Dem Volk aufs Maul geschaut, macht gutes Strafrecht? Die allzu milde Justiz verkennt die Zeichen der Zeit? Beide Fragen wurden jüngst öffentlichkeitswirksam für das Sexualstrafrecht bejaht. Ralf Kölbel haben die Argumente nicht überzeugt.
Strafen für sexuelle Übergriffe seien in Deutschland zu lasch. Blieben die Gerichte dabei, werde ihre gesellschaftliche Anerkennung fragil. Mit dieser Position trat die Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven (teils in Ko-Autorenschaft mit Frauke Rostalski) um den Jahreswechsel in diversen Medien hervor. Damit hatte sie schon wegen der gewählten Kanäle (Interviews in SAT-1 und Der Spiegel) aufmerken lassen: Mit welcher Absicht, fragte man sich, wird eine dezidiert an die Justiz gerichtete Botschaft ganz gezielt in den öffentlichen und nicht (zuerst) in den fachlichen Diskurs eingespeist?
Doch auch inhaltlich haben die Beiträge irritiert, sowohl die vorgebrachten Gründe für die härtere Gangart wie die Kennzeichnung der bisherigen sexualstrafrechtlichen Situation. Hoven hatte sich dafür auf eine zunächst noch unveröffentlichte Untersuchung zum justiziellen Strafzumessungsverhalten gestützt. Diese Arbeit wurde von ihr nunmehr (mit Philipp Ehlen und Thomas Weigend) in der Kriminalpoltischen Zeitschrift (Heft 1/2024) vorgestellt. Ausgeräumt sind die Einwände damit allerdings nicht.
Verkürzter Gebrauch von Strafzumessungsdaten
Auf sexuelle Übergriffe, so die Gruppe um Hoven, werde meist mit Freiheitsstrafen aus dem unteren Strafrahmenbereich reagiert. Dies bilde ein persistentes Sanktionsmuster, das bei anderen (strafrahmengleichen) Delikten ebenfalls wirksam sei. Denn für 2021 weise die Kriminalstatistik bei diversen Varianten von § 177 Strafgesetzbuch (StGB), der den sexuellen Übergriff, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung regelt, ganz überwiegend Strafdauern aus dem jeweils unteren Strafrahmendrittel aus. Zudem dokumentiere sie für die Begehungsformen nach § 177 Abs. 5 StGB fast dieselbe Verteilung der Strafen wie bei Raub und § 29a Abs. 1 Nr. 2 Betäubungsmittelgesetz.
Zwar ist diese Auswertung korrekt. Indem sie sich allerdings auf ein einziges Jahr und zwei Vergleichsnormen beschränkt, ist sie zugleich aber auch äußerst verkürzt.
Betrachtet man einen Mehrjahreszeitraum und alle strafrahmengleichen Delikte, ergibt dies nämlich ein differenzierteres Bild: Während das Strafniveau bei der sexuellen Nötigung dem ähnelt, was bei vielen Tatbeständen mit derselben Strafbewehrung üblich ist, liegt es bei der Vergewaltigung in der Tendenz etwas darüber. Gemessen an den 1990er und 2000er Jahren bleibt die Praxis bei sexuellen Übergriffen auch keineswegs gleich. Vielmehr findet sich eine Verschiebung von sehr kurzen zu mittellangen Freiheitsstrafen, wobei dieser Trend bei § 177 Abs. 5 StGB etwas deutlicher ist.
__
Die wichtigsten Rechtsdebatten des Landes – verständlich und kontrovers aufbereitet – im neuen LTO-Podcast "Die Rechtslage"
__
Sanktionsrealität ist von hoher Komplexität
Natürlich sind solche Zahlen einordnungsbedürftig. Die Verlaufsdaten können durch zwischenzeitliche Prozesse beeinflusst sein, etwa durch tatbestandliche Modifizierungen, Rückgänge im Fallaufkommen sowie durch Veränderungen beim Anzeige- und staatsanwaltlichen Selektionsverhalten. Auch der Vergleich der Sanktionspraxis in verschiedenen deliktischen Feldern ist höchst komplex, wird er doch durch mögliche Unterschiede bei den strafzumessungsrelevanten Merkmalen der jeweiligen Verurteiltengruppen erschwert.
