Hat der Sänger Gil Ofarim einen antisemitischen Vorfall in einem Hotel nur erfunden? Sein Verteidiger philosophiert am ersten Prozesstag über die Wahrheit an sich, ein Hotelmitarbeiter spricht von Morddrohungen. Linda Pfleger ist vor Ort.
Fast sinnbildlich beginnt der erste Verhandlungstag im Prozess gegen Gil Ofarim am Landgericht (LG) Leipzig (Az.: 6 KLS 607 Js 56884/21) genauso, wie das Geschehen rund um den Sänger im Leipziger "The Westin Hotel" im Oktober 2021: mit einer langen Personenschlange. Aus Ärger wegen der langen Wartezeit beim Check-In soll Ofarim damals antisemitische Vorfälle erfunden haben, so der Vorwurf der Anklage. Heute musste er hingegen als Beschuldigter nicht Schlange stehen.
Anders die zahlreichen Medienvertreter:innen und Zuschauende. Bereits anderthalb Stunden vor Verhandlungsbeginn war der Andrang vor dem Gerichtsgebäude groß und ließ so manche Passierende ungläubig und verärgert über die Behinderung des Fußweges den Kopf schütteln. Eine Stunde vor der Ankunft des Angeklagten tummelten sich Dutzende Medienschaffende schon vor der Anklagebank und füllten zusammen mit vielen Justizbeamt:innen und neugierigen Zuschauenden rasch den holzvertäfelten Schwurgerichtssaal im LG Leipzig.
Schließlich betrat der Angeklagte Gil Ofarim, der auch im Prozess mit seinem Künstlernamen angesprochen werden möchte, pünktlich um 9 Uhr zusammen mit seinen Verteidigern den Saal 115 und nach über einjähriger Vertagung begann der medial zerrissene Prozess um den Musiker und Schauspieler. Ursprünglich sollte das Verfahren im Oktober 2022 beginnen, wurde dann jedoch unter anderem wegen der Kritik der Verteidiger Ofarims, es handele sich um einen "Schauprozess", vom LG Leipzig auf zunächst unbestimmte Zeit verschoben. Nun findet es vor der 6. Großen Strafkammer mit drei Berufsrichter:innen und zwei Schöffinnen statt.
Staatsanwaltschaft erhebt Vorwurf falscher Verdächtigung und Verleumdung
Bekannt war von Anfang an, dass der Vorwurf gegen Ofarim im Wesentlichen eine Strafbarkeit wegen falscher Verdächtigung gemäß § 164 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) in zwei Fällen, davon einer mit Verleumdung gemäß § 187 StGB umfasst. Zudem habe er sich wegen falscher Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB) und Betruges (§ 263 Abs. 1 StGB) sowie versuchten Betruges strafbar gemacht. Dabei bleibt es: Die von Staatsanwalt Andreas Ricken verlesene Anklageschrift gibt die Vorwürfe detailliert wieder.
Ofarim berichtete in einem Video auf seinem Instagram-Kanal, er sei am 04. Oktober 2021 Opfer eines antisemitischen Vorfalls im Leipziger "The Westin Hotel" geworden. Als er nach längerer Wartezeit in einer Schlange vor dem Check-In-Tresen an die Reihe kam, habe ihn ein Mitarbeiter des Hotels aufgefordert, seine Kette mit einem Davidstern-Anhänger "einzupacken". Dann dürfe er einchecken. Zuvor seien andere wartende Gäste in der langen Schlange vorgezogen worden. Ofarim und der Hotelmitarbeiter, der als Nebenkläger am Verfahren teilnimmt, zeigten sich daraufhin gegenseitig an. Das Video, das noch immer auf Ofarims Instagram-Account zu finden ist und aktuell über vier Millionen Aufrufe verzeichnet, wurde später in der Verhandlung auf großer Leinwand abgespielt.
Mitarbeiter habe nichts zu Davidstern gesagt
Den Hergang des Vorfalls habe Ofarim so auch in einer polizeilichen Vernehmung und in einer Eidesstattlichen Versicherung geschildert. Diese wurde in einem von den Ereignissen hervorgerufenen zivilrechtlichen Verfahren abgegeben, in dem es um eine einstweilige Verfügung wegen Unterlassungsansprüchen gegen die Leipziger Volkszeitung (LVZ) ging. Darauf fußt der Vorwurf der falschen Versicherung an Eides statt und des Prozessbetrugs.
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft hat sich das Geschehen aber tatsächlich nicht so ereignet. Der Mitarbeiter habe sich zu dem Davidstern nicht geäußert. Ofarim habe diesen zudem nicht sichtbar unter seinem T-Shirt getragen und sich über das Bevorzugen der anderen Gäste beschwert. Er habe gedroht, über die sozialen Medien zu verbreiten, was das Hotel für ein "Scheißladen" sei und ein Video zu posten, das viral gehen werde.
Verteidigung rügt Besetzung des Gerichts
Von der Verteidigung wurde bereits im Vorfeld ein Besetzungseinwand hervorgebracht. Die Person des Vorsitzenden habe sich während eines laufenden Geschäftsjahres geändert, was besonderer Gründe bedürfe. Der nun Vorsitzende Richter Dr. Andreas Stadler kam erst während des laufenden Verfahrens ans Landgericht. Damit sei das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 2 Grundgesetz (GG) verletzt. Diese gesetzlichen Regeln seien nicht ohne Grund streng, es solle eine bewusste Einflussnahme auf bestimmte Fälle verhindert werden, so Rechtsanwalt Dr. Alexander Stevens, der zusammen mit anderen Kollegen die Verteidigung Ofarims übernimmt. Die von Ofarim eingelegte Verfassungsbeschwerde blieb allerdings bislang erfolglos. Die Kammer positionierte sich inhaltlich nicht zu dem Einwand. Das Oberlandesgericht Dresden wird hierüber entscheiden.
Kammer: Offener und verdeckter Antisemitismus überall anzutreffen
Klar Position bezog die Kammer jedoch mit einer deutlichen Aussage, die der Vorsitzende an den Anfang des Verfahrens stellte: "Es ist eine allgemeinkundige Tatsache, dass in allen gesellschaftlichen Schichten offener und verdeckter Antisemitismus anzutreffen ist." Daher brauche dies nicht bewiesen zu werden. Wenig später hob auch Verteidiger Dr. Stevens in seinen anfänglichen Ausführungen, die – wie der Vorsitzende spitz bemerkt, fast schon das Plädoyer vorwegnehmen – diese Bemerkung positiv hervor. Der Vorgänger des Vorsitzenden Dr. Stadlers habe sich damals noch anders geäußert: Es gäbe zwar Antisemitismus, es sei aber schwer vorstellbar, dass er in einem hochklassigen Hotel unmittelbar neben einer Synagoge offen zutage trete.
"Die Wahrheit hat es inzwischen sehr, sehr schwer"
Die weiteren Ausführungen des Verteidigers muten zum Teil wie eine Ethikstunde an. Stevens stellt den Begriff der "Wahrheit" in den Mittelpunkt, argumentiert naturwissenschaftlich, philosophisch und theologisch und garniert seinen Vortrag mit einem Katzenbeispiel. Er vergleicht den Fall Ofarims mit den klassischen "me-too"-Fällen. Diese seien typischerweise schwer nachweisbar, es stünde – wie in diesem Prozess – Aussage gegen Aussage. "Die Wahrheit hat es inzwischen sehr, sehr schwer", fasst er für das Verfahren gegen seinen Mandaten zusammen. Jeder sei in seiner Rolle, jeder Teil der eigenen Selbstinszenierung. Das Hotel etwa habe entgegen der öffentlichen Darstellung nicht ergebnisoffen und fair ermittelt. Es habe ein Anwaltsbüro beauftragt und interne Ermittlungen angestellt, deren Ergebnis bis heute nicht in den Akten zu finden sei.
Darüber hinaus betonte Stevens, dass Ofarims Umfeld ihn nur mit seiner Kette mit dem Davidstern-Anhänger kenne. Auch am heutigen Verhandlungstag trägt Ofarim, der durchgehend ernst und ruhig wirkt, die silbern-glänzende Kette gut sichtbar um den Hals.
"Wird dieser Prozess die Wahrheit aufdecken? Gil Ofarim hofft es, seine Anwälte sind skeptisch", so Stevens schließlich. Etwa weil Beweise trotz aller Wahrheit oft tatsächlich schwer zu erbringen sein können oder weil die Wahrheit doch woanders liegt?
Von der Drohung Ofarims zur Morddrohung gegenüber dem Mitarbeiter
Eine Wahrheit, die der Hotelmitarbeiter anders darstellt. Er wurde als erster Zeuge sehr ausführlich vernommen. Im Wesentlichen stimmt seine Version mit der der Staatsanwaltschaft überein. Ofarim habe sich wild gestikulierend aufgeregt, dass andere Gäste bevorzugt worden seien. Er habe gedroht, gleich auf sein Zimmer zu gehen und der Welt in einem viral gehenden Video zu erklären, dass es sich um ein "Scheißhotel" handele.
Davon habe der Zeuge sich bzw. das Hotel bedroht gefühlt und Ofarim daher aus Schutz des Hotelfriedens das Einchecken verwehrt und den dazu erforderlichen Meldeschein entzogen. Ofarim habe nach einem Telefonat letztlich das Hotel verlassen. Als das Video am nächsten Tag publik wurde, sei er entsetzt und alles sehr dramatisch gewesen. Er habe sogar eine Morddrohung auf sein Firmenpostfach erhalten und habe dann zunächst abtauchen müssen.
Keine Aussage Ofarims in Sicht
Ofarim selbst wird sich derzeit nicht äußern. Dass er jedoch bei seiner Version bleibt, ist angesichts aktueller Medienberichterstattung anzunehmen. Kurz vor Prozessbeginn äußerte er sich nach längerem Schweigen noch einmal öffentlich, beteuerte seine Unschuld und die Wahrheit des von ihm geschilderten Geschehens ("Ich würde es wieder tun").
Morgen wird der nächste von weiteren neun Verhandlungstagen stattfinden. Die Vernehmung des Hotelmitarbeiters wird dann fortgesetzt. Zahlreiche weitere Zeug:innen sind für den Prozess geladen. Zudem existiert ein digitalforensisches Gutachten, dessen verfassender Sachverständiger bereits im Prozess anwesend ist. Er hat sichergestellte Videoaufnahmen mehrerer Überwachungskameras im Hotelbereich analysiert und wird damit möglicherweise der Wahrheit ein Stück näher kommen.
Prozess-Chronologie im Überblick:
Tag 1 – Prozessauftakt: Hat Gil Ofarim einen antisemitischen Vorfall in einem Hotel nur erfunden? Sein Verteidiger philosophiert am ersten Prozesstag über die Wahrheit an sich, ein Hotelmitarbeiter spricht von Morddrohungen.
Tag 2 – Davidstern sichtbar oder nicht? Eine Aussage lässt Gil Ofarim mit den Tränen kämpfen, das Gericht lehnt Vereidigung des Hotelmanagers mangels "Zünglein an der Waage ab" und hat Ofarim "gepöbelt"?
Angebliche Antisemitismus-Lüge vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 07.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53103 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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