Auf das Strafrecht kommt eine wesentliche Änderung zu. Wer freigesprochen wurde, dem soll bei neuen Beweisen und Mordverdacht ein weiterer Prozess drohen. Der Strafrechtler Jörg Eisele sagt, das geht sogar rückwirkend.
LTO: Herr Professor Eisele, CDU/CSU und SPD wollen noch kurz vor Ende der Legislatur eine weitreichende Strafrechtsänderung durch den Bundestag bringen: Wer in einem Mordprozess rechtskräftig freigesprochen wurde, dem droht dann ein neues Verfahren, wenn zum Beispiel neue Spuren bekannt werden. Ist das verfassungskonform?
Prof. Dr. Jörg Eisele: Darauf deutet einiges hin. Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 1981 Weiterentwicklungen zum Grundsatz des Verbots der Doppelverfolgung nicht von vornherein ausgeschlossen hat. Der Verfassungsgrundsatz garantiere nur den Kern dessen, was in der Rechtsprechung als Inhalt zu "ne bis in idem" – "nicht zweimal in der gleichen Sache" - herausgearbeitet wurde. Also, der Kernbereich ist gewährleistet, im Grenzbereich sind Änderungen möglich. Die Rechtssicherheit soll regelmäßig den Vorzug vor materiellen Gerechtigkeitserwägungen haben, Ausnahmen sind aber möglich. Und dort reiht sich aus meiner Sicht auch die vorgeschlagene Änderung ein.
Kernbereich, Grenzbereich – wie müssen wir uns das vorstellen und wo verläuft die Grenze zwischen verfassungswidrig und verfassungskonform?
Es gibt drei Kriterien, die für die Frage der Verfassungsmäßigkeit eine Rolle spielen: Die Unerträglichkeit, wenn eine Tat trotz aussichtsreicher neuer Beweise nicht mehr verfolgt werden kann, die Schwere des Delikts, und die Unverjährbarkeit der Straftat. Sie bestimmen darüber, ob eine Durchbrechung der Rechtskraft gerechtfertigt sein kann.
Und warum soll das für die geplante Änderung zutreffen?
Dafür ist es wichtig, sich den historischen Kontext anzuschauen. Als 1949 der Grundsatz "ne bis in idem" in das Grundgesetz aufgenommen wurde, bestanden schon Durchbrechungen der Rechtskraft in der StPO. Etwa für die Wiederaufnahme in § 362 StPO. Zu nennen sind ferner § 373a StPO für den Strafbefehl und § 85 Abs. 3 des Ordnungswidrigkeitengesetzes. Die Mütter und Väter der Verfassung wollten Durchbrechungen ausdrücklich auch nicht auf die damaligen schon bestehenden Ausnahmen beschränken. Der § 79 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz ist auch erst später – in seiner jetzigen Form im Jahre 1970 – hinzugekommen.
Aber ist nicht ein Strafbefehls- oder ein Ordnungswidrigkeitenverfahren eine andere Sache als ein mit Hauptverhandlung durchgeführter Strafprozess, der mit einem Urteil endet?
Natürlich haben Strafbefehl und ein Ordnungswidrigkeitenverfahren geringere verfahrensmäßige Anforderungen. Allerdings könnte das auch ein Argument dafür sein, dass es sich dort regelmäßig um leichtere Taten handelt und dennoch ist eine Wiederaufnahme in großem Umfang möglich. Während bei einer schweren Straftat wie Mord für den Fall neuer Erkenntnisse eine solche bislang nicht vorgesehen ist. In der Rechtswissenschaft wird davon ausgegangen, dass für die Durchbrechung der Rechtssicherheit vor allem die Schwere der in Rede stehenden Straftat eine entscheidende Rolle spielt.
Die bisher schon in § 362 StPO enthaltenen Durchbrechungen sind außerdem weitgehender als die nun vorgeschlagene. Wer seine Tat nach Freispruch später gesteht, gegen den kann heute schon ein neuer Prozess geführt werden – unabhängig davon, um welche Straftat es sich handelt. Die vorgeschlagene Änderung soll aber nur Mord und schwerste Völkerrechtsverbrechen umfassen.
Macht das nicht aber einen Unterschied, wenn beim Geständnis der Wiederaufnahmegrund durch den zunächst Freigesprochenen selbst ausgelöst wird, wohingegen es nun für die Reform gerade um neue Erkenntnisse geht, die die Strafverfolger gefunden haben wollen?
Man kann es auch so betrachten: Wieso sollte der reumütige Täter, der nachträglich sich zu einem Geständnis durchringt, strafrechtlich schlechter gestellt werden als der Täter, der aufwendig Spuren verwischt. Der Täter, zu dem die Strafverfolgungsorgane nicht ausreichend Beweise aufbieten können, sodass eine Anklage gar nicht erst erhoben oder zugelassen wird, dem droht auch noch ein Verfahren. Der Täter, bei dem die Beweislage gerade so ausreicht, dass die Anklage zum Hauptverfahren führt, der dann aber freigesprochen wird, dem droht kein neues Verfahren.
Am Ende wird es für die Wiederaufnahme aufgrund neuer Erkenntnisse ja auch auf deren Qualität ankommen. Der Entwurf betont Fortschritte bei der DNA-Analyse und etwa neue Forensik bei der Auswertung digitaler Spuren. Eine Gewissheit bieten diese Methoden aber auch nicht, oder?
