Entsteht in Ungarn ein nur noch scheindemokratischer Staat oder übertreiben westliche Kritiker? Die neue ungarische Verfassung wird in deutschen Medien kontrovers diskutiert. Außerdem geht es heute um Sicherungsverwahrung, den Squeeze Out von Kleinaktionären und vieles Interessante mehr.
Thema des Tages: Ungarn erhält eine konservative Verfassung. Gestern hat das ungarische Parlament mit seiner national-konservativen Zwei-Drittel-Mehrheit eine neue Verfassung beschlossen. Die FAZ (Reinhard Olt) beschreibt sie im Detail und geht dabei auch auf Punkte ein, die bisher bei der Diskussion im Westen keine Rolle gespielt haben, wie zum Beispiel die neue Schuldenbremse. In einem separaten Kommentar verteidigt Olt die Verfassung. "Nirgendwo sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass sich die Neuerungen nicht in Übereinstimmung mit den europäischen Grundwerten befänden", so Olt, vielmehr verwandele sie das "ehedem schwammige Verfassungsrecht in klares" und schaffe "damit eine Grundlage für effizienteres Regieren". Allenfalls "Schönheitsfehler" räumt Olt ein.
Dagegen hebt Max Steinbeis (LTO) in seiner Darstellung vor allem die bedenklichen Punkte der neuen Verfassung hervor: das vorangestellte "nationale Glaubensbekenntnis", die Domestizierung des Verfassungsgerichts und die zahlreichen Mechanismen zur langfristigen Machtsicherung für die regierende Fidesz-Partei.
Michael Frank (SZ) kritisiert die neue Verfassung, sie etabliere "einen Geist ideologischer völkischer Intoleranz". Europa müsse Acht geben, dass nicht "nationaler Pathos Mitteleuropa wie Gift durchtränkt".
Weitere Themen:
Der Verfassungsrechtler Wolfgang Wieland aus Speyer warnt in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt vor einer Verfassungskrise bei der Euro-Rettung. "Nur der Bundestag hat das Recht, unter Abwägung aller Umstände in einer konkreten Situation über Hilfszusagen in Milliardenhöhe zu beschließen. Ermächtigungsgesetze, die dieses Recht der Regierung übertragen, sind verfassungswidrig", schreibt Wieland. Der Bundestag müsse deshalb verhindern, dass die Bundesregierung im Rahmen des Europäischen Stabilitäts-Mechanismus ESM über Ausgaben von bis zu 190 Milliarden Euro ohne Einschaltung des Parlaments entscheiden kann.
Die FAZ (Günther Bannas) beschreibt den sehr knappen Zeitplan für die geplanten Änderungen des Atomgesetzes. Am 10. bzw. 17 Juni sollen Bundestag und Bundesrat abschließend über die Energiewende beschließen. Kanzlerin Merkel begründet den Zeitdruck damit, dass Mitte Juni das dreimonatige (rechtlich sehr umstrittene) Moratorium bei der Laufzeitverlängerung ende. Anschließend solle "keine Rechtsunsicherheit" entstehen.
SZ (Matthias Drobinski) und taz (Phillip Gessler) berichten über eine Initiative der Bürgerrechtsorganisation "Humanistische Union" (HU). Sie legte einen Gesetzentwurf vor, der Staatsleistungen an die Kirche beendet, die bis heute als Ausgleich für die Enteignung kirchlicher Güter im Jahr 1803 gezahlt werden. Laut HU seien allein seit 1949 rund 14 Milliarden Euro an evangelische und katholische Kirche geflossen. Damit sei der Auftrag des Grundgesetzes erfüllt, weitere Zahlungen seien "verfassungswidrig". Im Interview mit der taz sagt der EKD-Vertreter David Gill: "Verträge gelten auch dann, wenn sie vor langer Zeit vereinbart wurden." Ein Ende regelmäßiger Zahlungen sei nur möglich, wenn der Staat seine Pflicht durch eine große Einmalzahlung ablöse. Im Kommentar unterstützt Gessler die HU-Initiative: "Auch Sühneleistungen haben ihr Ende."
Der Bundesrichter und Links-MdB Wolfgang Neskovic fordert in einem FAZ-Gastbeitrag das Bundesverfassungsgericht auf, seine Rechtsprechung zur rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung zu ändern und auf die Linie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einzuschwenken. Sonst bleibe "der Bundesrepublik nur der Ausweg, sich von den Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention durch Vertragskündigung loszusagen". Das Karlsruher Urteil ist für den 3. Mai angekündigt. SpOn (Dietmar Hipp) greift ein vorige Woche ergangenes neues EGMR-Urteil zur Sicherungsverwahrung auf und befragt Experten dazu. Demnach habe der Straßburger Gerichtshof nun deutlich gemacht, "dass der Staat auch zum Schutz der Bevölkerung nicht zu menschenrechtswidrigen Maßnahmen greifen darf", so der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers. Damit sei entsprechenden Überlegungen im Bundesgerichtshof und am Bundesverfassungsgericht der Boden entzogen.
Das Handelsblatt (Thomas Sigmund) stellt Pläne des Justizministeriums zum erleichterten Zwangsausschluss (Squeeze-Out) von Kleinaktionären bei Unternehmens-Umwandlungen vor. Bisher muss ein Mehrheitsaktionär mindestens 95 Prozent der Anteile innehaben, um Minderheitsaktionäre gegen Entschädigung hinausdrücken zu können. Künftig solle dieser Schwellenwert auf 90 Prozent abgesenkt und damit eine EU-Richtlinie umgesetzt werden. Es gebe zwar verfassungsrechtliche Bedenken mit Blick auf das Eigentumsrecht der betroffenen Kleinaktionäre. Diese müssten sich aber nicht auf das deutsche Umsetzungsgesetz, sondern auf die EU-Richtlinie richten.
Die taz (Christian Rath) beschreibt den juristischen Hintergrund des aktuellen Streits um italienische Visa für tunesische Flüchtlinge. Italien dürfe Flüchtlingen ohne Geld und Papiere aus humanitären Gründen die Einreise nach Italien erlauben, so der Schengen-Grenzkodex. In andere EU-Staaten dürften die Flüchtlinge dann aber nur mit Geld und Papieren weiterreisen. Zur Verhinderung illegaler Einwanderung seien aber nur Stichproben und keine systematischen Grenzkontrollen erlaubt. Wie zeit.de berichtet, habe die EU-Kommission keine Bedenken gegen den von Frankreich verfügten zeitweiligen Stopp des Zugverkehrs aus Italien. Wann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit bestehe, könnten betroffenen Mitgliedsstaaten selbst bestimmen.
Die SZ (Christian Wernicke) berichtet über einen spektakulären Prozess im US-Bundesstaat Indiana. Dort sei eine junge Frau wegen Mordes durch versuchten Selbstmord angeklagt. Die schwangere Frau sei von ihrem Freund verlassen worden, wollte sich dann mit Rattengift umbringen, überlebte jedoch. Eine Woche später wurde ihr Kind geboren, das aber nach wenigen Tagen an den Folgen der Vergiftung gestorben sei. Jetzt drohe der Frau lebenslängliche Haft. Feministinnen in den USA warnen, der Prozess sei 'eine Folge der Anti-Abtreibungs-Kampagnen, die die Rechte eines Fötus höher stellen als die Rechte einer Frau.'
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Legal Voices – Die tägliche LTO-Presseschau: . In: Legal Tribune Online, 19.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3072 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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