Während bislang jedes Ministerium individuelle Klimaziele erfüllen musste, soll nun eine Gesamtrechnung erfolgen. Die Folge: Weniger Druck einzelner Ressorts zur CO2-Reduktion. Ist das mit dem Klimabeschluss des BVerfG vereinbar?
Am Dienstag hat die Koalition ihr "Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung" veröffentlicht. Danach soll es zu folgenreichen Änderungen des Bundes-Klimaschutzgesetzes (KSG) kommen. Nachdem der Verkehrssektor unter Volker Wissing (FDP) die Vorgaben des KSG für CO2-Emissionen bereits zweimal nicht eingehalten hat, sollen nun die Vorgaben aller Wirtschaftssektoren addiert werden und die Einzelvorgaben einer Gesamtvorgabe weichen. Dadurch könnten Sektoren die Verfehlungen anderer Sektoren ausgleichen. Legt man die Schätzungen des Umweltbundesamtes für 2022 zugrunde, würden zB die Verfehlungen im Sektor Verkehr durch die Einsparungen im Bereich Industrie ausgleichen können.
Sektorenregelung des Bundes-Klimaschutzgesetzes
Zur praktischen Umsetzung der nationalen Klimaziele nach § 3 Abs. 1 KSG unterteilt § 4 Abs. 1 S. 1 KSG das gesamte Regierungshandeln in sog. "Sektoren" (zB den Verkehrssektor), für die individuelle Minderungsziele zur Einsparung von CO2-Äquivalenten zugewiesen werden. Die Ziele werden in Anlage 2 KSG konkret aufgeschlüsselt; der Verkehrssektor hätte im Jahr 2022 139 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente verbrauchen dürfen, tatsächlich waren es schätzungsweise aber 148 Mio. Tonnen.
Überschreitet ein Sektor seine Minderungsziele, muss das zuständige Ministerium innerhalb von drei Monaten ein Sofortprogramm vorlegen, das vom Expertenrat für Klimafragen beschlossen wird, § 8 Abs. 1 KSG. Dieses soll nach Abs. 2 schnellstmöglich beschlossen werden.
Im "Modernisierungspaket" des Koalitionsausschusses sollen nun die Einzelziele der Sektoren überarbeitet werden. Anstelle der Klimaschutzziele, die jeder Sektor für sich einhalten muss, soll zukünftig eine sektorübergreifende und mehrjährige Gesamtrechnung stehen. Die Rechnung soll dabei über einen Zeitraum einer gesamten Legislaturperiode gehen. Alle Sektoren würden hierzu einen Beitrag leisten, heißt es im Modernisierungspaket.
Was die Änderung für den Umweltschutz bedeutet
Die geplante Änderung bezeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) als "Weiterentwicklung" des Klimaschutzgesetzes für die Zukunftsperspektive der Klimaneutralität 2045. Doch das, was Scholz als "Weiterentwicklung" bezeichnet, stellt sich als Mogelpackung heraus: Es verspricht Flexibilität und sektorenübergreifende Zusammenarbeit, doch in Wahrheit dient es dazu, Verfehlungen einzelner Sektoren und Minister (Volker Wissing) zu verschleiern. Und nebenbei schadet es dem Klimaschutz:
In der aktuellen Fassung des KSG werden die Sektoren einzeln in die Verantwortung genommen und regelmäßig an dieser gemessen. Kommt es dazu, dass ein einzelner Sektor die Mindestvorgaben nicht nur erfüllt, sondern darüber hinaus CO2-Äquivalente einspart, dann schlägt sich das positiv auf das deutsche Klimakonto zu Buche. Dieser Effekt bleibt dauerhaft erhalten, da die Ziele trotz positiver Bilanz in den darauffolgenden Jahren nicht verändert werden.
Durch den geplanten Ausgleich der unterschiedlichen Sektoren und auch durch die mehrjährige Belastung ist es wahrscheinlich, dass die Positivleistung in der Gesamtbilanz geringer ausfällt und das Klimakonto stärker belastet wird. Wenn ein Sektor die Mindestvorgaben zwar nicht erfüllt, jedoch ein anderer Sektor dies ausgleichen kann, können sich die politisch Zuständigen leichter aus der Verantwortung nehmen – Hauptsache, die Gesamtbilanz stimmt. Und auch zusätzliche Einsparungen, die ein Sektor zu Beginn der mehrjährigen Betrachtungszeit erzielt, können sich im Laufe der darauffolgenden Jahre egalisieren.
