In Lagern in Nordsyrien sitzen Frauen aus Europa mit ihren Kindern fest. Sie waren einst freiwillig nach Syrien ausgereist, um sich der IS-Terrormiliz anzuschließen. Jetzt wollen sie zurück – auch nach Deutschland. Einfach ist das nicht.
Ihre Briefe an den französischen Präsidenten blieben erfolglos, genauso wie ihre Anstrengungen vor den nationalen Gerichten. Zwei Großelternpaare aus Frankreich zogen deshalb bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sie wollen erreichen, dass die französische Regierung ihre Töchter und Enkelkinder zurückholt aus kurdischen Lagern in Nordsyrien. Dort sitzen die Frauen, die sich zuvor dem sogenannten Islamischen Staat (IS) angeschlossen hatten, seit 2019 mit ihren kleinen Kindern fest.
Doch Frankreich sieht sich nicht in der Pflicht. Nun wurde in Straßburg direkt vor der Großen Kammer mündlich verhandelt. Das geschieht nur selten – etwa dann, wenn es um grundsätzliche Fragen geht. Die Beschwerden aus den Jahren 2019 und 2020 (Beschwerdenummer 24384/19 u. 44234/20) werden außerdem mit Priorität behandelt.
Die Verhandlung Ende September war auch deshalb eine besondere, weil das Gerichtsgebäude seit Beginn der Pandemie quasi für die Öffentlichkeit geschlossen war. Einige Verhandlungen haben nur per Videokonferenz stattgefunden. Es ist einer der ersten Termine, der wieder in Präsenz vor Ort stattfindet – der erste dem eine solche Aufmerksamkeit zukommt. Der Saal in Straßburg ist voll mit internationalen Medienvertreterinnen und Besuchern.
Menschenrechts-Kommissarin: Rückholung "der einzig gangbare Weg"
Das internationale Interesse ist groß, weil die verhandelten Fragen nicht nur Frankreich umtreiben, sondern einige europäische Länder. "Sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, sich um die Situation ihrer in den Camps gefangenen Staatsangehörigen zu kümmern? Und wenn ja, was müssen sie tun?", fragte die unabhängige Menschenrechts-Kommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, die dem Verfahren beigetreten ist. Die Antwort auf die erste Frage könne aus ihrer Sicht nur "ja" sein. Und "der einzige gangbare Weg" dabei sei die Rückholung.
Sie wies das Argument zurück, die Frauen hätten bekommen, was sie verdient haben, und ihre Situation sei lediglich eine Folge ihrer eigenen Entscheidungen. Das könne keine akzeptierte Antwort auf Menschenrechtsverstöße sein, so Mijatovic. Abgesehen davon, dass die Kinder nicht unter den Entscheidungen ihrer Mütter leiden dürften.
Die Beschwerdeführer argumentieren, dass die Weigerung der französischen Regierung, ihre Töchter und Enkelkinder zurückzuholen, diese einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aussetze – ein Verstoß gegen Artikel 3 der Menschenrechtskonvention (EMRK). In einem Zusatzprotokoll zur EMRK ist außerdem geregelt, dass niemand daran gehindert werden darf, in das Hoheitsgebiet seines Heimatlandes einzureisen (Artikel 3 Absatz 2 Zusatzprotokoll Nr. 4). Auch hierauf sind die Beschwerden gestützt.
Frankreich: Beschwerden unzulässig
Die französische Regierung sieht das völlig anders. Frankreich habe keinerlei "effektive Kontrolle" in dem Gebiet, keine diplomatische Vertretung, kein Konsulat. Die Konvention sei mithin gar nicht anwendbar – alles andere würde die Reichweite der EMRK zu weit ausdehnen. Die Beschwerden seien deshalb unzulässig.
Außerdem sei Frankreich das europäische Land, das die meisten Kinder aus dem Nordosten Syriens zurückgeholt habe, sagte der Vertreter der französischen Regierung François Alabrune. "Diese Rückhol-Aktionen sind sehr komplex und gefährlich." Über den Aufenthaltsort der Tochter des einen Elternpaars hätte die Regierung außerdem keine Informationen, genauso wenig wie über ihren tatsächlichen Willen nach Frankreich zurückzukommen.
Kläger-Anwältin: Situation in Lagern "dramatisch"
Die Verfahren wurden anonymisiert, die Namen tauchen weder im Verfahren noch in den Dokumenten auf. Die Großeltern möchten unbekannt bleiben. Trotzdem sind sie zu der Verhandlung erschienen. Und reden dann doch mit den Medien. Sie erzählen, wie schlecht es ihren Töchtern und Enkelkindern gehe.
Beide Familien waren zunächst im von den Kurden kontrollierten Camp Al Hol im Nordosten Syriens. Während die eine Mutter mit ihren Kindern zwischenzeitlich in das kleinere kurdische Lager Al Rodsch verlegt wurde, ist der Aufenthalt der anderen unklar. Ihrer Anwältin, Marie Dosé, zufolge ist der Kontakt im vergangenen Sommer abgebrochen.
Die Situation der Frauen und Kinder in den Lagern im Norden Syriens sei "dramatisch", sagte Dosé. Auch die NGO Ärzte ohne Grenzen bezeichnet die humanitäre Situation in dem "überfüllten Lager" Al Hol als "kritisch". Nach Angaben von lokalen Behörden sollen dort um die 73.000 Menschen leben, 94 Prozent davon seien Frauen und Kinder.
