Volksentscheide, Stuttgart 21, Anti-Atom-Demos: Die Deutschen wurden zum Politikerschreck. Seit 2010 wissen wir aber auch, dass ein Kind kein kleiner Erwachsener, die Sicherungsverwahrung sehr wohl eine Strafe und die Speicherung von Vorratsdaten rechtswidrig ist. Und auch vom Bundeswehrreformer und seiner Gattin am Tatort Internet haben wir Einiges gelernt. Pia Lorenz blickt zurück.
Von Anfang bis Ende des Jahres hat uns der Missbrauchsskandal begleitet. Das Jahr 2010 begann damit und irgendwie endet es auch damit, denn ausgestanden ist noch lange nichts. Der Skandal, der vor allem die katholische Kirche erschütterte, ließ Rufe nach mehr Zusammenarbeit mit dem Staat laut werden, vor allem aber auch nach einer internen Auseinandersetzung der Kirche mit den Vorfällen. Mittlerweile sind Leitlinien testweise in Kraft getreten, die Definitionen des Missbrauchs, Regeln zum Ermittlungsverfahren und die Einbindung der Staatsanwaltschaft enthalten.
Ebenfalls noch lange nicht ausgestanden sind die Konsequenzen gleich zweier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das in diesem Jahr wieder mal die deutsche Politik korrigieren musste.
Keine kleinen Erwachsenen und keine Vorratsdatenspeicherung
So wurde Mittlerweile-Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) zum schnellen Handeln gezwungen. Selten deutlich wurden die Karlsruher Richter, als sie die bisherige Berechnung der pauschalisierten Regelsätze des SGB II durch prozentuale Abteilung des Sozialgeldes für Kinder vom Regelsatz für Erwachsene für verfassungswidrig erklärten: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen". Die Hartz-IV-Reform, die nicht nur fünf Euro mehr monatlich, sondern auch Änderungen vor allem hin zum Sachleistungsbezug für Kinder bringen sollte, ging allerdings erst einmal nicht durch den Bundesrat, weil das Saarland sich der entscheidenden Stimme enthielt.
Wie auch immer es weitergeht: Die von den obersten Bundesrichtern gesetzte Frist bis zum 1. Januar 2011 dürfte jedenfalls nicht mehr einhaltbar sein. Ob diese sich nicht am Ende selbst über die relativ kurze Frist zur Neuregelung ärgern, weil sie unter Umständen auch dieses Gesetz wieder überprüfen müssen, werden wir wohl nicht erfahren.
Jedenfalls ist von der Leyen schon um einiges weiter als Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die ebenfalls nicht ganz einfache Fragen beantworten muss. Es war Anfang März, als die Karlsruher Richter die Vorratsdatenspeicherung in ihrer jetzigen Form für verfassungswidrig erklärten. Sie stellten sich damit hinter die Datenschützer – und die deutschen Sicherheitsbehörden vor etliche praktische Probleme.
Doch kann sich die liberale Justizministerin - immerhin selbst einmal Klägerin gegen die Datenspeicherung und der Auffassung, dass die Sicherheitsbehörden auch ohne diese effektiv agieren könnten - mit einer Neuregelung Zeit lassen: Europa ist gerade dabei, die entsprechende Richtlinie zu überarbeiten.
Von gefährlichen Straftätern und den Kompetenzen der Polizei
Allerdings hatten die Sicherheitsbehörden, die schon vor einer Neuregelung Sicherheitsmängel beklagten, definitiv noch genügend andere Baustellen, dene sie sich im Jahr 2010 widmen mussten.
So musste die nachträgliche Sicherungsverwahrung, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Mai endgültig als Strafe deklarierte und in der bis dahin in Deutschland geltenden Form für rechtswidrig erklärte, neu geregelt werden. Es war ein zähes Ringen, das mit der Frage nach freizulassenden Gewalttätern nicht nur die Stammtische, sondern vor allem auch die Oberlandesgerichte beschäftigte. Erst nach Monaten endete es mit einer Gesetzesnovelle, die den zukünftigen Umgang mit gefährlichen Straftätern ebenso regelt wie die Stärkung der Führungsaufsicht und die problematischen Altfälle.
