Klagen gegen Gebietsreform: Neue Strukturen ohne Verfassungsverstoß

Prof. Dr. Veith Mehde

22.06.2011

Wegen schrumpfender Bevölkerungszahlen mussten bis Ende 2010 viele kleine Orte in Sachsen-Anhalt zu größeren Kommunen fusionieren. Vor dem LVerfG in Dessau sind die betroffenen Gemeinden bisher gescheitert. Die Richter betonten den weiten Handlungsspielraum des Gesetzgebers - dieser ist für die Lösung der demografischen Probleme auch dringend nötig, meint Veith Mehde.

Schon zum zweiten Mal seit der Wiedervereinigung werden in Ostdeutschland kommunale Gebietsreformen durchgeführt. Mit den rechtlichen Anforderderungen an solche Neustrukturierungen muss sich derzeit das Landesverfassungsgericht (LVerfG) Sachsen-Anhalt befassen; mittlerweile wurden die ersten Entscheidungen zu den insgesamt mehr als 60 Klagen veröffentlicht.

Die Gründe für die neuerlichen Zusammenlegungen und Eingliederungen sind die demografische Entwicklung sowie Überlegungen zur effizienteren Aufgabenverteilung zwischen Landesverwaltung und Kommunen. In weiten Teilen Ostdeutschlands haben sich die Bevölkerungsprognosen, die Anfang der 1990er Jahre die Grundlage für die Gebietsreform bildeten, als zu optimistisch erwiesen.

Da sich ihre Aufgaben jedoch nicht ändern, können die Kommunen hierauf nicht mit Personalabbau adäquat reagieren – die Verwaltung wird im Verhältnis zur Einwohnerzahl zu groß. Der Trend geht sogar dahin, den Kommunen weitere Aufgaben zuzuweisen, um so die Landesverwaltung zu entlasten. Zudem gilt die kommunale Ebene als sehr effizient und bürgernah. Zusammenschlüsse und Eingliederungen erscheinen so als die einzige Möglichkeit, die kommunalen Strukturen "zukunftsfest" zu machen.

Reform im Einklang mit der Selbstverwaltungsgarantie

Die zentralen Linien der einschlägigen Rechtsprechung gehen zurück auf Entscheidungen zu den Reformen der 1970er Jahre in Westdeutschland. Danach ist es weitgehend unstreitig, dass das Verfassungsrecht den Parlamenten für derartige Zusammenschlüsse weite Spielräume lässt, und die einzelnen Kommunen mit der Einräumung eines Anhörungsrechts im Wesentlichen eine nur reduzierte, formale Rechtstellung besitzen.

Durch eine Entscheidung des LVerfG Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 2007 schien dieser Grundkonsens in der Rechtsprechung allerdings vorübergehend aufgekündigt worden zu sein. Darin erklärte das Gericht eine besonders ambitionierte Gebietsreform für nichtig (Urt. vom 26.7.2007 Az. 9 – 17/06. Hintergrund war die Entscheidung der damaligen Landesregierung und des Landtags Mecklenburg-Vorpommerns, sämtliche Landkreise und kreisfreien Städte des von der Fläche her großen Landes zu nur fünf Kreisen zusammenzulegen.

Zwar waren laut Urteilsbegründung letztlich eher formale Mängel entscheidend für die Verfassungswidrigkeit der Reform. Daneben finden sich aber vielfältige Erwägungen, die auch auf inhaltliche Anforderungen an die Größe und die Strukturen der kommunalen Entscheidungsfindung hindeuten. Diese Überlegungen sind allerdings in späteren Entscheidungen anderer Verfassungsgerichte weitgehend ohne Resonanz geblieben.

Wie schon in den Jahren 2008 und 2009 der Sächsische Verfassungsgerichtshof hat sich das LVerfG Sachsen-Anhalt mit seinen jüngst veröffentlichten Entscheidungen auf der traditionellen Rechtsprechungslinie bewegt und dem Gesetzgeber weite Spielräume belassen. Die kommunale Selbstverwaltungsgarantie gewährleistet danach die Gemeinden institutionell, nicht aber individuell.

Der Gesetzgeber muss neben der Anhörungspflicht bestimmte inhaltliche Anforderungen an die Konzeption der Neugliederung beachten. Dabei geht es zunächst um die fehlerfreie Ermittlung des Sachverhalts und darum, alle relevanten Aspekte in die Abwägung einzubeziehen. Die Ziele der Neuregelung werden nur auf offensichtliche Fehler und ihre Vereinbarkeit mit der verfassungsrechtlichen Ordnung überprüft.

Spielraum für verantwortungsvollen Umgang mit demografischem Wandel

Wichtig ist, dass vom Gesetzgeber keine Defizit- oder Kosten-Nutzen-Analyse für die einzelne Kommune erwartet wird. Die Ziele dürfen sich also auf die Gesamtstruktur des Landes beziehen und daher bei der Neugliederung auch solche Gemeinden einbezogen werden, die selbst leistungsfähig sind und es vermutlich auch bleiben würden.

Aus der Grundrechtsdogmatik werden das Willkürverbot und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit übernommen. Der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers modifiziert die Verhältnismäßigkeitsprüfung allerdings erheblich. Die Maßstäbe der Eignung, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn sind ohne eigene Bedeutung. Die Annahme einer willkürlichen Entscheidung lehnt das Gericht unter Verweis auf ein wissenschaftliches Gutachten ab, nach dem die Ziele der Reform besser in großflächigen Strukturen verwirklicht werden können.

Im Ergebnis hat das LVerfG Sachsen-Anhalt in seinen aktuellen Entscheidungen also die politischen Gestaltungsmöglichkeiten herausgearbeitet. Die Richter eröffnen damit den erforderlichen Handlungsspielraum für einen verantwortungsvollen Umgang mit dem demografischen Wandel.

Dass in Ostdeutschland nun schon zum zweiten Mal seit der Wiedervereinigung der politisch risikoreiche Weg der Neugliederung gegangen wird, verdeutlicht dabei das Gewicht der zu bewältigenden Probleme. Da diese nicht auf Ostdeutschland beschränkt sind, ist eine Intensivierung der Diskussion auch in Westdeutschland über kurz oder lang unausweichlich. Die Politik wird sich dabei nicht hinter gerichtlichen Entscheidungen "verstecken" können.

Prof. Dr. Veith Mehde lehrt Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover.

 

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Zitiervorschlag

Klagen gegen Gebietsreform: . In: Legal Tribune Online, 22.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3564 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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