldaten wurde befohlen, mit den inhaftierten Kommunalbeamten zur Neuen Wache nach Berlin aufzubrechen.
Mit der Flucht von Voigt, der zehn Tage später in Haft genommen wurde, begann sogleich eine Mediengeschichte. Die "Köpenickiade" ist zudem mehrfach unter anderem für den Film bearbeitet worden.
Der Vorgang wurde Gegenstand eines Strafverfahrens vor dem Landgericht Berlin II, gegen die Soldaten wurde von der Militärjustiz ermittelt. Auch die Geschichte einer Briefmarke im Wert von fünf Pfennig hängt am "Hauptmann von Köpenick" – und sie verblüfft vielleicht sogar noch auf neue Weise.
Akten-, Urteils- und Zeitumstände
Durch den Eifer der Behörden wie auch beachtlicher Kreise der Bevölkerung, den falschen Hauptmann zu ergreifen, wurde die Sache rasch zu einem Vorgang der Mediengeschichte – und zwar bereits während der zehn Tage, während derer sich Voigt noch auf freiem Fuß befand.
Aus dem pfälzischen Landau, weitab vom Geschehen, berichtete etwa ein Korrespondent am 22. Oktober 1906:
"In Waldfischbach wurde heute ein gewisser Runge, der früher Handelslehrer in Pirmasens war, unter dem Verdacht verhaftet, der Köpenicker Kassenräuber zu sein. Sein Alter und sein schleppender Gang stimmten mit dem Signalement überein, das die Berliner Polizei ausgegeben hat. Runge war Feldwebel in Frankfurt am Main und ist aus Herxheim bei Landau gebürtig. Seine Handschrift soll der des Verbrechers ähneln."
Seiner Freiheit und Ehre konnte der unschuldige Pädagoge aus der Pfalz erst einige Tage später, nach der Verhaftung von Voigt in Berlin, wieder sicher sein.
Auch in Weißensee, bis zum Groß-Berlin-Gesetz von 1920 eine Ortschaft außerhalb der Stadtgrenzen, sah sich ein Mann namens Josef Hauptmann dem Verdacht ausgesetzt, der gesuchte falsche Offizier zu sein – auf ihn kommen wir später zurück.
Dokumentiert finden sich solche amtlichen und wesentliche massenmediale Vorgänge rund um die Sache des "Hauptmanns von Köpenick" in einem schmalen, aber dicht gedruckten Buch, das Wolfgang Heidelmeyer, ein promovierter Jurist und Archivbeamter beim Senat von Berlin (West), im Jahr 1968 veröffentlichte – ein Werk, das damals vom Frankfurter Fischer-Verlag in beachtlicher Auflage unters Volk gebracht wurde.
Heidelmeyer collagierte dazu nicht nur Dokumente, die unmittelbar mit der Sache in Köpenick zu tun hatten. Um einen Eindruck vom damals schon fernen Jahr 1906 zu vermitteln, führte er etwa die Verfügung des preußischen Ministers der "geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten" an, mit der die Beschäftigung eines sozialdemokratischen Pädagogen untersagt wurde, weil Angehörigen dieser Partei die sittliche Reife fehlte, Turn-Unterricht zu geben. Ebenfalls in dieses Jahr fällt das Urteil des Reichsgerichts vom 12. Juli 1906 (Az. VI 497/05), das den Gewerkschaften gewisse Freiräume im nicht mehr zwangsläufig als versuchte Nötigung gewürdigten Arbeitskampf eröffnete.
Die Lebensgeschichte Wilhelm Voigts wird dabei in amtlichen Dokumenten und – häufig allzu rosigen – Selbstzeugnissen umrissen.
Zum Beispiel: Keine echte Freizügigkeit im Bundes- bzw. Reichsgebiet
Erzählt wird damit einerseits vom Lebensweg eines Mannes, der seit einer sehr kurzen Haft wegen einer obskuren Sache, die er mit 14 Jahren abzusitzen hatte, als vorbestraft und nur noch bedingt gesellschaftsfähig galt – es folgten später auch Zuchthausstrafen bis hin zu einer fast 15-jährigen Inhaftierung wegen eines bewaffneten Einbruchdiebstahls, der dem Bargeld in der Justizkasse galt.
Nach der Entlassung aus dem Zuchthaus fiel Voigt – wie in der künstlerischen Nachbereitung der "Köpenickiade" oft übertrieben ausgeschmückt wurde – einer seinerzeit schon als antiquiert betrachteten Beschränkung der Freizügigkeit zum Opfer: Nach § 3 Bundesgesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 wurde ihm regelmäßig verweigert, sesshaft zu werden und einer geregelten Arbeit nachzugehen, zuletzt durch Ausweisung aus Berlin und Umlandgemeinden.
Im Nachgang der "Köpenickiade" wurden weitere Fälle der Ausweisung im Reichstag debattiert – der SPD-Abgeordnete und Jurist Wolfgang Heine (1861–1944) führte etwa das Beispiel eines früher sozialdemokratischen, inzwischen aber längst unverdächtigen Schriftstellers an, der vom seinerzeit noch selbständigen Wilmersdorf nach Friedenau umgezogen war, was die Polizeibehörde nutzte, ihn von dort auszuweisen.