Dem regierungsinternen Emissionshandel stände Tür und Tor offen
Zwar sollen laut "Modernisierungspaket" weiterhin die Emissionsentwicklungen auch in den jeweiligen Sektoren transparent dargestellt werden und anhand des Vorjahresergebnisses bewertet werden. Allerdings hat ein konkreter Verstoß gegen Vorgaben im Vergleich zu lediglich schlechten Ergebnissen eine viel größere politische Durchschlagskraft. Damit geht eine große Anreizwirkung verloren, CO2-Äquivalente einzusparen. Minister wie Volker Wissing, denen die Einsparungsziele bereits ein Dorn im Auge waren, können sich nun bequem auf den Ergebnissen der anderen Ministerien ausruhen.
Und nicht nur das: Das lästige Sicherungsnetz, nach dem bei jährlicher, individueller Zielverfehlung Sofortmaßnahmen ergriffen werden müssen, wird durch eine behäbige Zweijahresreglung ersetzt. Zukünftig müssen nur dann Schritte unternommen werden, wenn die Daten in zwei aufeinanderfolgenden Jahren zeigen, dass mit den aggregierten Jahresemissionen bis zum Jahr 2030 das Gesamtminderungsziel nicht erreicht wird. In Hinblick darauf, dass die aktuelle Legislaturperiode noch zweieinhalb Jahre andauert, ist es den Ministerien ein Leichtes, sich ihrer Verantwortung zu entziehen.
Auch besteht die Gefahr, dass die Zweijahresregelung durch geschickte Planung missbraucht wird: Die Ministerien könnten CO2-intensive Vorhaben in ein Jahr legen und im nächsten Jahr die Zielvorgaben wiederum einhalten. Auf dem Papier könnte es so aussehen, als sei die Regierung auf dem richtigen Weg und trotzdem könnte es im dritten Jahr wieder zu Überschreitungen kommen.
Jürgen Resch, der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, bezeichnete die Bestrebungen der Koalition als Versündigung gegenüber allen künftigen Generationen. "Ohne dass die verantwortlichen Ministerien zu jährlichen Minderungen verpflichtet werden, verkommt das Klimaschutzgesetz zum Papiertiger". Das würde dazu führen, dass Deutschland seine Verpflichtungen des Pariser Klimaschutzvertrages zur Begrenzung der Erderhitzung reißt.
Entscheidungen zu den Klimaschutzgesetzen
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Änderung der Gesetzes dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) (Beschl. v. 24. März 2021, Az. 1 BvR 2656/18) widerspricht. Dort verpflichtete das BVerfG den Gesetzgeber dazu, die Reduktionsziele für Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2030 näher zu regeln.
Dabei orientiert sich die Entscheidung am Pariser Klimaabkommen, nachdem der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2 °C und möglichst auf 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen ist. Zu diesem Ziel hatte der Gesetzgeber Art. 20a GG verfassungsrechtlich konkretisiert, so das BVerfG.
Aus dem Klimaziel lässt sich ein Budget für Treibhausgasemissionen berechnen, die in der Bundesrepublik Deutschland noch verbraucht werden dürfen. Nach den ursprünglichen, strittigen Zielvorgaben des KSG hätte davon bis 2030 der Großteil aufgebraucht werden können. Künftigen Generationen hätte dann nur noch ein geringes CO2-Budget zur Verfügung gestanden. In der Folge hätten sie Freiheitseinschränkungen in Kauf nehmen müssen, um den Klimazielen noch entsprechen zu können.
Schonung zukünftiger Freiheit
Das BVerfG schuf sodann die Rechtsfigur der "intertemporalen Freiheitssicherung". Diese verpflichte den Gesetzgeber schon heute dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die verhindern, dass es in der Zukunft wegen eines aufgebrauchten CO2-Budgets zu unzumutbaren Freiheitseinschränkungen kommen kann.
Laut BVerfG ist das gesamte Regierungshandeln so zu planen, dass nicht alle verfügbaren Emissionen bis 2030 verbraucht werden. Vielmehr müsse geregelt werden, wie es danach weiter geht. Bei der Gesetzgebung sei Art. 20a GG zu beachten. Im August 2021 ist daraufhin eine Novelle des KSG in Kraft getreten, in denen die bisherigen Zielvorgaben mitsamt Sektorenzielen verschärft und Zielvorgaben ab 2031 geschaffen wurden.