So fallen bei den Sexualstraftätern eine moderate Rückfälligkeit, eine oft eher geringe Vorerfassungsrate und (neben einer hoch belasteten Teilpopulation) eine erhebliche, sozial unauffällige Teilgruppe auf. Inwiefern womöglich solche Bedingungen die Sanktionspraxis (vor dem Hintergrund von § 46 Abs. 1 S. 2 StGB) normkonform prägen, wird von Hoven et al. gar nicht bedacht. Stattdessen fassen sie sogar den Umstand, dass bewährungsfähige Strafen bei Sexualdelikten meist zur Bewährung ausgesetzt werden, nicht als programmgemäß-spezialpräventive Entscheidung (§ 56 StGB), sondern als Ausdruck von Nachsichtigkeit auf.
Alles in allem verkörpert die Sexualstrafverfolgung gewiss keine justizpraktische Insel, auf der das Reaktionsmuster deutlich "nach oben" ausschert. Dafür wirkt die Sanktionslage zu heterogen. Eine adäquate Einordnung ist durch das knappe kriminalstatistische Schlaglicht der Gruppe um Hoven aber jedenfalls schwerlich erfolgt. Ihre Zusatzerhebungen – Gruppendiskussionen und eine Aktenanalyse – vermindern dieses Defizit im Übrigen kaum.
Erfindung deliktsspezifischer Strafzumessungsverfahren
Die darin erzielten Befunde (regionale Strafzumessungsunterschiede; Nutzung von Straftaxen und Ankerpunkten) sind für die weitere Argumentation ohnehin sekundär. Denn Hoven et al. geht es ausschließlich darum, eine Anhebung des sexualstrafrechtlichen Sanktionsniveaus einzufordern – was durch ein deliktsspezifisches Strafzumessungsverfahren methodisch sicherzustellen sei:
So müssen sich die Gerichte nach den Vorgaben des BGH meist in den unteren Strafrahmenbereichen bewegen. Denn dies korrespondiere mit den empirisch auftretenden Fällen und deren gewöhnlich moderatem Gewicht. Durch die Option höherer Strafen werde lediglich für seltene schwere Fallgestaltungen eine angemessene Reaktion möglich gemacht. Speziell bei sexueller Nötigung und Vergewaltigung liege die Sache nach Hoven et al. dagegen ganz anders.
In diesem Bereich stellten nämlich Konstellationen mit hoher Ereignisschwere den statistischen Normalfall vor Gericht dar. Angesichts dieses "typischen Unrechtsgewichts" sehe § 177 StGB daher üblicherweise den mittleren Strafrahmenbereich für die Rechtsfolgenentscheidung vor (also den Bereich um acht- bzw. achteinhalbjährige Freiheitsstrafen). Mildere Strafen kämen allein in wenigen Ausnahmefällen mit "atypisch geringem Unrechtsgehalt" in Betracht.
Der Rechtsfolgenseite der Norm ist, wie von der Gruppe um Hoven eingeräumt wird, eine solche sexualdeliktische Spezifik allerdings nicht anzusehen. Diese bereichsbezogene Besonderheit der Strafzumessungslogik wird von ihr ersatzgesetzgeberisch etabliert. Dafür verweist sie auf die "Ereignisschwere", die im realen Normalfall des abgeurteilten sexuellen Übergriffs durchweg größer als bei anderen Delikten, auch solchen mit identischer Strafandrohung sei.
Herstellung deliktsbezogener Normalfall-Konzepte
Diese Behauptung enthält sowohl eine empirische wie auch eine normative Komponente. Denn sie geht davon aus, dass das gerichtliche Aufkommen sexueller Übergriffe faktisch durch eine Mehrheit an Fällen mit solchen Merkmalen dominiert wird, durch die sie allesamt als besonders schwerwiegend zu bewerten sind.