Andererseits führte Wolfgang Heidelmeyer schon 1969 gegen eine naive Ausschmückung der Geschichte an, dass die Motivation von Wilhelm Voigt, sich mit den Soldaten über das Rathaus von Köpenick herzumachen, wohl nicht auf seinem Leid beruhte, keinen Pass zu besitzen und keine Freizügigkeit zu genießen. Denn allzu offensichtlich war das Interesse des langjährigen Zuchthausinsassen an dem Geld und an Schuldverschreibungen im Besitz der Gemeinde Köpenick, die für ihn nur dank des Zweiaugen- bzw. Zwei-Tresorschlüssel-Prinzips der Kommunalverwaltung unzugänglich blieben.
Strafsache wegen Uniform-Missbrauch und die Briefmarke
Das Urteil des Landgerichts Berlin II – "Im Namen des Königs!" – in der Strafsache gegen Voigt vom 1. Dezember 1906 (Az. II 2 f. L. 3 Nr. 58.06) erkannte für Recht:
"Der Angeklagte ist des unbefugten Tragens einer Uniform, des Vergehens wider die öffentliche Ordnung, der Freiheitsberaubung, des Betruges und der schweren Urkundenfälschung, alles verübt im rechtlichen Zusammenhang, schuldig und wird deshalb zu einer Gefängnisstrafe von 4 – vier – Jahren verurteilt. Er trägt die Kosten des Verfahrens. Die von dem Angeklagten bei der Straftat getragenen militärischen Ausrüstungsgegenstände werden eingezogen."
Zur Mediengeschichte der "Köpenickiade" zählte, dass namentlich die französische Presse spekulierte, ob der grausame Fürst Wilhelm II. dem armen Schuster in dieser Sache auf dem Gnadenweg einige Haftzeit erlassen würde, wie es dann schließlich in der Tat geschah – allerdings war der Kaiser und König über die Landesgrenzen hinweg durchaus dafür bekannt, "alten Zuchthäuslern" sonst keine Gnade zu gönnen. Jedenfalls hatte er – stete Versuchung für alle Populistinnen und Populisten – mit seiner diesbezüglichen Gnadenlosigkeit öffentlich kokettiert.
Über die Strafbarkeit der Soldaten, die sich dem Befehl des falschen Hauptmanns – in womöglich allzu großer Fahrlässigkeit – unterstellt hatten, räsonierte, wie Wolfgang Heidelmeyer 1968 dokumentierte, die deutsche Presse seinerzeit gutachterlich schneller als es die Militärgerichtsbarkeit – mit dem medial zutreffend vorausgesagtem Ergebnis – zugunsten der Beschuldigten tun konnte.
Unter den zahllosen medien- und rechtshistorischen Streiflichtern, die in der "Köpenickiade" aufleuchten, soll hier nur noch eines herausgegriffen werden, erwähnt wurde es schon. Mit Schreiben vom 10. November 1906 wendete sich ein Mann aus Kreuzberg, der sich fälschlich als der flüchtige "Hauptmann" verdächtigt sah, an das Polizeiamt Weißensee:
"Der Endunterfertigte ersucht höflichst die Löbl. Behörde um Angabe der Adresse der Frau, die mich in der Köpenicker Affäre als Thäter angab, ihr Mädchenname ist Hollstein, eine gütige Antwort erwartend zeichnet Hochachtungsvoll – Josef Hauptmann – Berlin S.O. 26, Cottbusserstr. 3a"
Zwei Tage später gibt der zuständige Beamte in Weißensee zur Akte, dass von einem solchen Verdacht gegen Herrn Hauptmann nichts bekannt sei.
Mit Datum vom 28. November 1906 wird die Verfügung zur Akte genommen, dass Herrn Hauptmann der Name der Dame nicht genannt werden könne und dass ihm die Briefmarke, die er seiner Anfrage beigefügt hatte, zurückzugeben sei.
Schließlich findet sich in dieser Akte noch die
"Quittung. Die 5=Pfennig=Freimarke habe ich heute vom 48. Polizei=Revier wieder zurück erhalten. Berlin, den 1.12.06 Jos. Hauptmann"
Über die törichte Bereitschaft preußischer Soldaten, einem obskuren Offizier in nachlässiger Uniform zu gehorchen, lachte man schon im Jahr 1906. – Möchte man aber heute über die Sorgfalt im Umgang mit einer 5-Pfennig-Briefmarke eher lachen oder weinen, und sei es nur mit Blick auf unsere Verwaltungskultur?
Hinweise: Wolfgang Heidelmeyers "Der Fall Köpenick", Frankfurt am Main (Fischer) 1968, ist antiquarisch günstig zu erwerben. Eine umfangreiche Darstellung der Sache inklusive Dokumentation des Strafurteils vom 1. Dezember 1906 veröffentlichte der Strafrechtslehrer Henning Rosenau 2010.
Historischer Kassenraub: . In: Legal Tribune Online, 14.05.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51757 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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