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers
Die Novelle von 2021 hatte sich an den beispielsweisen Ausführungen des BVerfG zu den Sektorenreglungen orientiert. Diese konkrete Ausgestaltung sei jedoch nicht zwingend, vielmehr stehe dem Gesetzgeber bei der Umsetzung ein Gestaltungsspielraum zu, so das Gericht. Es brachte zum Ausdruck, dass das Verfassungsrecht einen groben Rahmen für den Klimaschutz setzt, jedoch keinen Maßnahmenkatalog konkretisieren kann. Entsprechend muss sich eine Verfassungsbeschwerde gegen die Gesamtheit der gegenwärtig zugelassenen CO2-Emissionen und nicht gegen punktuelle Maßnahmen richten, so das BVerfG in einer weiteren Entscheidung (Beschl. v. 18. Januar 2022, Az. 1 BvR 1565/21 u.a.)
Allerdings bedeutet dies nicht, dass dem Gesetzgeber ein fast schon unbegrenzter Gestaltungsspielraum zusteht. Das BVerfG entwarf im Klima-Beschluss (Rn. 249) den folgenden Rahmen: Der Gesetzgeber muss möglichst frühzeitig Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse einleiten, die auch für die Zeit nach 2030 Orientierung bieten. Für diese müsse ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermittelt werden.
Es steht dem Gesetzgeber an sich frei, diese Planungssicherheit statt mit einzelner Sektorregulierung auch auf anderem Wege Rechnung zu tragen. Das im "Modernisierungspaket" vorgesehene sektorübergreifende Klimaschutzprogramm könnte je nach Ausgestaltung durchaus geeignet sein, die Einhaltung der Klimaziele sicherzustellen.
Vor allem könnte ein sektorenübergreifendes Gesamtziel dazu genutzt werden, intersektoral und flexibel auf die Verfehlung von Etappenzielen in einzelnen Sektoren durch zusätzliche Bemühungen in anderen Sektoren zu reagieren, wenn etwa unvorhergesehene Ereignisse, wie der Ukrainekrieg, die Zielerreichung erschweren. Allerdings können bereits in der aktuellen Fassung des KSG bei der Überschreitung der Jahresemissionsmengen sektorübergreifende Maßnahmen getroffen werden (§ 8 Abs. 2 S. 1 KSG). Damit die neuen Regelungen demgegenüber einen Vorteil bieten, müssten sie raschere Handlungsmöglichkeiten vorsehen. Jedoch ist das Gegenteil der Fall:
Sicherungsmechanismus kann einfach umgangen werden
Der neue "Sicherungsmechanismus" ermöglicht nämlich, die Klimaziele zwei aufeinanderfolgende Jahre lang zu ignorieren. Tatsächlich könnte sich die Zeit sogar auf mehr als zwei Jahre summieren, da die Schätzungen über die ausgestoßenen Emissionen nicht direkt ermittelt werden, sondern mit einigen Monaten Verzögerung.
Laut BVerfG entsteht der für den Klimaschutz nötige Entwicklungsdruck, "indem absehbar wird, dass und welche Produkte, Dienstleistungen, Infrastruktur-, Verwaltungs- und Kultureinrichtungen, Konsumgewohnheiten oder sonstigen heute noch CO2-relevanten Strukturen schon bald erheblich umzugestalten sind." Können sich die Ministerien den beschlossenen Umgestaltungen einfach verweigern, in dem sie diese – ohne weitere Konsequenzen – über die Hälfte ihrer Amtszeit nicht erfüllen, dürfte es am Entwicklungsdruck fehlen. Die sich daraus ermöglichende Verzögerungstaktik macht die neue Regelung verfassungsrechtlich zumindest zweifelhaft. Für eine finale Beurteilung bleibt aber die konkrete gesetzliche Ausgestaltung abzuwarten.
Fest steht allerdings bereits jetzt, dass die Ampel mit dem "Modernisierungsgesetz" unter Klimagesichtspunkten von grün auf gelb geschaltet hat, im doppelt übertragenen Sinne.
Koalition will Sektorenziele im Klimaschutzgesetz abschaffen: . In: Legal Tribune Online, 31.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51454 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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