Nach Hoven und ihren Mitstreitern liege dieses Merkmal in den "langfristigen und nachhaltigen Tatfolgen". Diese träten bei § 177 Abs. 5 und 6 StGB typischerweise auf ("in aller Regel"). Indes: Belege dafür – also dafür, dass diese (unbestritten häufigen) Konstellationen im abgeurteilten Fallaufkommen im Sinne der statistischen Normalität vorherrschend sind – liefern sie nicht. Mehr noch, sie gehen über all die eher gegenläufigen Befunde hinweg, von denen eine erhebliche Diversität der unrechtsrelevanten Entstehung- und Tatverlaufsprozesse bei den sexualstrafrechtlich verfolgten Ereignissen aufgezeigt wird.
Dass es den statistischen Normalfall sexueller Übergriffe mit einem kennzeichnenden Unrechtsgewicht tatsächlich gibt, bleibt also fraglich. Doch selbst wenn es ihn gäbe, stellt sich die Frage, weshalb seine "Schwere" dann normativ wertend deutlich größer als bei den empirischen Regelfällen der anderen, auch strafrahmengleichen Tatbestände sein soll.
"Straferwartung" der Bevölkerung maßgeblich?
Denn anhand welcher Kriterien will man entscheiden, ob die "empirisch normale" Vergewaltigung unrechtsgewichtiger als etwa die "empirisch normale" besonders schwere Brandstiftung ist? Die Strafdrohung, die man als Ausdruck der gesetzgeberischen Bewertung für solche Fragen landläufig bemüht, scheidet als Maßstab jedenfalls aus – da sie für Hoven et al. ja erklärtermaßen bedeutungslos (und im genannten Beispiel ohnehin dieselbe) ist.
Doch wie sonst lässt sich begründen, dass das fallmehrheitliche Unrechtsgewicht bei sexuellen Übergriffen mehr als bei der Fallmajorität der anderen (Vergleichs-)Delikte wiegt? Hier auf eine individuelle Intuition zu verweisen, überzeugt kaum. In ihren medialen Beiträgen bringt Hoven insofern die "gesellschaftliche Intuition", also die "Straferwartung" der Gesellschaft, ins Spiel. Weil die Bevölkerung in den Sexualdelikten heute ein besonders gewichtiges Unrecht sehe, müssten auch die Gerichte entsprechend urteilen.
Aber weshalb? Dass die öffentliche Strafmentalität für die Begründung des Strafrechts überhaupt relevant ist und sich in die Maßgaben des § 46 StGB integrieren lässt, hat die Wissenschaftsdebatte mitnichten geklärt. Offen bleibt auch, ob "das" Strafbedürfnis der Menschen überhaupt festgestellt und berücksichtigt werden könnte. Denn der kriminologischen Forschung zufolge hängt hier vieles an der Operationalisierung und den Erhebungsverfahren, so dass der jeweilige Befund nicht nur mit Zeitpunkt, Fallkonstellation und Personenkreis variiert, sondern auch mit der eingesetzten Methodik.
Der "Volkswille" taugt einfach nicht dazu, das Konstrukt eines unterschiedslos angehobenen Tatgewichtes sexueller Delinquenz zu substantiieren. Sollte auf Basis eines solchen Treibsands wirklich eine "neue" Härte in die Strafpraxis einziehen? Hoffentlich nicht.
Prof. Dr. jur. Ralf Kölbel ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie an Ludwig-Maximilians-Universität München.
Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines gemeinsam mit Benedikt Linder verfassten wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen, der in der Zeitschrift "StV – Strafverteidiger", Heft 5, 2024, erscheinen wird. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.
Punitiver Populismus in der Strafrechtswissenschaft: . In: Legal Tribune Online, 29.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54212 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag