Kann der Klimawandel Menschenrechte verletzen? Mit dieser Frage musste sich der EGMR am Mittwoch erstmals befassen. Die Klimaseniorinnen wollen die Schweiz zu mehr Klimaschutz bewegen – und zeigen sich optimistisch.
Wenn sich schon am frühen Morgen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Menschenmassen versammeln, dann weiß man, dass etwas passieren wird. Und tatsächlich gab es am Mittwoch eine Premiere in Straßburg: Die Große Kammer des EGMR verhandelte den Fall der Klimaseniorinnen. Damit erreichte erstmal eine der sogenannten Klimaklagen Straßburgs Gericht. (Application no. 53600/20).
Schon am Dienstag sind die Klimaseniorinnen, die mittlerweile mehr als 2.000 Mitglieder mit einem Durchschnittsalter von 73 Jahren zählen, gemeinsam mit dem Zug aus der Schweiz nach Straßburg gereist. Sie haben reichlich Unterstützung mitgebracht: 45 Vereinsmitglieder, 30 Unterstützer:innen, Einzelklägerinnen und Mitarbeitende von Greenpeace.
Die Klimaseniorinnen haben zusammen mit vier Einzelklägerinnen beim EGMR Beschwerde gegen die Schweiz eingereicht und wollen so effektivere Klimaschutzmaßnahmen erreichen. Die Schweiz müsse mehr dafür tun, um den globalen Temperaturanstieg um mehr als 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu verhindern. Unterstützt und finanziert wird die Klimaklage von Greenpeace.
Klimaseniorinnen: Ältere Menschen besonders stark vom Klimawandel betroffen
Die Klimaseniorinnen stützen ihre Beschwerde auf eine Verletzung des Rechts auf Leben in Artikel 2 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie des Rechts auf Privat- und Familienleben aus Art. 8 EMRK. Sie argumentieren, die Schweiz habe diese Rechte verletzt, indem sie keine ausreichenden Maßnahmen unternimmt, um das 1,5-Grad-Ziel aus dem Pariser Abkommen zu erreichen.
Solche Maßnahmen seien unter anderem ein Niveau an Treibhausgasen im Jahr 2030, das im Vergleich zu den Emissionen des Jahres 1990 netto negativ ist. Zudem sollen die inländischen Emissionen bis 2030 um mehr als 60 Prozent und bis 2050 auf Netto-Null reduziert werden. Die derzeitigen Reduktionsziele der Schweiz hingegen seien unzureichend.
Die Klimaseniorinnen argumentieren, dass gerade sie als ältere Menschen aufgrund der altersbedingt beeinträchtigten Thermoregulation besonders stark vom Klimawandel betroffen seien. Dieser führe unter anderem zu stärkeren Hitzewellen, wodurch ihr Leben sowie ihre physische und mentale Gesundheit gefährdet seien.
Vor den nationalen Instanzen in der Schweiz hatten die Seniorinnen keinen Erfolg. Dennoch sind die Erwartungen an den EGMR groß: "Wir sind zuversichtlich, dass wir mit diesem Fall Geschichte schreiben und die Schweiz zu mehr Klimaschutz bewegen können", sagt Anne Mahrer, Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen.
Opfereigenschaft der Klimaseniorinnen
In der Verhandlung war es allerdings zuerst an der Schweiz, ihre Position darzulegen. Deutlich wurde, dass sie schon in der Zulässigkeit der Beschwerde Probleme sieht. Nach Art. 34 EMRK sind natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen oder Personengruppen beschwerdeberechtigt, die behaupten, in einem oder mehreren Rechten aus der EMRK bzw. den dazugehörigen Protokollen verletzt zu sein. Diese müssen die sogenannte Opfereigenschaft aufweisen, also geltend machen, durch die angegriffene Maßnahme direkt oder indirekt betroffen zu sein.
Auf einen Verein wie die Klimaseniorinnen treffe das nicht zu, so Alain Chablais, der Vertreter der Schweiz. Auch die vier Einzelklägerinnen hätten nicht dargelegt, dass die Treibhausgasemissionen der Schweiz kausal für ihre gesundheitlichen Einschränkungen (u.a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen) seien.
