Russland hält der Ukraine vor, mit ihrer Klage den IGH durch "falsche Anschuldigungen zu missbrauchen". Die Ukraine hält nun dagegen: Russland nutze einen erfundenen Völkermord als Rechtfertigung für den Angriffskrieg.
"Die internationale Staatengemeinschaft hat die Völkermordkonvention verabschiedet, um zu beschützen. Russland benutzt sie, um zu zerstören." Klarer als der ukrainische Vertreter am Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, Anton Korynevych, kann man wohl nicht werden. In der Tat rechtfertigt Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine unter anderem mit dem Schutz der russischen Minderheit in Donezk und Luhansk vor einem angeblichen Völkermord. Gegen diese Behauptung geht die Ukraine derzeit vor dem IGH vor. Sie möchte vor allem die Feststellung erreichen, dass sie keinen Völkermord begeht und Russland die militärische Gewalt auf ukrainischem Territorium nicht auf eine Verletzung der Völkermordkonvention stützen kann.
Russland hält die Klage für unzulässig und hat gegen die Zuständigkeit des Gerichtshofs sowie die Zulässigkeit der Klage sogenannte vorgängige prozessuale Einreden (preliminary objections) erhoben. Zunächst wird der Gerichtshof nur über diese Einreden entscheiden. Da sich weder Russland noch die Ukraine grundsätzlich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen haben, könnte dieser hier nur über Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 IGH-Statut in Verbindung mit der kompromissarischen Klausel des Art. IX der Völkermordkonvention zuständig sein. Diese legt den IGH als zuständiges Gericht für Streitigkeiten "hinsichtlich der Auslegung, Anwendung und Durchführung dieser Konvention" zwischen Vertragsstaaten – sowohl Russland als auch die Ukraine zählen dazu – fest. Am Montag konnte zunächst Russland seine Position darlegen. Es hält den IGH für unzuständig und die Rechtsposition der Ukraine für "hoffnungslos fehlerhaft".
Am Dienstag war die Ukraine an der Reihe. Wie schon bei der Anhörung im Eilverfahren im vergangenen Jahr fand deren Vertreter am IGH emotionale Worte zur Einleitung des ukrainischen Vortrags. Russland leugne die Existenz des ukrainischen Volkes und wolle es von der Landkarte entfernen. Es führe "einen Eroberungskrieg, einen Krieg der Gräueltaten, des Terrors und der Kriegsverbechen", so Korynevych. Die Ukraine fordere den IGH auf, Russlands "Missbrauch des Völkerrechts" zurückzuweisen.
Ukraine: Russland missbraucht Völkermordkonvention
Entgegen der russischen Auffassung sei Art. IX der Völkermordkonvention weit auszulegen, so die Position der Ukraine. Russland habe die Konvention missbraucht, indem sie einen angeblichen Völkermord als Vorwand für die Invasion in die Ukraine benutzt hat. Die Klausel in Art. IX schließe auch Streitigkeiten darüber ein, wie Staaten ihre Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention durchführen – und "Durchführung" im Sinne der Konvention habe einen deutlich größeren Anwendungsbereich als die ebenfalls in Art. IX erwähnte Anwendung. Die Vorschrift sei deshalb auch einschlägig, wenn Staaten – wie Russland in diesem Fall – die Konvention falsch anwenden.
Zwischen Russland und der Ukraine besteht damit eine Meinungsverschiedenheit, ob die Zuständigkeit des IGH auf Art. IX der Völkermordkonvention gestützt werden kann. Als Hauptargument gegen die Zuständigkeit des IGH hatte Russland angeführt, die Ukraine habe keine konkrete Verpflichtung aus der Völkermordkonvention genannt, gegen die Russland verstoßen habe. Das sei für die Anwendung des Art. IX aber erforderlich. In diesem Zusammenhang verweist die Ukraine auf die Entscheidung des IGH zu den Einreden im Fall Gambia gegen Myanmar (IGH v. 22.07.2023, Case No. 178). In dem ähnlich gelagerten Fall hatte der IGH ausgeführt, im Rahmen von Art. IX sei keine ausdrückliche Bezugnahme auf einen bestimmten Vertrag erforderlich.
