Eine Studie zum Rechtsextremismus in der Polizei hat der Innenminister abgelehnt. Jetzt finanziert das BMI ein Projekt, das u.a. die Motivation von Beamten untersucht. Eine Wohlfühlstudie? Ein Gespräch mit Studienleiterin Anja Schiemann.
LTO: Frau Professorin Schiemann, kaum eine Woche vergeht, in der die deutsche Polizei nicht wegen mutmaßlich rechtsextremer Vorfälle – am Mittwoch wurde beispielsweise ein entsprechender Chat in Schleswig-Holstein bekannt – in die Kritik gerät. Wäre es nicht an der Zeit für eine umfassende Studie, die gezielt untersucht, inwieweit rechtsextreme, antisemitische und rassistische Einstellungen in der deutschen Polizei verbreitet sind - und vielleicht sogar ein strukturelles Problem darstellen?
Prof. Dr. Anja Schiemann: Jeder dieser Fälle, auf die sie anspielen, ist definitiv einer zu viel. Ich habe aber Zweifel, ob angesichts von rund 300.000 Polizisten in Deutschland tatsächlich von strukturellem Rechtsextremismus in der deutschen Polizei gesprochen werden kann. In meinen Augen handelt es sich immer noch um – unerträgliche – Einzelfälle.
Sie werden – finanziert durch das Bundesinnenministerium (BMI) – nun eine breit angelegte Studie zur Motivation, Einstellung und Gewalterfahrungen von Polizeibeamten beginnen. Kritiker halten Ihnen nun vor, eine für das BMI und Horst Seehofer genehme Untersuchung vorzunehmen, in der rechtsextremistische und rassistische Einstellungen von Beamten nur am Rande vorkommen. Zu Recht?
Prof. Schiemann: Nein. Und es ist gut, dass ich an dieser Stelle dazu mal einiges klarstellen kann.
Zunächst handelt es nicht um ein "Auftragsprojekt" aus dem BMI. Ich selber habe vor geraumer Zeit die Initiative ergriffen und beim Ministerium die Finanzierung eines umfassenden Forschungsvorhabens mit entsprechender Projektskizze angeregt. Hierzu hat mich Horst Seehofer weder animiert noch gedrängt. Allerdings wurde die Projektskizze auf Anregung des BMI erweitert, so dass nun eine umfangreichere, vielseitigere Studie möglich ist.
Das Resultat ist nun in der Tat eine auf drei Jahre ausgelegte Studie zur Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten, abgekürzt “MEGAVO”. Ziel ist es, ganzheitlich Erkenntnisse zum Berufsalltag von Polizeibeamten in den unterschiedlichsten Verwendungen zu erlangen und positiv wie negativ beeinflussende Faktoren zu identifizieren, die die Motivation und Arbeitszufriedenheit stärken oder minimieren.
Wir wollen wissen, warum Menschen heute den Polizeiberuf ergreifen. Haben sich Motivation und Wertorientierung der Polizisten im Laufe des Berufslebens womöglich gewandelt? In einem ersten Schritt ist eine Vollerhebung aller Polizeibeamten des Bundes und der Länder geplant sowie die Generierung vertiefender Erkenntnisse durch qualitative Experteninterviews von Polizeibeamten und teilnehmende Beobachtungen.
"Erwarte prägnante Ergebnisse zu extremistischen Einstellungen"
Und sie rechnen damit, dass im Wege dieser Befragung auch Erkenntnisse zu rechtsextremen, rassistischen oder antisemitischen Einstellung der Beamten gewonnen werden können?
Schiemann: Es kommt auf die Art der Fragestellungen und Fragetechnik an. Wir planen keine “Wohlfühlstudie”, falls Sie das meinen. Sie erinnern sich vielleicht an die 2019 veröffentlichte Studie "Verlorene Mitte – feindselige Zustände", die die Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben hatte. Sie hat deutliche Aussagen zu rechtsextremen Ansichten in der Bevölkerung getroffen.
Zum Hauptautor der Studie, dem Bielefelder Konfliktforscher Prof. Dr. Andreas Zick, habe ich bereits Kontakt aufgenommen. Er hat mir erlaubt, seine Fragen aus der Mitte-Studie verwenden zu können. Ich bin überzeugt, dass unsere Studie prägnante Ergebnisse liefern wird, inwieweit extremistische Einstellungen bei der Polizei verbreitet sind und was dagegen zu unternehmen ist.
Ein Schwerpunkt Ihrer Studie liegt auch auf dem Aspekt Gewalterfahrungen, die Polizisten gemacht haben. Die Kehrseite, also Gewalt, die von Polizisten begangen wird, klammern Sie aus. Warum?
Zu Diskriminierungserfahrungen bei rechtswidriger polizeilicher Gewalt hat mein Kollege Prof. Dr. Tobias Singelnstein bereits geforscht und im November entsprechende Ergebnisse vorgelegt.
Das MEGAVO-Vorhaben wird die Gewalterfahrungen von Polizeibeamten und deren Auswirkungen auf den Arbeitsalltag und die Psyche erfassen. Dabei planen wir auch Interviews mit Tätern zu führen, um herauszufinden, welche Eskalationsprozesse möglicherweise der Gewalt an Polizisten vorausgehen. In diesem Zusammenhang kann dann natürlich auch Fehlverhalten von Polizisten zur Sprache kommen.
Sie sind Strafrechtlerin und Kriminologin. An welcher Stelle des Forschungsprojekts kommt Ihre juristische Qualifikation und Expertise zum Tragen?
Vor allem wenn es darum geht, aus den gewonnen Erkenntnissen Best-Practice-Modelle und Handlungsempfehlungen zu entwickeln. Dazu gehört dann eventuell auch, Maßnahmen zu entwickeln, die sicherstellen, dass der Grundsatz der Nulltoleranz gegenüber Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus in und von der Polizei gelebt wird.
"Wir sind nicht parteiisch oder befangen"
Wann wird mit ersten Ergebnissen Ihrer Untersuchung zu rechnen sein?
Wir planen für etwa März 2022 mit einer ersten Veröffentlichung von Ergebnissen zur quantitativen Vollerhebung. Im Übrigen ist die Querschnittstudie mit einer zweiten Befragungswelle zwar für drei Jahre angelegt, es sollen aber auch im sechsten, neunten und zwölften Jahr noch weitere quantitative Erhebungen im Rahmen einer Panelstudie stattfinden. Auch an diesem nachhaltigen Ansatz sehen Sie, dass die Studie nicht nur kurzfristige Antworten auf aktuelle Vorkommnisse geben soll.
Noch eine abschließende Frage: Sie lehren Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminalpolitik an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Verprellen Sie sich mit möglicherweise unangenehmen Studienergebnissen Ihre eigenen Studentinnen und Studenten?
Wenn Sie mit Ihrer Frage auf meine wissenschaftliche Neutralität anspielen, so sage ich klipp und klar: Nur weil bei uns das Wort "Polizei" im Namen der Hochschule vorkommt, heißt das nicht, dass meine Kollegen und ich in irgendeiner Weise parteiisch oder befangen sind. Wir sind an unserer Hochschule in unserer Forschung absolut frei, genauso wie an jeder anderen Universität. Und wenn unsere Studie nun einmal unangenehme Ergebnisse ans Tageslicht bringen sollte, werden wir sie auch beim Wort nennen und entsprechende Handlungsempfehlungen geben. Und da wir an unserer Hochschule zukünftige Führungskräfte der Polizei aus Bund und Ländern ausbilden, können diese die Handlungsempfehlungen dann in ihren neuen Positionen gleich umsetzen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Universitätsprofessorin Dr. Anja Schiemann lehrt an der Deutschen Hochschule für Polizei in Münster-Hiltrup Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminalpolitik. Sie leitet dort das vom Bundesinnenministerium finanzierte Forschungsprojekt zur Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten (MEGAVO).
Interview zur vom BMI finanzierten Polizeistudie: . In: Legal Tribune Online, 21.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43792 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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