Aber die Sicherheitsbehörden sahen sich auch anderen Herausforderungen gegenüber, von den Konsequenzen verstärkter Bürgerproteste bis hin zu Terrordrohungen gegen deutsche Einrichtungen. Letztere hatten sich vor allem gegen Ende des Jahres verdichtet.
Vor allem die Bilder von Kundgebungen gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21, bei denen Demonstranten zum Teil schwer verletzt wurden, aber auch das Verhalten von blockierenden Castor-Gegnern in Gorleben warfen die Frage auf, wo der friedliche Protest endet. Auf der anderen Seite musste sich die Polizei fragen lassen, wie weit sie gehen darf, wenn etwa in quasi vorauseilendem Gehorsam mögliche "Gefährder" schon vorab gescannt wurden.
Mehr Schutz für die Beschützer und neue deutsche Tugenden
Dass sich Polizisten ihrerseits vermehrt schutzbedürftig fühlten gegenüber Angriffen derjenigen, die sie doch eigentlich schützen sollten, gipfelte nach monatelangen Diskussionen zwischen Innen- und Justizministerium in einem Entwurf zur Änderung von § 113 Strafgesetzbuch, dessen Sinnhaftigkeit durchaus angezweifelt werden darf.
Überhaupt erwies der Bürger sich als durchaus schwierig im Jahr 2010. Er protestierte nicht nur – bei den Demonstrationen gegen Castor-Transporte und die Verlängerung der AKW-Laufzeiten erlebte sogar der gute alte "Atomkraft – Nein danke"-Sticker eine ungeahnte Renaissance -, sondern er wollte auch an anderen Stellen plötzlich mitreden. Und das am besten, bevor er sich zur Auflehnung gezwungen sah. So wurde bei den Protesten gegen den Umbau des Stuttgarter Bahnhofs ebenso wie bei der Erkundung des Salzstocks in Gorleben vor allem moniert, dass die Bevölkerung nicht vorher gefragt, geschweige denn beteiligt worden sei. Und natürlich gibt es dafür auch schon einen Begriff, der sofort zum Wort des Jahres 2010 gewählt wurde: Der neue deutsche "Wutbürger".
Wurden die Bürger beteiligt, sorgte das stets für hohe Wellen: Nicht nur bei der Schulreform in Hamburg, auch beim Nichtraucherschutz in Bayern betätigte sich das sonst so brave deutsche Volk als Politikerschreck. Den auf den Zug aufspringenden Politikern, die ebenso reflexartig wie medienwirksam mehr Macht dem Volke forderten, sei allerdings gesagt, dass dies sowohl bei Ländersachen als auch auf Bundesebene eher nicht so einfach umzusetzen wäre.
Fusionen, Frachtmaschinen und Feldhaubitzen
Aber zurück zu den geplagten Sicherheitsbehörden: Im Dezember kündigte Innenminister de Maizière (CDU) einen Zusammenschluss der ganz anderen Art an – Bundeskriminalamt und Bundespolizei sollen fusionieren.
Und diese Nachricht mitten im Advent, wo doch die Beamten ganz andere Sorgen hatten. Nämlich insbesondere die zunehmende Terrorgefahr, die vor allem nach den versuchten Anschlägen mit Paketbomben auf Regierungsbehörden mehrerer europäischer Länder zu Forderungen nach Änderungen des Luftsicherheitsgesetzes bis hin zur Freigabe von Frachtmaschinen zum Abschuss geführt hatten.
Aber infolge der Terrorgefahr wurde auch die Polizeipräsenz bei Massenveranstaltungen wie Weihnachtsmärkten erhöht. Und nicht die Ordnungshüter allein sollten die Innenstädte schützen - einmal mehr wurden auch mögliche Einsätze der Bundeswehr im Inland ins Spiel gebracht. Sigmar Gabriel (SPD) trieb dies auf die Spitze mit der geäußerten Sorge, dass Soldaten mit dem Gewehr G3 und "Feldhaubitzen" Weihnachtsmärkte bewachen könnten.