"Russlands Missbrauch des Verfahrens ist die Invasion der Ukraine"
Vielmehr sei es ausreichend, so der IGH in Fall Gambia gegen Myanmar, dass sich der Austausch zwischen den Parteien "mit hinreichender Klarheit auf den Vertragsgegenstand bezieht". Um zu zeigen, dass es nun im Fall Ukraine gegen Russland gleichgelagert sei, bezieht sich die Ukraine auf verschiedene Äußerungen russischer Staatenvertreter, in denen diese von einem Völkermord im Donbass sprechen. Für den Standpunkt der Ukraine spricht: Schon in seiner Eilentscheidung aus dem März 2022 hatte der IGH seine sogenannte Prima-Facie-Zuständigkeit, das heißt die Zuständigkeit auf den ersten Blick, die in diesem Stadium ausreicht, bejaht – und dabei ebenfalls auf Stellungnahmen von russischer Seite abgestellt.
Die Ukraine argumentiert aber noch weiter. Es gebe ungeschriebene Grenzen, wie Staaten die Verpflichtung zur Verhütung von Völkermord ausüben dürfen. Staaten dürften dementsprechend keine Handlungen vornehmen, die den Zielen und Zwecken des Übereinkommens zuwiderlaufen. Wenn Staaten fälschlicherweise behaupten, einem Völkermord ausgesetzt zu sein, um damit militärische Gewalt gegen einen anderen Staat zu rechtfertigen, verstoße das klar gegen ihre Pflichten aus der Völkermordkonvention.
Russland hatte der Ukraine auch vorgeworfen, den Gerichtshof mit falschen Anschuldigungen zu missbrauchen. Die Ukraine habe sich an den Gerichtshof gewendet, weil sie einer existenziellen Bedrohung durch Russland ausgesetzt sei, so David M. Zionts von der Kanzlei Covington & Burling, einer der Anwälte der Ukraine. "Und Russlands Missbrauch des Verfahrens ist eine Invasion der Ukraine", so Zionts.
Wie es weitergeht
Im März 2022 hatte der IGH unter anderem angeordnet, dass Russland sofort die militärischen Operationen auf ukrainischem Territorium einstellen muss. Daran hat Russland sich nicht gehalten, obwohl solche Anordnungen nach Art. 41 des IGH-Statuts rechtlich bindend für die Parteien sind. Russland hat die Angriffe auf die Ukraine inzwischen sogar noch verstärkt. Der Gerichtshof müsse Russland entsprechend zur Verantwortung ziehen, so Anwalt Jonathan Gimblett, ebenfalls von Covington & Burling, für die Ukraine.
Wie immer auch der IGH entscheiden mag: Selbst durchsetzen kann er seine Entscheidungen nicht, wenn die unterlegene Partei sie nicht befolgt. Er kann allerdings den UN-Sicherheitsrat anrufen. Dort besitzt Russland jedoch ein Vetorecht.
Bis es überhaupt zu einer Entscheidung in dieser Sache kommt, kann es aber ohnehin noch dauern. Die Bedeutung des Verfahrens zeigt sich auch dadurch, dass 32 Staaten – so viele wie noch nie zuvor, darunter auch Deutschland – sogenannte Interventionserklärungen abgegeben haben. Als Vertragsstaaten der Völkermordkonvention sind sie von der Auslegung des Vertrages durch den IGH ebenfalls betroffen. Am Mittwoch haben sie die Gelegenheit, eine Stellungnahme abzugeben. In der zweiten Anhörungsrunde am 25. und 27. September erhalten dann nur noch Russland und die Ukraine das Wort.
IGH verhandelt zur Auslegung der Völkermordkonvention: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52738 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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