Die Klimaseniorinnen hingegen sehen sich als Gruppe von 2.038 Individuen, die allesamt bereits jetzt direkt von den Folgen des Klimawandels – und damit von den aus ihrer Sicht unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen der Schweiz – betroffen sind. Jedes ihrer Mitglieder gehöre zu einer Risikogruppe, die die Auswirkungen der Erderwärmung besonders zu spüren bekomme. Die Schweiz komme ihrer Pflicht, ihre Bevölkerung zu schützen, nicht ausreichend nach, so Jessica Simor, eine der Anwältinnen der Klimaseniorinnen.
Erweitert der EGMR seine Rechtsprechung zur Opfereigenschaft?
Inwieweit die Schweiz durch ihre (mangelnden) Klimaschutzmaßnahmen Menschenrechte verletzt, wird der Gerichtshof in Straßburg zu klären haben. Spannend wird vor allem die Frage der Opfereigenschaft werden. Das deuteten die Nachfragen der Richter:innen und auch die Stellungnahmen der Beteiligten an.
"Die Beschwerdeführenden fordern den Gerichtshof auf, erheblich über seine bisherige Rechtsprechung zur Opfereigenschaft hinauszugehen", so Anwältin Catherine Donnelly für Irland, das als Drittpartei an dem Verfahren beteiligt ist. Beim EGMR können sich Dritte einbringen und beantragen, dem Gericht Stellungnahmen einreichen zu dürfen. An dem Verfahren der Klimaseniorinnen haben sich neben verschiedenen Staaten unter anderem die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet sowie die Internationale Juristenkommission beteiligt. Auch das zeigt die Bedeutung des Falles.
Ex-Bürgermeister gegen Frankreich
Bei der Großen Kammer am EGMR sind noch zwei weitere solcher Klimaklagen anhängig.
Zum einen verklagt der ehemalige Bürgermeister der französischen Küstengemeinde Grande-Synthe, Damien Carême, Frankreich. Er hatte im Jahr 2019 sowohl im eigenen Namen als auch als Bürgermeister der Gemeinde die französische Regierung zu mehr Klimaschutz aufgefordert. Die Klage in seinem eigenen Namen wurde abgewiesen, deshalb hatte er sich an den EGMR gewendet. Er macht auch eine Verletzung von Art. 2 und 8 EMRK geltend.
Die Anhörung fand ebenfalls am Mittwoch statt (Carême vs. France, Application no. 7189/21). Auch hier wird die entscheidende Frage sein, ob Carême die erforderliche Opfereigenschaft zukommt. Carême ist mittlerweile Abgeordneter im Europäischen Parlament, lebt also in Brüssel und hat kein Haus in Grande-Synthe mehr. Ob er dennoch unmittelbar betroffen sein kann, wird der EGMR zu entscheiden haben. Es deutete sich an, dass die Richter:innen hier skeptisch sind.
Auch sechs junge Portugiesen verlangen mehr Klimaschutz und haben Beschwerde gegen Deutschland und 32 weitere europäische Staaten eingereicht (Application no. 39371/20). Der EGMR hat die Klimaklage zugelassen, einen Termin für die Verhandlung gibt es derzeit noch nicht. Ziel sei aber, diese "zeitnah nach den Gerichtsferien im Sommer 2023" abzuhalten, so der Gerichtshof in einer Mitteilung.
"Entscheidung wäre ein Präzedenzfall"
Ein Urteil des EGMR im Fall der Klimaseniorinnen wird für Ende des Jahres erwartet.
Die Seniorinnen setzen große Hoffnungen in den Straßburger Gerichtshof. "Eine Entscheidung des EGMR in unserem Sinne wäre ein Präzedenzfall – und würde mittelbare Auswirkungen für alle Staaten des Europarates haben", so Anwältin Cordelia Bähr im LTO-Interview.
EGMR verhandelt den Fall der Klimaseniorinnen: . In: Legal Tribune Online, 29.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51436 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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