Das Problem der DNA-Beweise stellt sich so ja nicht nur erst nach einem Freispruch, sondern überhaupt auch in allen Mordverfahren, bei denen es noch gar kein erstes Urteil gab. Wenn dann etwa erst dreißig Jahre nach einer Tat überhaupt DNA-Spuren auftauchen und man diese verwerten kann, mag das so oder so mit gewissen Risiken behaftet sein. Am Ende müssen die Beweise die Verurteilung aber tragen können. Die Schwäche von DNA-Spuren im Einzelfall ist kein spezifisches Problem der Wiederaufnahme.
Bemerkenswert wenig steht in der Begründung zum Entwurf der Koalitionsfraktionen zu der Frage, ob diese Regelung eigentlich auch rückwirkend gelten soll?
Aus meiner Sicht gilt die Neuregelung dann auch rückwirkend.
Geht das verfassungsrechtlich in Ordnung?
Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot ist in Art. 103 Abs. 2 GG verankert. Das ist aber ein spezifisches Rückwirkungsverbot, das nur für das materielle Strafrecht, nicht aber für das Strafprozessrecht und damit etwa auch die Verjährung gilt. Somit kann es allein auf das allgemeine Rückwirkungsverbot ankommen, das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird. Selbst wenn man eine echte Rückwirkung hier annehmen wollen würde, kann diese durch überwiegende zwingende Belange des Gemeinwohls gerechtfertigt sein. Die materielle Gerechtigkeit im Falle schwerster unverjährbarer Straftaten in einem Strafverfahren wäre aus dem bereits genannten Gründen ein solcher Belang. Ob es zu einer rückwirkenden Geltung kommt, will der Gesetzgeber offenbar der Rechtsprechung überlassen.
Sollte so eine wesentliche Frage nicht vom Parlament vorentschieden werden, auch um der Entscheidung mehr Legitimation zu verleihen?
Ein Fingerzeig des Gesetzgebers wäre hilfreich. Es wäre erfreulich, dazu noch eine Passage in die Begründung aufzunehmen.
Im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme von Strafprozessen nach neuen Erkenntnissen wird immer wieder betont, dass es ohnehin nur um eine geringe Zahl von Fällen pro Jahr geht. Ist das eigentlich ein Argument für die Ausnahme, oder gegen die Neuregelung, weil man sie eigentlich so gut wie gar nicht braucht?
Rechtspolitisch kann man sagen, wenn es nur so wenige Fälle gibt, warum brauchen wir dann überhaupt eine neue Regelung? Andererseits kann man auch argumentieren, wenn es um einen verfassungsrechtlichen Grenzbereich geht, dann betrifft das kein Massenphänomen und die Regelung spielt sich in einem äußeren Grenzbereich ab, sodass der Grundsatz der Rechtskraft nur in ganz wenigen Fällen berührt ist. Mord ist natürlich auch kein Massendelikt. Und dass es in so einem Verfahren zum Freispruch kommt und danach neue Beweise auftauchen ist auch alles andere als die Regel.
Umfasst die Regelung auch den Täter, der wegen Totschlags freigesprochen wurde und der dann wegen neuer Beweise wegen der gleichen Tat in einem Mordprozess sich verantworten muss?
So sehe ich es. Und das würde auch auf einer Linie liegen mit den Durchbrechungsregelungen beim Strafbefehl und den Ordnungswidrigkeiten. Abgestellt wird auf die Prognose und deren Erfüllung. Man muss sich auch folgenden Fall vorstellen: Jemand wird freigesprochen, dann werden neue Beweismittel analysiert, die auf Mord schließen lassen. In der Hauptverhandlung zeigt sich aber, dass sich die Mordmerkmale doch nicht erweisen lassen – dann wird man wiederum nicht in Neuauflage nur wegen Totschlags verurteilen können. Sonst wäre der Mordverdacht der Türöffner, um wegen jeder anderen Tat verurteilen zu können.
Wenn nun tatsächlich eine solche Regelung für Mordfälle eingeführt wird, liegt es dann nicht nahe, in der kommenden Legislatur auch bei weiteren Delikten eine Wiederaufnahme zuzulassen – etwa bei Vergewaltigung?
Dass wäre verfassungsrechtlich ein größeres Problem, denn die Unverjährbarkeit ist ein entscheidendes Moment. Beim Mord und auch bei den schweren Völkerrechtsstraftaten, wie etwa Völkermord, können sich die Täter nie sicher sein, dass ihre Taten noch verfolgt werden. Andere Straftaten unterliegen der Verjährung. Wollte man die auch wiederaufnehmen, dann wäre der verfassungsrechtliche Grenzbereich verlassen und der Kernbereich angegriffen. Es wäre hilfreich, wenn das Bundesverfassungsgericht die Gelegenheit hätte, die Grenzen des Kernbereichs einmaldeutlicher zu ziehen.
Dr. Jörg Eisele ist Inhaber Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Computerstrafrecht an der Eberhard Karls Universität Tübingen und Leiter der Forschungsstelle eurocrim.
Wiederaufnahme bei Mordverdacht: . In: Legal Tribune Online, 19.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45249 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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