Die Anwältin argumentierte auch damit, dass Frankreich bereits Kinder zurückgeholt habe. Das zeige, dass es der Regierung durchaus möglich sei, Rückhol-Aktionen durchzuführen. "Frankreich hat die materiellen, personellen und logistischen Möglichkeiten für eine solche Rückholung", sagt ihr Kollege Laurent Pettiti.
Urteil wird auch Auswirkungen in Deutschland haben
Das Urteil wird Auswirkungen haben – nicht nur für Frankreich und seine Staatsangehörigen. Sieben Mitgliedstaaten haben sich dem Verfahren angeschlossen und selbst zwei Vertreter nach Straßburg geschickt, die mündlich Stellung nahmen. Das passiert nicht oft. Sie argumentierten wie Frankreich.
Deutschland hat sich zwar nicht angeschlossen. Aber auch hierzulande wird die Entscheidung nicht ohne Folgen bleiben. Denn auch in Deutschland wird darüber gestritten, inwieweit die Bundesregierung zur Rückholung ihrer Staatsangehörigen verpflichtet ist. Das Bundesinnenministerium geht davon aus, dass sich aktuell (Stand: Ende September 2021) 98 Personen, "mit Bezügen nach Deutschland" in Nordsyrien in Gefangenschaft oder in Gewahrsam befinden, die "eine Zugehörigkeit oder einen Bezug zum sogenannten IS oder einer anderen terroristischen Organisation" aufweisen. 67 davon seien Deutsche.
Zurückgeholt worden sind nach Angaben des Auswärtigen Amts bisher 12 Frauen und 42 Kinder, die jüngste Gruppe erreichte Deutschland in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag. Bei allen Rückhol-Aktionen habe es sich um Fälle gehandelt, in denen die Ausreise "besonders dringend erforderlich" gewesen sei – vor allem um Waisen und Kinder mit Erkrankungen. Wie Frankreich betont dabei auch das deutsche Ministerium den "hohen logistischen Aufwand" der Rückhol-Operationen.
Deutsche Gerichtsentscheidungen
Teilweise hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Berlin-Brandenburg die Bundesregierung in Eilentscheidungen zu einer Rückholung verpflichtet. Etwa in einem Fall, in dem die Rückholung der Kinder aus dem Camp Al Hol bereits in die Wege geleitet worden war, die Bundesregierung sich aber weigerte, auch die Mutter zurückzuholen – mit Verweis auf Sicherheitsbelange. Eine Rückholung der damals acht, sieben und zwei Jahre alten Kinder könne nur gemeinsam mit ihrer Mutter erfolgen, weil die traumatisierten Kinder zwingend auf den Schutz und die Betreuung ihrer Mutter angewiesen seien, so das OVG. Der Schutz des familiären Verbundes aus Artikel 6 Grundgesetz (GG) habe Vorrang. (Beschl. v. 06.11.2019, Az. OVG 10 S 43.19)
Anders bewertete das OVG die Lage mit Blick auf das kleinere Lager Al Rodsch, in dem sich etwa 1.800 Menschen aufhalten sollen. Dort herrsche keine Bedrohung für Leib und Leben. Die Zustände seien "überwiegend geordnet". Hilfsorganisationen könnten den Menschen im Camp gezielt helfen (Beschl. v. 10.6.2020, Az. OVG 10 S 64.19). An dieser Einschätzung hielt das Gericht auch nach Ausbruch der Pandemie fest (zuletzt Beschl. v. 09.02.2021, Az. OVG 10 S 9/20).
Ein Anspruch auf Rückholung kann auf grundrechtliche Schutzpflichten aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG gestützt werden. Der deutsche Staat ist auch im Ausland an die Grundrechte gebunden. Er hat allerdings ein weites Ermessen bei der Entscheidung, welche Schutzmaßnahmen er für "zweckdienlich und geboten" hält. Die Frage ist, inwieweit das Ermessen auf Null reduziert ist, die Schutzpflicht also nur durch eine Rückholung erfüllt werden kann – etwa wegen einer prekären und "höchst unsicheren und bedrohlichen Lage" in dem Camp.
Und wenn es um gestrandete Touristen gehen würde?
Zum Ende der Verhandlung beim EGMR wischte Richter Daran Pavli juristische Überlegungen zur Reichweite der Menschenrechtskonvention beiseite und machte einen Vergleich auf: Wie wäre es, wenn eine Gruppe französischer Touristen nach einem teilweise selbstverschuldeten Unglück auf einer abgelegenen Insel eines anderen Staates gestrandet und dort Todesgefahren ausgesetzt seien?
"Würden Sie auch unter diesen Umständen vertreten, dass Sie nicht dazu verpflichtet sind, sich zu bemühen und zu versuchen, sie zurückzubringen", fragte Pavli die französische Regierung. "Oder gibt es Situationen, die mehr Mitgefühl einfordern als andere?"
Die französische Regierung wand sich um die Beantwortung der Frage. Wie der Gerichtshof sie anhand der Menschenrechtskonvention schließlich beurteilen wird, will er in einigen Monaten verkünden.
Europas IS-Anhänger: . In: Legal Tribune Online, 07.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46238 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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