Bei den Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag demonstrierte das BVerfG Selbstbewusstsein. Die Karlsruher Richter wollen sich ihre von der Kanzlerin hervorgehobene "gelebte Unabhängigkeit" erhalten, notfalls auch weiterhin die Politik korrigieren und "alle wesentlichen Gesellschaftsfragen" klären. In den letzten Jahren war das ja auch schon so, konstatierte Präsident Voßkuhle.
Zum 60-jährigen Bestehen ließ das höchste deutsche Gericht sich nicht lumpen. Die Gästeliste zum Jubiläum des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vereinte alle obersten Repräsentanten der Bundesrepublik in Karlsruhe. Auch die Begrüßungsworte des Vizepräsidenten Ferdinand Kirchhof und des Präsidenten Andreas Voßkuhle stellten klar, dass Karlsruhe weiterhin nicht beabsichtigt, sich zurückzuhalten. "Wir entscheiden nicht aufgrund eigener Initiative, sondern aufgrund der uns von anderen zugewiesenen Aufgaben", meinte Kirchhof und betonte, das Gericht "zeige im Alter Frische - was zeigt, dass wir für die Zukunft gut gerüstet sind."
Der Vizepräsident hob hervor, dass das Gericht "beim Bürger und im Staat angekommen sei", wenn es auch die Medien benötige, denn "wir können Entscheidungen nur verkünden, die Medien müssen sie verbreiten". Auch die Rede von Präsident Voßkuhle war durchaus getragen davon, dass man sich der eigenen Rolle sehr bewusst sei. So seien in den vergangenen zehn Jahren in 340 Senatsentscheidungen alle wesentlichen Gesellschaftsfragen von dem Gericht geklärt worden.
Bundespräsident Christian Wulff unterstrich in seiner Ansprache die "Strahlkraft" des BVerfG, das, ohne ein Vorbild zu haben, zum Vorbild geworden sei. Besonders hob er die Rolle der Institution als "Grundrechtsgericht" hervor, das immer wieder mit viel Fantasie die Grundrechte, wie etwa das auf informationelle Selbstbestimmung, entwickelt habe. "Die Politik musste öfter von Karlsruhe aus zum Jagen getragen werden", meinte der gelernte Jurist.
Nach Lob für das Gericht folgt Kritik an der Politik
Wulff kritisierte damit indirekt die Politik, die immer öfter versuche, Regelungen außerhalb der Gesetze zu schaffen und damit zu regieren. "Das Gesetz ist die Handlungsform", unterstrich er. Daher müsse alles, was wesentlich sei, auch im Gesetz und unter Beteiligung des Parlaments geregelt werden. Die Geschwindigkeit dürfe bei solchen Prozessen nicht die Oberhand gewinnen. Zudem sei es sehr bedenklich, wenn die Politik die vom BVerfG für gesetzliche Neuregelungen geschaffenen Fristen bis zum Letzten ausreize. Dies muss nach Ansicht des Bundespräsidenten auch früher möglich sein.
Bedenken äußerteWulff auch insofern, als die Gesetzgebung in den Ministerien immer öfter ausgelagert werde. Er sehe hier eigentlich wenig Spielraum für eine "Beratungsdienstleistung durch Private". Wulffs Worte zielten auf die Entwicklung, dass zunehmend Rechtsanwälte von Ministerien mit der Formulierung von Gesetzen beauftragt werden. Dies müsse eigentlich die Exekutive leisten können. Er sehe, so Wulff abschließend, das Gericht heute als "Schlussstein in der Kuppel unserer Demokratie", der das Gebäude zusammenhalte.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte, dass das oberste Verfassungsgericht ein "verlässliches Rückgrat" der Demokratie sei, das dem Gesetzgeber wie bei der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz 2006 auch einmal "absolute Grenzen" setze. Auch wenn es der Politik nicht immer gefalle, zeigten die 16 Karlsruher Richter "gelebte Unabhängigkeit", so Merkel.
Einen Appell an die Politiker richtete auch der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Wilfried Kretschmann. Es sei etwa beim Länderfinanzausgleich niemandem geholfen, wenn alle zehn Jahre das Verfassungsgericht angerufen werde. Hier müssten die Politiker selbst nach einer Lösung suchen und Klarheit im föderalen Gefüge schaffen.
Mit Weitsicht an die Aufgaben der Zukunft
Gerichtspräsident Voßkuhle zog eine Bilanz der vergangenen Dekade. Er betonte wie bereits öfter in den vergangenen Monaten, dass eine Entlastung des Gerichts von mutwilligen Klagen erfolgen müsse. Seine Idee der Missbrauchsgebühr kam allerdings beim Bürger nicht besonders gut an.
Besonders deutlich wurde das bei der Vorstellung des Projekts "100 Prozent Karlsruhe". Dabei sagten 100 repräsentative Karlsruher Bürger vom Kind mit Hund bis zur Witwespielerisch ihre Meinung zu vielen gesellschaftlichen und rechtlichen Fragen. Eine Zugangsbeschränkung zum Verfassungsgericht aber traf hundert auf deutliche Ablehnung. Das Ergebnis allerdingst lässt sich, wie auch von Voßkuhle zu Recht betont, aber auch so deuten, dass das Gericht eine vom Bürger anerkannte Schutzfunktion hat.
Der Präsident des BVerfG nannte schließlich fünf Herausforderungen für die Zukunft: Die Europäisierung müsse von einem Miteinander der europäischen und der nationalen Verfassungsgerichte begleitet werden. Es gebe kein ewiges Wachstum. Die Vorschriften, die entwickelt worden seien, um den Bürger vor dem Staat zu schützen, müssten auch auf Private übertragen werden, wenn diese weltweit agierten.
Insgesamt erlebten die rund 1.000 Gäste einen kurzweiligen und heiteren Festakt. Insbesondere die sehenswerte Aktion der 100 Bürger verdeutlichte, wie sehr bei Rechtsfragen die Entscheidungen des Gerichts in der Bevölkerung verankert sind. Wie es beim nächsten Festakt in 15 Jahren bei 75 Jahren BVerfG aussehen wird, diesen Ausblick wagte heute kaum einer in Karlsruhe.
Martin W. Huff ist Rechtsanwalt und Journalist in Leverkusen.
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Martin W. Huff, Festakt im BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4422 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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