Ganz davon abgesehen, dass sich nicht einmal die einzelnen Senate des BVerfG darüber einig sind, ob ein Einsatz von Kampfmitteln der Bundeswehr im Inland rechtlich möglich wäre und daher eine Plenarentscheidung für 2011 ankündigten, stünde ein solcher Einsatz schließlich auch noch unter dem Vorbehalt des Machbaren. Und wer weiß schon, wie genau die Bundeswehr nach ihrer von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) geplanten Reform unter anderem zur Aussetzung der Wehrpflicht im Einzelnen aussehen wird?
Jedenfalls tat der adelige Minister einiges, um sich der Unterstützung der Soldaten zu versichern. So reiste er unter dem – selbstverständlich nur verbalen – Beschuss der Opposition in der kuscheligen Vorweihnachtszeit nach Afghanistan, wo er gemeinsam mit Ehefrau Stephanie und in Begleitung von Moderator Johannes B. Kerner mit Soldaten sprach, speiste und dabei nach eigenen Angaben mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung für die stationierten Truppen erreichen wollte.
"Tatort Internet" und GEZ-Gebühren für die Menschenwürde
Ebenjene Stephanie ist nicht nur die erste Ministergattin, die ihren Mann auf einer solchen Reise begleitete. Sie ist auch die erste Ehefrau eines Politikers, die gemeinsam mit einem als wenig seriös geltenden Sender im Fernsehen Kinderschänder jagte. Als Präsidentin der deutschen Sektion des Vereins "Innocence in Danger" löste sie mit der RTL-2-Sendung "Tatort Internet" den wohl größten Medienskandal seit "Big Brother" aus. Die Sendereihe sollte das Bewusstsein für Gefahren des Internets für Kinder schärfen und unter anderem dazu führen, dass das so genannte "Grooming", also das sexuell motivierte Ansprechen von Kindern in Chaträumen und anderen Internet-Kommunikationsformen, unter Strafe gestellt wird.
Ziemlich unangemessen war schon, dass das Format aus fingierten Chatgesprächen mit mutmaßlichen Pädophilen bestand, die in der Folge aufgesucht und konfrontiert wurden - vor laufenden Kameras, wenn auch verpixelt. Folge dieser schon im Ansatz eher reißerischen als aufklärenden Methoden war dann auch noch, dass es schon nach den ersten Folgen zur Enttarnung eines der dort als potentiellem Kinderschänder Dargestellten kam.
Und schließlich hatte der Sender übersehen, dass das Grooming in Deutschland bereits unter Strafe steht. Nur die von dem Sender durch das Format an den Pranger gestellten angeblichen Pädophilen konnten sich nicht strafbar machen, da sie eben keinen Kontakt zu einem Kind, sondern tatsächlich zu einer erwachsenen Journalistin aufnahmen.
Der Frage, wie weit man für die Quote gehen darf, musste sich im Dezember auch derjenige stellen, von dem man es wohl am wenigsten erwartet hätte: Thomas Gottschalk, langjähriger Moderator der wohl familientauglichsten Show im deutschen Fernsehen "Wetten, dass…?", brach eine Sendung ab, nachdem ein Wettkandidat schwer verunglückt war. Danach mahnten auch und gerade diejenigen einen angeblichen Quotendruck an, die stets mehr Spannung und Action von den öffentlich-rechtlichen Sendern gefordert hatten. Und plötzlich schien sich die ganze deutsche Medienlandschaft berufen zu fühlen, Anstand und Menschenwürde zu fordern – wobei das ZDF Letztere tatsächlich nach dem Unglück tadellos respektiert hatte.
Allerdings sollte man das von einem Sender, der allenfalls mittelbar in Abhängigkeit von der Quote arbeitet, auch erwarten können. Schließlich zahlen wir alle dafür Rundfunkgebühren – auch wenn sie nach ihrer Reform wohl zukünftig Beiträge heißen und pro Haushalt anfallen anstatt pro Gerät.
Lesen Sie in Teil 2 unseres Jahresrückblicks unter anderem, warum die WM auch juristisch viel Interessantes zu bieten hatte, wie die Winterreifenpflicht zum neuen deutschen Winter passt und wie die Gerichte in 2010 zwar nicht um, aber mit Leben und Tod zu kämpfen hatten.
Jahresrückblick 2010 - Teil 1: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2188 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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